Vom Sattel ins Spital – wie Krebs Reto Gelassenheit lehrte
Reto und sein Rennvelo. (Bild: naf)
Nach der Schockdiagnose Blutkrebs sah sich Reto Abgründen gegenüber. Inmitten der Chemotherapie fand der begeisterte Rennvelofahrer eine neue innere Stärke.
Während Reto (53) spricht, schält er mit ruhiger Hand eine Klementine. Er sitzt am Esstisch in seinem Haus in einer Luzerner Gemeinde. Vom Tee neben ihm steigt gemächlich heisser Dampf auf. Seine Haut wirkt blass, das kurze Haar ist leicht zerzaust. Trotzdem sieht er wieder gesünder aus als auch schon. Seine Vergangenheit als Leistungssportler lässt sich noch erahnen.
Im Sommer 2023 erklärte eine Ärztin des Luzerner Kantonsspitals (Luks) Reto, dass er Blutkrebs hat – Leukämie. «Ich hatte entsetzliche Angst, es war unheimlich», erzählt Reto, der seinen Nachnamen nicht öffentlich nennen will. Während der Chemotherapie beginnt er, sich von einer Psycho-Onkologin betreuen zu lassen.
In diesen Gesprächen lernt er, gegenüber seinem Körper eine andere Haltung einzunehmen. Er lernt, entspannter mit Ungewissheit umzugehen. Und er lernt, wie wichtig es für einen gesunden Körper ist, auch einen gesunden Geist zu haben.
weshalb er mit seiner Psycho-Onkologin Achtsamkeitsübungen trainierte
Sein Hobby nützte ihm im Überlebenskampf
Früher betrieb Reto Leistungssport, verbrachte jede freie Minute auf dem Velo. Grimsel, Furka, Gotthard, Nufenen – es gibt kaum einen Pass in der Schweiz, welchen Reto mit seinem Rennrad nicht erklommen hat. Dann folgte der Schicksalsschlag.
Insgesamt verbringt Reto im Sommer und Herbst 2023 sechs Monate im Luks. Mit kleinen Pausen dazwischen macht er fünf Zyklen an Chemotherapie durch, was ihn jedes Mal an den Anschlag seiner Kräfte bringt. Die Zyklen dauern jeweils drei Wochen, wobei er immer zehn Tage in einem Isolationszimmer verbringen muss. Er verliert während dieser Zeit rund 20 Prozent seines Körpergewichts und so gut wie alle seine Muskeln.
«Meine Gefühle bewusst zu durchleben, half mir»
Im Spital wird er vom Einzelsportler zum Teamplayer, wie er selbst sagt. Von den Ärzten über den Ernährungsberater bis hin zur Seelsorgerin stehen ihm zahlreiche Experten zur Seite. So auch die Psycho-Onkologin. Sie ist eine Psychologin, die auf die Betreuung von Menschen mit Krebs spezialisiert ist. Ihre Dienste bietet sie allen betreffenden Patienten am Luks an.
Mit ihr beginnt er zu verstehen, was in ihm abgeht – und wie wichtig neben der körperlichen Fitness auch die der Psyche ist. «In der dritten Sitzung habe ich zum ersten Mal geweint, weil ich krank bin», erzählt Reto. Zuvor habe er lange überhaupt keine Zeit gehabt zu verarbeiten, was der Krebs für sein Leben bedeute. Tests, Untersuchungen und Konsultationen drängten sich vor.
Die Psycho-Onkologin brachte ihn dazu, die Emotionen an die Oberfläche zu bringen, die in ihm brodelten. «Meine Gefühle bewusst zu durchleben, half mir. Es war befreiend, wohltuend. Es gab ihnen einen anderen Charakter», führt Reto aus. «Ich merkte, je offener ich mich gebe, umso besser können die Menschen um mich herum mich unterstützen.»
Machtlosigkeit muss er hinnehmen
Die Nebenwirkungen der Chemotherapie setzten seinem Körper arg zu. Besonders in Erinnerung bleibt ihm der Schüttelfrost, den er manchmal bekommen hat. «Das überrollt dich wie eine Welle. Du hast keine Kontrolle, bist voll auf andere angewiesen», sagt er. «Du liegst unter drei Decken und es schüttelt dich von Kopf bis Fuss durch.» Manchmal habe es erst aufgehört, als der Körper erschöpft in Ohnmacht gefallen sei.
Gelassenheit wird ein Begriff, der für Reto grosse Bedeutung erhält. Er muss sich notgedrungen darin üben, Dinge zu akzeptieren, die er nicht kontrollieren kann. Seien das Dinge um ihn herum oder in ihm. Er schöpfe aus dieser erlernten inneren Ruhe gegenüber allem Ungewissen enorme Energie, erklärt er. «Es ist ein Teil von Resilienz, Umstände zu nehmen, wie sie sind, anstatt an ihnen zu verzweifeln.»
Der Krebspatient hievt sich auf den Sattel
Seine Leidenschaft für Bewegung und das Velofahren legt er selbst im Spital nicht ganz ab. Das Personal stellt ihm einen Hometrainer in das Isolationszimmer. Er habe sich bemüht, wann immer es die Kräfte zuliessen, zumindest für eine ganz kurze Zeit die Füsse auf die Pedalen zu stellen, sagt er. Ohne Widerstand liess er die Beine baumeln, den Infusionsständer immer daneben.
Ihm gefällt an seinem Hobby, wie gut er dabei den Kopf frei bekommen kann. «Das Velofahren hat mir schon immer als Ausgleich zum Alltag gedient», erzählt Reto. Seit gut 15 Jahren wagt er sich im Duell gegen Bergpässe und Gegenwind. Angefangen hat es mit einem Neujahrsvorsatz. «Ich wollte etwas gegen meinen Bauchumfang machen», meint er über seine Anfänge als «Gümmeler».
Schlaflosigkeit als ständiger Begleiter
Heute hat er andere Tricks dazugelernt, wie er sein Hirn von nagenden Gedanken befreien kann. Zusammen mit der Psycho-Onkologin hat er sich mehrere Übungen für Achtsamkeit angeeignet. Die trainierten Abläufe helfen, Erholung zu finden, wenn sich etwa in der Nacht kein Schlaf finden lässt. Während den Monaten im Spital fiel ihm das oft schwer.
«Mit den Übungen bist du auch trotz wenig Nachtruhe am Morgen erholter», führt er aus. Davon habe er über die Zeit im Luks hinaus profitiert. «Dein Umfeld merkt, wenn du unter Schlafmangel stehst. Du bist schneller gereizt, gehst mit anderen vielleicht härter ins Gericht.»
Die Behandlung ist abgeschlossen
Stress spielte in Retos Leben vor der Diagnose eine grosse Rolle. Berufsbedingt hatte er stets viel davon. «Ich habe erkannt, wie ungesund das für mich ist», sagt er. Stress sei nicht per se etwas Schlechtes. Aber er habe sich selbst lange mehr zugemutet, als er wohl vertrage. «Irgendwann gab der Körper auf.»
Mittlerweile haben sich seine Ansprüche an sein Leben verändert. «Ich bin jetzt medizinisch genesen, aber nicht mehr derselbe Reto wie vor 18 Monaten.» Momentan ist er in der Entwöhnungsphase von seinen Medikamenten. Nach den fünf Zyklen an Chemotherapie musste er gut ein Jahr lang jeden Tag zahlreiche Tabletten nehmen. Im letzten November schluckte er die letzte.
Reto kennt sich jetzt besser
Mit seiner Psycho-Onkologin trifft er sich noch immer. Und er will die Sitzungen so lange wie möglich weiterführen. Da er genesen ist, könnte das allerdings schwierig werden bei ihr. «Ich will so eine Betreuung auch in Zukunft haben», sagt er. Allenfalls werde er zu einem normalen Psychologen wechseln.
Er wolle das, weil er sich jetzt besser kenne. «Präsentiert sich mir eine reizvolle Aufgabe oder ein interessantes Angebot, kann es schnell geschehen, dass ich mich vergesse», führt Reto aus. Habe er eine psychologische Betreuung, passe diese auf, dass er sich nicht überfordere. Sollte das geschehen, könnte sich das wieder auf seinen Körper auswirken.
Der Tod kümmert ihn nicht
Angst vor dem Sterben hat Reto keine mehr: «Wenn es so kommt, ist es halt so.» Seine fröhliche Grundhaltung ist auch bemerkbar, wenn er über das Luks spricht. «Ich gehe gerne ins Spital. Ich habe gute Erinnerungen an meine Zeit dort», erzählt er.
Seinen Mitmenschen legt er ans Herz: «Der Krebs kann alle treffen. Zu jeder Zeit.» Dann gebe es keine Zahlen, keine sicheren Prognosen. «So etwas wie: ‹Bei der Therapie X gibt es eine Chance von 60 Prozent, dass Sie überleben›, sagen die Ärzte nicht.»
Irgendwann will er wieder um den Napf
Langsam kommen die Kräfte in seinen Körper zurück. Er freut sich auf den anstehenden Frühling. Sein grosses Ziel ist es, mit seinem Rennrad einmal wieder um den Napf zu fahren. Eine Kollegin werde dann zur Sicherheit mitkommen, sagt er. Wie lange die Umrundung dereinst dauert, spielt Reto keine Rolle.
Ebenfalls egal ist ihm, wann genau die Tour um den Napf stattfindet. Er nimmt es Schritt für Schritt. Schmunzelnd fügt er hinzu: «Wenns ein gesetztes Datum gibt, muss das Wetter egal sein. Ich bin ein Schönwetter-Velofahrer.»
Nathan Affentranger ist seit März 2024 Praktikant bei zentralplus. Er hat einen Entlebucher Dialekt, eine Antipathie für Beamtensprache und ein Masterdiplom in Philosophie. Am liebsten schreibt er über die kleinen Absurditäten des Alltags.