Wenn das Einkaufen oder das Sprechen plötzlich wieder zum Kraftakt wird
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Erika Spring aus Luzern hat das Asperger-Syndrom. Die 50-Jährige sagt: «Durch den Lockdown ist mein Hirn sehr zur Ruhe gekommen.» Ganz alltägliche Dinge wie Sprechen oder Einkaufen werden in der Coronakrise aber wieder zum Kraftakt.
Vor elf Jahren hat Erika Spring die Diagnose erhalten, die alles verändert hat. Eine Diagnose, die sie auch all die Schicksalsschläge, die sie erlitten hat, anders verstehen lassen.
Sie war 40 Jahre alt, als ihr Arzt bei ihr das Asperger-Syndrom, hochfunktionalen Autismus, diagnostizierte – eine Form der Autismus-Spektrum-Störung (ASS). «In den Jahren zuvor habe ich mich immer zusammengerissen. Ich wollte normal funktionieren, ohne dass die anderen merken, dass mit mir etwas nicht stimmt», sagt Erika Spring. Das habe sie über Jahrzehnte einen hohen Preis an viel physischer und psychischer Kraft und Energie gekostet – denn sie wollte normal funktionieren. Bis ihr Körper nicht mehr konnte.
2002 kam es zum «totalen Zusammenbruch». Experten diagnostizierten zuerst eine schwere Depression.
Die totale Reizüberflutung …
Die Diagnose Asperger-Syndrom habe sie auf eine gewisse Weise erleichtert. «Es war für mich eine Art Befreiung. Weil ich realisierte, dass ich durchlässiger sein kann.»
Menschen mit Autismus haben zumeist Mühe in der Kommunikation. Nach wie vor halte sich die These sehr hartnäckig – laut Erika Spring irrtümlicherweise – dass Autismus-Betroffene sich nicht in Menschen hineinfühlen können. Sie ist überzeugt: ASS-Betroffene nähmen sehr differenziert Missstimmungen und Disharmonien im Zusammenleben war. Reagierten oftmals wie eingefroren, eher abwesend und unbeteiligt, um nicht direkt überreagierend herauszufahren. Von aussen möge das vielleicht so wahrgenommen werden, dass man unbeteiligt sei.
Autistische Menschen würden durch die vielen Reizüberflutungen einen neutralen Fixierpunkt am Boden brauchen. Das kann auch ein Merkmal eines Astes in einer Holztischplatte während eines Tischgesprächs sein oder ein Fixierpunkt an einer Wand im Raum, um den Blick, die Hirnfunktion dort zur Ruhe kommen zu lassen. Manchmal sei es ein Parfüm, ein bestimmter Gesichtsausdruck des Gegenübers, störender Lärm, eine summende Lampe oder brummende Steckdose, die den Betroffenen überfordere.
… blieb durch Corona aus
«Oftmals sind es zwischenmenschliche Momente, in denen ich nicht weiss, wie ich reagieren soll», sagt Erika Spring. «Momente, in denen ich mich komplett hilflos und überfordert fühle, weil plötzlich so viele Sinnesreize im Kopf prioritär und gleichzeitig verarbeitet werden wollen.»
Häufig nehmen Betroffene die Umwelt sehr intensiv wahr. Eindrücke, Gerüche, Geräusche, die Nichtbetroffene nicht einmal bemerken. Erika Spring kennt es nur zu gut: die totale Reizüberflutung. Wenn sie durch die Luzerner Altstadt geht, all die Gerüche und Geräusche wahrnimmt, kommt sie oft erschöpft zu Hause an, weil sie all diese Eindrücke ungefiltert in sich aufnimmt.
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… aber es gibt auch die Kehrseite der Medaille
Ein wenig ruhiger geht es seit Corona zu und her. Als zeitweise die Läden geschlossen und weniger Menschen anzutreffen waren auf den Strassen, und auch soziale Kontakte eingeschränkt wurden. Das kennt auch Erika Spring: «Durch die Massnahmen und den Lockdown ist mein Hirn sehr zur Ruhe gekommen.»
«Zwar müssen sich in der Corona-Krise alle neu orientieren, Autisten und Autistinnen fällt das aber besonders schwer.»
Nadja Eich, «autismus deutsche schweiz»
Auch Nadja Eich von «autismus deutsche schweiz» bestätigt, dass es für viele Autistinnen positiv war, dass sie weniger soziale Kontakte pflegen konnten beziehungsweise mussten. Auch Veränderungen wie Homeoffice, die allgemeine Entschleunigung und die ruhigere Atmosphäre wirkten bei einigen Betroffenen entspannend.
Corona bringt für einige also auch Positives. In den Medien las man aber auch, dass autistische Personen mit dem Wegfallen von Routinen zu kämpfen hatten. «Zwar müssen sich in der Corona-Krise alle neu orientieren, Autisten und Autistinnen fällt das aber besonders schwer», sagt auch Nadja Eich.
Veränderungen verursachen bei autistischen Menschen Stress
Menschen mit einer Autismus-Spektrum-Störung haben ein starkes Bedürfnis nach Struktur und Vorhersehbarkeit, sie brauchen Routinen und gewohnte Abläufe, fährt Nadja Eich fort. Mit der Corona-Pandemie wurde ihr Alltag durcheinandergewirbelt. «Diese Veränderungen sind für autistische Personen mit grossem Stress verbunden – vieles ist noch anstrengender für sie.»
Familien mit autistischen Kindern seien oft am Anschlag. Die wegfallenden Strukturen würden zu Unruhe und Anspannung führen. Herausfordernde Verhaltensweisen, Zwangsverhalten, Aggressionen oder Selbstverletzungen nahmen laut Nadja Eich zu. Auch fielen Unterstützungsangebote im ersten Lockdown fast komplett weg. «Autistische Menschen fallen in alte Muster zurück, die sie mithilfe ihrer Therapeuten bereits überwunden hatten.» Andere würden sich zum Beispiel auch in exzessivem Computerspielen verlieren.
Auch das Maskentragen kann hinderlich sein. «Eines der Förderziele vieler Therapieformen ist es, Mimik richtig zu interpretieren – was mit einer Maske vor dem Mund kaum möglich ist.» Laut Nadja Eich bestehe die Gefahr, dass autistische Personen die Rückschritte nicht wieder aufholen könnten.
Erika Spring kam in den Aktivismus
Erika Spring hatte mit dem Wegfall der Routinen und der Veränderungen weniger zu kämpfen. Dass sie so flexibel ist, hat sie selber überrascht. Während des ersten Lockdowns engagierte sie sich ehrenamtlich, gründete eine Facebook-Gruppe für die Nachbarschaftshilfe in Horw, initiierte den Gabenzaun, um Bedürftigen Lebensmittel zu geben. «Um nicht in eine Depression zu fallen, stürzte ich mich in den Aktivismus», sagt sie.
«Temporär habe ich einige Fähigkeiten verloren wie Sozialkompetenzen oder die Sprechfähigkeit und Sprechgewandtheit.»
Erika Spring
Aber das ist nur die eine Seite. «In vielen Dingen, die ich zuvor – als ich gut sozialisiert war – geschafft habe, fühle ich mich heute, als Folge der Schutzmassnahmen von Kontaktreduktion und Abstandhalten, etwas unbeholfen», so Erika Spring.
Das Sprechen bereitet ihr mehr Mühe
Sie sagt: «Dadurch, dass ich während des Lockdowns nicht mehr konstant Menschen ausgesetzt war, wurde ich viel verletzlicher. Temporär habe ich einige Fähigkeiten verloren wie Sozialkompetenzen oder die Sprechfähigkeit und Sprechgewandtheit.»
Wenn die 50-Jährige weniger spricht, verspannt sich ihr Kiefer. Weil sich ihre Sprechmuskulatur rückbaut, beginnt sie manchmal, leise und undeutlich zu sprechen. Beim zweistündigen Telefonat spricht Spring aber deutlich. Probleme habe sie nur, wenn sie für längere Zeit nicht spreche.
Kurz nach ihrer Diagnose 2010 war dies noch viel schlimmer. Sie versuchte damals, soziale Kontakte zu meiden, habe tagelang mit niemandem geredet. Wenn sie dann im Lebensmittelladen die Kassierin gegrüsst, ihre eigene Stimme gehört und das Vibrieren der eigenen Stimmbänder gespürt habe, habe sie sich erschrocken umgeschaut. Wer war das, der da sprach? Bis sie realisierte, dass das ihre eigene Stimme war. So entfremdet fühlte sich ihre eigene Stimme durch die lange Zurückgezogenheit an.
Gerüche. Licht. Und Lärm.
Oder auch das Einkaufen konnte für sie zur Tortur werden. «Nur schon, wenn ich in einen Laden komme, spüre ich, dass ich noch viel mehr überfordert bin als vorher.» Die Flut der Waren. Die Farben, die Gerüche, das Licht, der Lärm.
Gerüche, die sie anders als früher wahrnimmt, Gerüche, die sie anders gewohnt sei. Oder eben das Licht. «Vermutlich ist alles gleich, aber meine Sinne sind es einfach nicht mehr gewohnt», sagt Erika Spring.
«Die Natur überfordert mich nicht – was Menschen tun können.»
Erika Spring
Oft sind es Dinge, die anderen ganz banal erscheinen mögen. Wie etwa, als das Waschmittel, das sie immer kauft, plötzlich eine andere Verpackung hatte. Sie sei dann sichtlich irritiert im ganzen Laden umhergeirrt. Oder sie steht blockiert vor dem Regal und ist durch die Beschriftungen und die neue Platzierung der Produkte nicht mehr in der Lage, den Überblick zu behalten.
Sie stellt fest, dass es schon vor der Zeit mit Corona schwierig für sie war, dass sich aber die betreffenden Fähigkeiten nun durch die verloren gegangene Routine noch mehr zu verlieren scheinen. So wie bei einem Sportler, der ein paar Tage keinen Sport treibt und seine Fähigkeiten und trainierten Muskeln verliert, so scheint sie ihre Sozialkompetenzen verloren zu haben.
Sie geht gerne spazieren
Immer geholfen hat Erika Spring, sich im Fitness auszupowern. «Da kann ich den emotionalen Überstau – wie auch eine Reizüberflutung – durch Überdruck abbauen», sagt sie. Der Sport hat ihr während der Coronakrise mit am meisten gefehlt.
Sie hat aber auch andere Wege gefunden, sich zu entspannen und zu erholen. Um ihrem Körper und ihrem Kopf Ruhe zu gönnen, geht Erika Spring viel spazieren. Neu hilft sie auch beim Amphibienzählen in Horw mit, hilft den Fröschen beim Überqueren von Strassen. «Die Natur überfordert mich nicht – was Menschen tun können.»
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