Nach fünf Monaten in Menzingen

Warum eine Familie trotz Gefahr in die Ukraine zurückkehrte

Das Kätzchen in Yulias Familie wächst mitten im Ukraine-Krieg auf. (Bild: zvg)

Sicherheit ist nicht alles. Das hat eine ukrainische Familie gemerkt, nachdem sie in den Kanton Zug geflüchtet war. Nach fünf Monaten kehrte sie zurück in ihre Heimat. Nun ist die Familie wiedervereint. Der Preis dafür ist sehr hoch.

Weit weg vom Krieg: Als die ersten russischen Bomben im Februar 2022 fallen, ist dies für Millionen von Ukrainerinnen das einzige Ziel. So auch für Yulia (50), die Mitte März mit ihren Kindern Ivan (12) und Irina (16) sowie Katze Tuttik aus der Grossstadt Krywyj Rih flüchtet, um wenige Tage später in Menzingen eine vorübergehende Heimat zu finden.

Zwar ist die Familie hier in Sicherheit; einfach ist die Zeit im Kanton Zug trotzdem nicht. Yulia spricht weder Deutsch noch Englisch, was das Leben in der Schweiz und alle organisatorischen Abläufe erschwert. Dazu kommt, dass die Schweizer SIM-Karten nicht mit den ukrainischen Handys kompatibel sind, was die Kommunikation zusätzlich komplizierter macht. Ivan und Irina besuchen in Menzingen die Schule. Für Yulia ist dies das Wichtigste: Die Kinder sollen eine gute Ausbildung geniessen. Auch wenn sie tausende Kilometer von zu Hause entfernt sind.

Yulia mit ihrem Sohn Ivan (r.) und ihrem Neffen in der Schweiz. (Bild: zvg)

Auf der Suche nach einem Laptop für diesen Zweck entsteht via Facebook und mit der Hilfe von Google Translator ein Kontakt zwischen Yulia und der Autorin dieses Textes, der bis heute anhält.

Krankheit und Langeweile

Yulia versucht in Menzingen, Deutsch zu lernen. «Ich konnte mich jedoch überhaupt nicht konzentrieren. Zu sehr plagten mich die Sorgen», sagt die Kranführerin rückblickend. Im Frühling erleidet Yulias Mann, der in der Ukraine geblieben ist, einen Hirnschlag. Auch macht sich Yulia Sorgen um weitere Familienmitglieder, die in der Ukraine geblieben sind. Darunter ihre älteste Tochter Valeria (26) und deren Sohn Ilyusha (7).

Für die Arbeiterfamilie ist die Schweiz sehr teuer. Mit der Beendigung des gratis öV-Angebots für ukrainische Geflüchtete wird es für die Familie schwieriger, aus Menzingen herauszukommen. Die dringende Suche nach einem Job bleibt erfolglos. Oft spaziert Yulia in dieser Zeit durch das Dorf. Andere Beschäftigungsmöglichkeiten gibt es für sie kaum.

Tatsächlich gibt es auch nicht besonders viel Platz. Irina, Ivan und Yulia leben gemeinsam mit der Katze in einem Zimmer der temporären Asylunterkunft Luegeten.

Irina feierte ihren 16. Geburtstag im Asylzentrum. Doch egal was passiert: Kuchen muss sein, findet ihre Mutter. (Bild: zvg)

Dankbarkeit und Heimweh

Obwohl sie sehr dankbar dafür ist, was die Schweiz für ukrainische Geflüchtete leistet, möchte Yulia zurück. Auch die Kinder sehnen sich nach ihrer Heimat und der Familie. Aus diesem Grund beschliessen sie nach langem Überlegen, dem Krieg zum Trotz in die Heimat zurückzukehren. Ende August fahren sie mit dem Zug nach Warschau und nehmen dort den Bus weiter in ihre Heimatstadt Krywyj Rih. Die Tatsache, dass die Familienmitglieder mit ihrer Ausreise den Schutzstatus S verlieren, nehmen sie in Kauf.

Im September, wenige Tage nach ihrer Ankunft in Krywyj Rih, schreibt Yulia in einer Nachricht: «Es geht uns gut. Die Sirenen tönen, aber in der Stadt selbst ist es ruhig. Das Leben nimmt seinen Lauf, die Menschen arbeiten, studieren und spazieren.»

«Wenn die Sirenen losgehen, hört der Unterricht auf.»

Yulia, ukrainische Mutter

Die Kinder folgen in der Ukraine dem Online-Unterricht. «Wenn die Sirenen losgehen, hört der Unterricht auf. Stattdessen bekommen die Kinder Hausaufgaben, die sie selbständig lösen müssen», erzählt Yulia.

Bomben und Schlaflosigkeit

Nach Hause zurückgekehrt, kann Yulia aufgrund der Sirenen anfangs nicht schlafen. «Manchmal sind sogar Explosionen zu hören. Letzthin hat das ganze Haus gezittert. Aus irgendeinem Grund gab es im Vorfeld keinen Alarm.» Sie erzählt weiter: «Wenn wiederum mehrere Tage kein Bombenalarm ertönt, ist es, als gäbe es keinen Krieg. Das Leben in der Stadt nimmt seinen gewohnten Lauf.»

Yulia hat ihre Arbeit als Kranführerin in Krywyj Rih nach ihrer Rückkehr wieder aufgenommen. Nur: «Weil das Unternehmen Geld sparen will, zwingen uns die Vorgesetzten, unbezahlten Urlaub zu nehmen und unsere Schichten zu reduzieren.»

Licht und Wärme

Aufgrund dutzender Raketenangriffe fiel am 23. November in weiten Teilen des Landes der Strom aus. «Unser Stahlwerk ist noch immer nicht in Betrieb», schreibt Yulia anfangs Dezember. Für ihre Familie ist das eine grosse finanzielle Belastung. Die Löhne reichen nicht aus zum Leben, ausserdem steigen die Preise immer weiter an.

Immerhin gebe es in ihrer Stadt nur selten Stromausfälle. «Bei meiner Tochter Valeria hat es fast den ganzen Tag über kein Licht, darum kommt sie oft zu uns.» Auch sei es in der Wohnung warm. Dies insbesondere, da die Familie vor Jahren eine dezentrale Heizung einbauen liess. «Die vom Staat betriebene zentrale Heizung funktioniert in unserer Eckwohnung nicht richtig. Mit dieser können wir oft nur gerade 16 Grad erreichen.»

«Wir verfügen über keine biometrischen Pässe und uns fehlt das Geld, uns diese ausstellen zu lassen.»

Das Problem: Der Staat, der das Monopol auf die Heizung nicht verlieren will, lässt Yulias Heizsystem nicht zu. «Aus diesem Grund befinden wir uns im Moment in einem Rechtsstreit mit der staatlichen Heizungsgesellschaft. Was wiederum sehr viel kostet. Wann dieser Prozess endet, ist unklar.»

Heimat und Angst

Immerhin: Yulias Ehemann geht es nach dem letzten leichten Schlaganfall den Umständen entsprechend gut. «Er bewegt sich jedoch nicht allzu weit von unserer Wohnung weg und ist meistens zu Hause.» Alles in allem ist die Familie froh, zurück in der Heimat zu sein. «Das ist unser Zuhause. Alle sind hier: meine Mutter, meine Brüder und Schwestern, die Grosskinder und Neffen. Aber wir haben Angst.»

Immer wieder überlegt sich die Familie deshalb, erneut zu flüchten. «Doch wir verfügen über keine biometrischen Pässe und uns fehlt das Geld, uns diese ausstellen zu lassen.» Ein Lichtblick in dieser finsteren Zeit: Die Katze Tuttik hat vor drei Monaten ein Kätzchen bekommen. Über «Mathilde» freut sich die ganze Familie.

220 Personen sind bereits zurückgekehrt

Yulias Familie ist nicht die einzige, die den Schritt zurück in die kriegsgeplagte Heimat wagte. Gemäss der Direktion des Innern sind seit Beginn des Krieges 1'081 Personen (Stand Ende November) nach Zug gekommen. 220 waren bis Ende November aus den kantonalen Strukturen ausgetreten. Die Mehrheit davon ist gemäss der Direktion des Innern zurück in die Ukraine gereist. Andere verfügen mittlerweile über ein regelmässiges Einkommen und sind nicht länger von der wirtschaftlichen Sozialhilfe abhängig. Wieder andere haben den Kanton gewechselt.

Caritas Schweiz bietet für Rückkehrerinnen in die Ukraine eine sogenannte Rückkehrhilfe an. Diese unterstützt die Betroffenen mit den Reisekosten sowie bei der Planung der Ausreise respektive beim Kauf von Zug- oder Busbilletten, wie Andreas Ackermann von der Rückkehrberatungsstelle erklärt.

Ebenfalls würden die Personen über rechtliche Rahmenbedingungen informiert. Als Beispiel: «Wir weisen die Personen in den Beratungsgesprächen immer darauf hin, dass sie den Status S bei einer definitiven Ausreise verlieren. Teilweise ist ihnen dies schon bekannt, teilweise auch nicht.»

«Oft dringt der Wunsch durch, einfach wieder zu Hause respektive bei ihren Familien zu sein.»

Andreas Ackermann, Rückkehrberater bei Caritas Schweiz

Weiter werden die Ukrainer in speziellen Situationen unterstützt. Also etwa, wenn sie vulnerabel sind oder unter chronischen Krankheiten leiden und deshalb spezielle Unterstützung bei der Reise benötigen. Last but not least hilft die Caritas bei der Rückkehr in aufgrund des Krieges schwer zugängliche Regionen.

Familienmitglieder pflegen, das Zuhause retten

Die Hauptgründe für eine Rückkehr kennt Ackermann. Er sagt: «Häufig als Grund angegeben werden die Sorgen um Angehörige, dringende familiäre Angelegenheiten wie etwa Todesfälle oder Krankheiten, die Pflege bedürftiger Verwandter oder sonstige dringende Angelegenheiten im Heimatland.» Und weiter: «Oft dringt auch der Wunsch durch, einfach wieder zu Hause respektive bei ihren Familien zu sein, verbunden mit der starken Hoffnung auf eine Verbesserung der Lage in der Ukraine.»

Der Rückkehrberater bringt ein konkretes Beispiel: «Ein älteres Ehepaar möchte dringend in die Region Kiew zurückkehren, da bei den Kämpfen das Dach seines Hauses beschädigt wurde. Da das Innere des Hauses nun der Witterung ausgesetzt ist, befürchten die beiden irreparable Schäden und möchten vor Ort versuchen zu retten, was zu retten ist.»

Verwendete Quellen
  • Persönliche und schriftliche Gespräche mit Yulia und ihrer Familie
  • Schriftlicher Austausch mit der Direktion des Innern
  • Schriftlicher Austausch mit der Rückkehrhilfe
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