Luzerner hilft Angehörigen in der Stunde der Not

Wenn er gerufen wird, ist jemand gestorben

Seit beinahe 15 Jahren ist Christoph Beeler Notfallseelsorger.

(Bild: giw)

Er steht Menschen in ihren schwierigsten Stunden bei: Christoph Beeler unterstützt Angehörige nach Suiziden, Unfällen oder gewaltsamen Todesfällen mit psychologischer Ersthilfe. Das jahrelange Engagement hat seine Perspektive auf Leben und Tod grundlegend verändert.

Christoph Beeler, Co-Leiter der Notfallseelsorge/Care Team Kanton Luzern, war 20 Jahre alt, als er mit ansehen musste, wie eine Velofahrerin von einem Auto erfasst wurde. «Ich hätte Erste Hilfe leisten müssen, aber da war nichts mehr zu retten.» In diesem Moment hätte ihm professioneller Beistand geholfen, das Erlebte zu verarbeiten. «Die Bilder dieses Tages bleiben.» Seit 2014 leitet Beeler zusammen mit Thomas Seitz die Einsätze des 34-köpfigen Care Teams. Waren es zu Beginn rund 94 Einsatzstunden, leistete das Luzerner Care Team letztes Jahr bereits 730 (zentralplus berichtete). Beeler spricht mit zentralplus über die schwierige Arbeit der sogenannten Caregivers.

zentralplus: Christoph Beeler, was hat Sie dazu gebracht, sich in der Notfallseelsorge zu engagieren?

Christoph Beeler: 2001 gab es eine Umfrage unter den Seelsorgern des Kantons, wer allenfalls bereit wäre beim Aufbau und der Mitarbeit einer Notfallseelsorge für den Kanton Luzern. Ich sagte zu, einerseits weil ich bereits Erfahrung mit ähnlichen Situationen hatte, andererseits da ich mich dieser Herausforderung bewusst stellen wollte. Während meines Studiums an der Hochschule in Chur unterrichtete uns ausserdem ein Professor, der nach der Flugzeugkatastrophe in Hallifax vor Ort war. Dieser Erfahrungsbericht motivierte mich für dieses Engagement. Zu Beginn dachte man vor allem an Einsätze nach Extremsituationen wie dem Flugzeugabsturz in Hallifax mit über 220 Todesopfern oder dem Attentat auf das Zuger Kantonsparlament 2001.

zentralplus: Insgesamt haben die Einsätze gegenüber 2002 deutlich zugenommen, damals leistete man 62 Einsatzstunden, letztes Jahr waren es bereits über 730. Weshalb?

Beeler: Ein Grund liegt darin, dass wir damals – im Gegensatz zu heute – nicht zu zweit den Einsatz leisteten. Ausserdem ist das Care Team bei Rettungskräften und der Polizei bekannt und wird deshalb öfters gerufen.

«Manche Menschen erstarren, andere werden von Gefühlen überwältigt und wieder andere haben auf einmal den Drang zur Flucht.»

zentralplus: Wie läuft Ihr Einsatz in der Regel ab?

Beeler: Wir treffen oft sehr verunsicherte Menschen an, denn unter dem Eindruck des Verlusts spielen die bekannten Verhaltensmuster und die eigenen Gedanken plötzlich nicht mehr wie gewohnt. Nach einem Unfall, einem Suizid oder einem aussergewöhnlichen Todesfall werden wir von der Sanität oder der Polizei gerufen. Wir betreuen dann die Angehörigen. Die Reaktionen der Personen sind sehr unterschiedlich: Manche Menschen erstarren, andere werden von Gefühlen überwältigt und wieder andere haben auf einmal den Drang zur Flucht. Aus diesem Grund geht es bei unserem Einsatz zuerst einmal darum, den Angehörigen Halt und Sicherheit zu geben.

Wenn man sich in den Finger schneidet, ist der Schmerz zu Beginn kaum spürbar, ähnlich verhält es sich manchmal mit den Angehörigen nach einem Todesfall. Teilweise helfen wir mit banalen Dingen wie Anbieten von Getränken oder wir übernehmen einen Anruf. In einem zweiten Schritt helfen wir den Betroffenen, das Geschehene in eine sinnvolle Reihenfolge zu bringen: Geborstene Glasscheiben, Schreie, Blut, das spritzte, und ähnliche Eindrücke werden dabei in einer Chronologie zusammengebracht. Das hilft, das Erlebte zu begreifen, also gewissermassen im Nachhinein zu kontrollieren.

 

zentralplus: Sie sind unmittelbar nach einem Vorfall vor Ort. Wie aber gehen Angehörige langfristig mit dem Verlust um?

Beeler: Wir sind in der Regel zwischen zwei bis vier Stunden da und geben ein erstes Sicherheitsnetz, bis Angehörige, Arbeitskollegen, Freunde oder Institutionen übernehmen. Diese können in der Regel auch viel besser auf die Betroffenen eingehen und ihnen beistehen in diesem schwierigen Moment, weil sie sich kennen und ein Vertrauensverhältnis besteht. Grundsätzlich gehen wir davon aus, dass der Mensch grosse selbstheilende Kräfte hat, wie bei einer körperlichen Verletzung klingt auch psychischer Schmerz innerhalb von drei bis vier Wochen ab. Es kann jedoch vorkommen, dass die Eindrücke auch länger intensiv bleiben und die Person im Alltag beeinträchtigen. In diesem Fall spricht man auch von einer posttraumatischen Belastungsstörung, die dann von einem Psychiater oder Psychologen behandelt werden muss.

Notfallseelsorge/Care Team Kanton Luzern
Die Organisation Ökumenische Notfallseelsorge/Care Team Kanton Luzern besteht in dieser Form seit rund fünf Jahren, als sich die beiden Partner zusammenschlossen. Sie wird gemeinsam getragen von den drei Luzerner Landeskirchen und vom Kanton. Zurzeit stehen ihr 34 Personen zur Verfügung, von denen zwei Frauen und vier Männer in der Seelsorge tätig sind, die weiteren in anderen Bereichen, etwa der Pflege, Spitex oder der Notfallpsychologie. Die Leitung von Ökumenische Notfallseelsorge/Care Team Kanton Luzern haben Christoph Beeler-Longobardi, kath. Gemeindeleiter in Ballwil/Eschenbach/Inwil, und Thomas Seitz, hauptberuflich bei der Swisscom tätig.

zentralplus: Gibt es ein Patentrezept in der Trauerarbeit?

Beeler: Die Menschen stehen oft unter Schock, wenn wir sie antreffen. In den ersten Stunden geht es deshalb darum, ihnen Sicherheit zu geben. In diesem Fall schlagen wir eine Brücke hin zu dem Punkt, an dem ihre Welt noch in Ordnung war. Dieser Ort der Sicherheit ist Grundlage, damit die Person eine für sie sinnvolle Geschichte entwickelt für das Geschehene. In einem weiteren Schritt geht es darum, eine sichere Zukunft in den Blick zu bekommen. Darum planen wir mit den Betroffenen die nächsten Schritte, die sie gehen können.

zentralplus: Ihre Einsätze sind heikel, ich denke an den Fall eines Luzerner Lehrers, der sich 2015 im Landenberg Schulhaus selbst anzündete (zentralplus berichtete). Was sollte man als Caregiver nicht machen?

Beeler: Es gibt einige Todsünden, beispielsweise sollen wir keine voreiligen Schlüsse ziehen, auch sollten wir die Personen nicht vertrösten, Schuld zuweisen oder das Geschehene herunterspielen. Denn wir kennen weder die genauen Umstände noch die Biografie der Personen, die wir betreuen.

zentralplus: Sie werden mit heftigen Schicksalen wie Suiziden, schwersten Unfällen mit Todesfolge oder Tötungsdelikten konfrontiert. Können Sie selbst die Distanz wahren zu den Betroffenen?

Beeler: In unserer Ausbildung lernen wir, den Schmerz von unserem Gegenüber wahrzunehmen und darauf einzugehen. Wir nehmen aber die Haltung ein, dass es nicht unser Schicksal und unser Schmerz ist, ansonsten könnten wir den Betroffenen gar nicht richtig helfen.

«Meine Aufgabe ist es, die Person darin zu unterstützen, für das Geschehene eine Erklärung zu finden.»

zentralplus: In Ihrer Arbeit begegnen Sie Menschen in Extremsituationen. Wie reagieren die Menschen auf Sie?

Beeler: In der Regel nehmen die Betroffenen unsere Unterstützung an, denn wir kommen nur nach Bedarf, also wenn uns die Sanitäter oder die Polizei vor Ort ruft. In seltenen Fällen liegt eine Fehleinschätzung vor, dann kann es sein, dass wir unseren Einsatz abbrechen.

zentralplus: Was war für Sie persönlich der schwierigste Fall, den Sie betreut haben?

Beeler: Ich kann mich an einen Einsatz erinnern, als eine Person von ihren Gefühlen regelrecht überflutet wurde. In diesem Moment ist es sehr schwierig, mit der Person in Kontakt zu kommen und sie zu beruhigen. Meine Aufgabe ist es dann, zusammen mit der Person die einzelnen Gefühle wahrzunehmen und einzuordnen. Manchmal helfen auch Atemübungen.

Beeler an seinem Arbeitsort in Ballwil. Hauptberuflich ist Christoph Beeler Gemeindeleiter der Pfarrei Ballwil ad interim und designierter Pastoralraumleiter.

Beeler an seinem Arbeitsort in Ballwil. Hauptberuflich ist Christoph Beeler Gemeindeleiter der Pfarrei Ballwil ad interim und designierter Pastoralraumleiter.

(Bild: giw)

zentralplus: Wie funktioniert das Überbringen einer Todesnachricht?

Beeler: Vom Gesetz her muss es eine Amtsperson sein, welche die Angehörigen informiert, das ist in der Regel ein Polizist. Es kommt vor, dass in ländlichen Gemeinden der Dorfpolizist die Personen kennt, die er über den Tod eines geliebten Menschen informieren muss. Dann werden wir in gewissen Fällen beigezogen. Oder die Menschen sind von der Situation übermannt und die Polizei zieht uns zur Unterstützung herbei.

zentralplus: Wenn Sie auf Pikett sind und es piepst, ist dann jemand tot?

Beeler: Nicht zwingend, aber leider in der Regel schon.

zentralplus: Ist dieser Gedanke während des Pikettdienstes nicht sehr schwierig auszuhalten?

Beeler: Ein Pikettdienst dauert eine Arbeitswoche oder ein Wochenende. Während dieser Zeit gehen nicht alle gleich damit um, einige sind angespannt, wenn sie gerufen werden, andere begrüssen den Moment, da sich dann die innere Anspannung löst.

«Je länger ich diese Arbeit mache, desto mehr bin ich mir der Endlichkeit des Lebens bewusst.»

zentralplus: Zunehmend fehlt vielen Menschen das soziale Netz, welches ihnen hilft, die Trauer und den Verlust zu verarbeiten. Beelendet Sie diese Tatsache?

Beeler: Nicht als Caregiver, aber als Mitglied dieser Gesellschaft gibt mir diese Entwicklung zu denken. In der virtuellen Welt haben die Menschen viele Freunde. Das heisst nicht unbedingt, dass diese Menschen einem in einer Notlage tatsächlich beistehen können. Ich beobachte die Entwicklung von der Grossfamilie hin zu kinderlosen Paaren und bin immer wieder mit Fällen konfrontiert, wo ein Partner völlig unerwartet stirbt und die andere Person plötzlich vollkommen allein dasteht. Man muss sich bewusst sein: Unsere gesellschaftlichen Freiheiten gibt es nicht zum Nulltarif. Letztendlich sind wir alle selbst für unser Leben verantwortlich.

Seit beinahe 15 Jahren ist Christoph Beeler Notfallseelsorger.

Notfallseelsorger Beeler stellt das Merkblatt für trauernde Angehörige vor.

(Bild: giw)

zentralplus: Hat Ihre Arbeit Ihre Perspektive und Ihre Haltung zum Tod verändert?

Beeler: (denkt lange nach) Je länger ich diese Arbeit mache, desto mehr bin ich mir der Endlichkeit des Lebens bewusst. In der Schweiz haben wir ja alles und die Lebenserwartung ist hoch. Zuweilen wird dabei die eigene Sterblichkeit vergessen und verdrängt. Früher hatte man mehr Übung bei einem Todesfall, die Abläufe und Rituale waren bekannt. 

zentralplus: Wie verarbeiten Sie die Eindrücke aus Ihren Einsätzen?

Beeler: In der Regel sind wir zu zweit und nach dem Einsatz besprechen wir dann gemeinsam unsere Eindrücke, bevor wir wieder nach Hause gehen. Ausserdem schreibt jeder einen Rapport. Und dann gibt es auch individuelle Strategien, um schwierige Eindrücke zu verarbeiten, die einen nehmen ein Bad, die anderen gehen joggen. Dreimal pro Jahr treffen sich Mitglieder des Teams zu einer Erfahrungsrunde, wo Einsätze analysiert werden. Ausserdem können wir auch ein Gespräch mit einem Notfallpsychologen in Anspruch nehmen, teilweise ordnen wir diese Gespräche auch an.

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