Zwei trockene Alkoholiker erzählen

Wenn Alkohol alles war – und Silvester zum Spiessrutenlauf wird

Trinken, weil man sich selbst und das Leben sonst nicht aushält: Für Toni und Reto war das einst so. (Bild: Symbolbild: Adobe Stock)

Für viele gehört Alkohol zu den Festtagen wie Feuerwerk zu Silvester. Doch für trockene Alkoholkranke sind diese Momente herausfordernd. Reto und Toni erzählen, wie sie abstinent bleiben – und wie sie Silvester ohne Promille feiern.

Muss es für Silvester zwingend Champagner sein? Für viele zumindest gehört er einfach dazu. So wie der Glühwein zum Weihnachtsmarkt und die Flasche Rotwein zum Ossobuco.

Was für die meisten unbeschwert klingt, kann trockene Alkoholikerinnen und Alkoholiker herausfordern. Inmitten von Familientreffen, voll gedeckten Tischen und anstossenden Gläsern lauern Versuchungen und Trigger, die alte Wunden aufreissen können.

Wie fühlt es sich an, in dieser von Alkohol geprägten Atmosphäre nüchtern zu bleiben? Und wie gelingt es, den eigenen Weg der Abstinenz auch in emotional aufgeladenen Momenten zu bewahren? Zwei Menschen, die diesen Weg gegangen sind, erzählen von ihren Erfahrungen. zentralplus trifft Reto und Toni im Alano Treff an der Luzerner Gibraltarstrasse. Hier treffen sich regelmässig Menschen, die den Drogen und dem Alkohol abgeschworen haben.

Bei den Anonymen Alkoholikern fühlte sich Reto zum ersten Mal gehört

Reto ist seit 17 Jahren trocken, Toni seit 36 Jahren. Beiden gab der Alkohol einst viel. Reto wuchs in einer alkoholkranken Familie auf. Alkohol zu trinken, das war für ihn immer normal. Von klein auf fühlte er sich minderwertig. Mit elf, zwölf Jahren begann er mit dem Trinken – wenn auch noch nicht exzessiv. «In den Schulbus mit Gleichaltrigen einsteigen, bei einer Prüfung abliefern – alles ging nur noch mit Alkohol.»

«Nüchtern habe ich mich selbst kaum aushalten können.»

Reto

Rund fünf Jahre später habe er mit exzessivem Trinken begonnen. Sein Leben stand kopf, er konnte morgens nicht mehr aufstehen, normal arbeiten, die Rechnungen bezahlen. Er verschuldete sich, musste aus seiner Wohnung ausziehen. «Nie hat sich mir die Frage aufgedrängt, ob ich zu viel trinke», sagt Reto, der heute 42 Jahre alt ist. «Ich war einfach ein armer ‹Siech›, die ganze Welt war gegen mich – so zumindest fühlte es sich für mich an.»

Als der Lastwagenchauffeur einen Unfall hatte, besuchte er einen Kollegen in Bremen. Dieser war bei den Anonymen Alkoholikern, ein Treffen stand an. Reto log ihn an und meinte, er trinke auch keinen Alkohol. Also ging der damals 27-Jährige mit ans Treffen. Er konnte sich öffnen. «Zum ersten Mal hat mir jemand wirklich zugehört. Zum ersten Mal sagte mir jemand Sätze wie: ‹Schön, dass du hier bist.› Das hat vorher noch nie jemand zu mir gesagt.»

Seither sind 17 Jahre vergangen, in denen Reto die Finger vom Alkohol gelassen hat. Auch heute noch geht er regelmässig zu den Treffen der Anonymen Alkoholiker. Sie geben ihm Halt.

Vom Vater geschlagen, den Frust ertränkt

Auch Toni hatte alles andere als ein einfaches Leben. Er sei in einer «dysfunktionalen Familie» aufgewachsen, wie er heute selbst sagt. Sein Vater hat ihn geschlagen, das Geld war knapp. Die Eltern waren mit den neun Kindern überfordert. Das weiss Toni heute.

Den ersten Suff hatte er mit 14 Jahren, an Silvester. Als 16-Jähriger fing er regelmässig an zu trinken. Weil er weg von seinem Vater wollte, suchte er eine Lehre in einem anderen Kanton. Fündig wurde er im Aargau, wo er eine Lehre als Automechaniker mit Kost und Logis absolvierte. Später wurde er Chauffeur.

«Der Alkohol war mein Antidepressiva.»

Toni

Vier Jahre lang griff er an den Wochenenden zum Alkohol. «Weil ich das Leben sonst nicht ertragen hätte.» Heute sagt Toni: «Bis ich 20 Jahre alt war, war der Alkohol mein Antidepressiva.»

Es dauerte, bis Toni sich selbst sein Alkoholproblem gestand

An seinem absoluten Tiefpunkt lebte er mit einer 46-jährigen Apothekerin zusammen, die viel Geld hatte – und sexsüchtig war. Es wird ihm zu viel. Er beginnt, das Medikament Pervitin – heute versteht man darunter Crystal Meth – zu konsumieren. Abends betrank er sich, am Tag nahm er Pervitin, um zu funktionieren.

Schliesslich konnte Toni drei Wochen nicht mehr schlafen. Aus dem Küchenschrank griff er zur Packung mit Valium, schluckte 70 Pillen auf einmal. Toni wachte in der Psychiatrie auf, in der er drei Wochen bleiben musste. Dass er ein Alkoholproblem hatte, verschwieg der damals 19-Jährige.

Toni trank etwa zwei Monate nichts. Bis zur RS. Mit 24 Jahren lernt er seine Frau kennen, mit der er heute noch zusammen ist. Er war verliebt, das erste Kind kam zur Welt. Toni trank noch immer nicht – bis ihn der Alltag wieder einholte.

Als ihn Rückenprobleme plagten, musste er auf einen Bürojob wechseln. Toni litt. Er trank 5 bis 15 Bier – und das jeden Abend.

Schliesslich versuchte er, etwas zu ändern. Im Rahmen einer Ausbildung stiess er auf den einen Satz, der alles veränderte: Wenn du Karriere machen willst, musst du ehrlich mit dir selbst sein. «Ich gestand mir selbst, dass ich ein Alkoholproblem hatte – und rief am selben Abend bei den Anonymen Alkoholikern an.» Damals war er 38 Jahre alt. Seither sind 36 Jahre vergangen, in denen Toni, der sich später zum Sozialpädagogen ausbilden liess, nichts mehr getrunken hat.

Weihnachten und Silvester war immer mit Stress verbunden

In ihrer «Säuferzeit», wie Reto und Toni diese Phase ihres Lebens nennen, waren Weihnachten und Silvester für sie alles andere als besinnliche oder schöne Momente.

«Ich konnte Weihnachten gar nie so als Fest der Liebe wahrnehmen», sagt Reto. «Der Alkohol war immer sehr präsent.» Sei er betrunken gewesen, sei er jedoch nie aggressiv geworden. «Ich war betrunken der liebste Kerl. Sobald ich aber keinen Alkohol mehr hatte, wurde ich jähzornig, teils gewalttätig. War ich nüchtern, so habe ich mich selbst kaum aushalten können.»

Hier findest du Hilfe

Wähle die Nummer 143 der «Dargebotenen Hand», wenn es dir nicht gut geht oder du dir Sorgen um jemand anderen machst. Kostenlos und rund um die Uhr hilft dir auch die Nummer 147 (Pro Juventute).

Leute mit Alkoholproblemen finden Hilfe bei den Anonymen Alkoholikern. Auch in Luzern finden regelmässig Meetings statt. Ebenso beim Alano Treff.

Und auch Toni erzählt, wie er früher mit seiner Frau immer «Lämpe» an Weihnachten gehabt habe. Seine Kinder hätten davon glücklicherweise nichts mitgekriegt. Seine Frau schützte sie davor und schickte die Kinder ins Zimmer, wenn er betrunken war. Heute mag Toni Weihnachten. «Am 25. Dezember waren wir 13 Personen bei uns im Haus – mit den Kindern und Enkeln. Wir verbrachten eine wirklich schöne Zeit miteinander.»

Das triggert trockene Alkoholiker

Trigger gibt es für trockene Alkoholiker das ganze Jahr. «Alkoholismus kann man nicht heilen, sondern nur zum Stillstand bringen», hielt Toni bereits in früherem Bericht auf zentralplus fest. In den ersten Jahren der Abstinenz habe es ihn jedes Mal getriggert, wenn er in Lebensmittelläden an Bierdosen und Whiskyflaschen vorbeigelaufen sei. Oder er Plakate, die Bier angepriesen hätten, gesehen habe.

«Mein ganzes Grundgerüst, das Fundament meines Lebens, basiert auf dem Grundsatz: nicht trinken.»

Reto

Reto sagt, dass die Schwierigkeit nicht darin bestünde, mit dem Alkohol aufzuhören – sondern es auch wirklich bleiben zu lassen. «Mein ganzes Grundgerüst, das Fundament meines Lebens, basiert auf dem Grundsatz: nicht trinken.»

Für ihn ist klar: Betrinken sich andere um ihn herum oder wollen ihn gar dazu anstacheln, dann ist er am falschen Ort. «Dann gehe ich – oder meide ein solches Treffen vorneweg.» Deswegen würde er auch nie an einen Geschäftsausflug mit dem Zug oder dem Schiff gehen. Reto möchte sein eigenes Auto haben, um immer gehen zu können.

In seiner Familie sei dies kein Problem. Seine Freundin trinkt vielleicht mal ein Glas zum Anstossen, die vier erwachsenen Kinder trinken gar keinen Alkohol, der einst alkoholkranke Vater ist wie er seit Jahren trocken. Was Reto aber nicht möchte: dass seine Freundin im eigenen Haus Alkohol lagert. Wenn er – aus welchem Grund auch immer – mal damit hadere, etwas zu trinken, so müsste er erst den Weg auf sich nehmen, Alkohol zu besorgen. Dieser Weg gibt Zeit – Zeit, zu überlegen, ob er das wirklich möchte. Rückfällig wurde Reto nie.

Auch an den Treffen mit den Anonymen Alkoholikern sind die Festtage immer wieder Thema. Nicht wenige fürchten sich vor Rückfällen. Toni erzählt, wie sie früher am 24. und 31. Dezember jeweils ein Nachtessen organisiert hätten. Heuer finde am Silvesterabend bis nach ein Uhr nachts ein Zoom-Meeting statt.

Austausch mit Gleichgesinnten

Für beide ist der Austausch mit Gleichgesinnten immer noch essenziell. Nicht, weil sie Angst hätten, ohne wieder rückfällig zu werden. Doch beide Männer sprechen von einer Persönlichkeitsentwicklung, die sie hier durchlebt haben und immer noch durchleben. Darauf wollen sie nicht verzichten.

Silvester feiern beide nicht gross. Toni wird am Zoom-Meeting ein Inputreferat zum siebten Schritt des sogenannten Zwölf-Schritte-Programms der Anonymen Alkoholiker machen. Danach werde er mit seiner Frau – mit der er mittlerweile wieder eine glückliche Ehe führe – noch ein wenig in das Meeting reinhören und dann einen gemütlichen Fernsehabend machen. «Die letzten Jahre haben wir bereits vor Mitternacht geschlafen.»

Reto wird mit seiner Freundin und der Tochter gemeinsam feiern. Er wird drei Stühle bereitstellen, mit einem Glas Rimuss oder Orangensaft anstossen und das Feuerwerk anschauen – durch die Balkonscheiben.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Toni und Reto
  • Website des Alano Vereins
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