Shrimps, Wassermelonen und Heimweh «nach de Bärge»

Vom American Dream eines Weggiser Schlossers

Mit der Thuringia schiffte sich Baptist Lottenbach nach New York ein. Seine Verlobte, Bertha Barmettler aus Stans, folgte ihm zwei Jahre später.

(Bild: zvg)

In den goldenen Zwanzigerjahren versuchte ein Weggiser Schlosser in New York sein Glück. Seine Urenkelin hat sich in die Tagebücher vertieft und ein Leben kennengelernt, wie es hunderttausende Auswanderer erlebten.

Magdalena Lottenbach aus Luzern weiss wahrscheinlich mehr über ihren Urgrossvater als manch anderer über die eigenen Eltern. Und das, obwohl sie ihm nie persönlich begegnet ist. Denn Baptist Lottenbach starb am 17. November 1968 im Alter von 70 Jahren.

Tagelang hat sich die Schülerin der Kanti Alpenquai im letzten Jahr in seine Tagebücher vergraben und das Familienarchiv durchforstet. Den Nachruf ihres Urgrossvaters, Fotografien, Urkunden, Dokumente, Pässe und Tagebücher hat sie für ihre Maturaarbeit über den «American Dream» in der eigenen Familiengeschichte studiert.

Von Schüttsteinen und lautgetreuem Englisch

Die Tagebücher, in einem für seine Urenkelin erst mal schwer zu entziffernden, lautgetreuen Englisch geschrieben, berichten vom Leben des Weggiser Schlossers in New York, seiner Auswanderung und Rückkehr. «Anfänglich war auch die Schrift von meinem Urgrossvater eine Herausforderung. Die Tagebücher sind teilweise mit Bleistift geschrieben und die Seiten vergilbt», so Lottenbach. Zudem benutzte Baptist Lottenbach zahlreiche Begriffe, welche die Schülerin nicht verstand, wie zum Beispiel «taub sein» (wütend sein) oder «Schüttstein» (Lavabo).

Sie habe sich nie träumen lassen, wie nahe sie ihrem Urgrossvater durch das Lesen seiner Tagebücher kommen würde. Doch je mehr sie sich in das Archiv und die Tagebücher vertiefte, desto klarer wurde ihr Bild von Baptist Lottenbach und ihre Verbindung zu ihm. «Ich fühlte mit ihm, litt und freute mich regelrecht, als wären die Geschehnisse aktuell und nicht beinahe hundert Jahre her. Ich geriet in eine Faszination und musste aufpassen, trotzdem die angebrachte Objektivität an den Tag legen zu können», sagt die Schülerin rückblickend.

Ein Tagebuch-Auszug vor der Auswanderung.

Ein Tagebuch-Auszug vor der Auswanderung.

(Bild: zvg)

Jingle Bells und Reis mit Shrimps

Amerika sei in ihrer Familie schon immer Thema gewesen, seit sie sich erinnern könne. «Die Auswanderung meines Urgrossvaters hat viele Spuren in unseren Leben hinterlassen, die sich bis in die Gegenwart ziehen.» Doch viele der kleinen Fingerzeige auf den Urgrossvater im Alltag seien ihr erst bewusst geworden, als sie sich mit seinen Tagebüchern beschäftigte: «Beispielsweise meine Urgrosstante, die mir immer den typisch amerikanischen ‹Humpty-Dumpty›-Reim beibringen wollte.» Oder dass sie an Weihnachten immer «Jingle Bells» gesungen hätten.

Auch kulinarisch hat das Abenteuer von Baptist Lottenbach auf das Leben der Nachfahren eingewirkt. Das Rezept «rice with shrimps» sei von ihm heiss geliebt worden und fand mit ihm den Weg nach Weggis. Dies zu einer Zeit, in der Meeresfrüchte fast gänzlich unbekannt waren. Dieses Rezept wurde mit den Generationen weitergegeben. «Auch wenn es heute kein spezielles Gericht mehr ist, ist es für mich doch immer noch ein Stück Familiengeschichte», sagt seine Urenkelin heute.

Die Postkarte von Lottenbachs Reise.

Die Postkarte von Lottenbachs Reise.

(Bild: zvg)

Ein Traum wie der von Hunderttausenden

Die Geschichte von Baptist Lottenbachs Auswanderung beginnt 1923 in Weggis. Er entschloss sich, da er in seiner Heimat keine Arbeit fand, nach New York auszuwandern. Er folgte damit zweien seiner Schwestern, die bereits einige Jahre zuvor, ebenfalls aus wirtschaftlichen Gründen, mit dem Schiff in die USA gereist waren.

Lottenbachs Verlobte Bertha Barmettler aus Stans folgte ihm 1925 in die neue Heimat – die beiden heirateten am Tag ihrer Ankunft und bekamen in den kommenden drei Jahren zwei Kinder.

Bertha und Baptist Lottenbach in New York.

Bertha und Baptist Lottenbach in New York.

(Bild: zvg)

Der Traum vom grossen Geld

Baptist Lottenbach vertritt mit seiner Geschichte eine gesamte Gesellschaftsschicht von Arbeitern und Immigranten, die im New York der «Roaring Twenties» und des wirtschaftlichen Aufschwungs ihr Glück versuchten.

Zu Beginn sah es recht rosig aus für die junge Familie Lottenbach. Mit der Ankunft von seinem «Berteli» schwindet ein Teil des Heimwehs. Baptist Lottenbach hat eine gute Anstellung, lebt mit seiner geliebten Frau und bald auch zwei Kindern in Brooklyn. Auch Freunde findet die junge Familie schnell. Nur die Berge vermisst der leidenschaftliche Wanderer während der Zeit in New York stetig.

Die Lottenbachs geniessen den Strand.

Die Lottenbachs geniessen den Strand.

(Bild: zvg)

Mit zunehmendem Lohn steigt auch der Wohlstand der Familie an. Dreimal ziehen die Lottenbachs um – in immer schickere Wohnungen. Doch besonders an den vielen kleinen Dingen, die in Lottenbachs Tagebüchern erwähnt sind, lässt sich die steigende Wohlstandskurve beobachten. Das Radio, der Phonograph, das Bügeleisen, Nähmaschine und Waschmaschine sind für die damalige Zeit nicht selbstverständlich. Auch spezielle Ereignisse hält Lottenbach im Tagebuch fest: Als er das erste Mal Subway oder Taxi fährt, das erste Mal Shrimps und Wassermelone isst oder das erste Mal Cocktails trinkt.

Im Jahre 1928 kann Baptist Lottenbach sogar ein kleines Grundstück in New Jersey, das 160 Kilometer von Manhattan entfernt liegt, kaufen. Bis 1929 wächst die Wohlstandskurve des Baptist Lottenbach stetig nach oben.

Doch dann setzt die Weltwirtschaftskrise dem Höhenflug ein jähes Ende. «Beim Börsencrash 1929 musste er einen Verlust von einem ganzen Jahresgehalt einstecken», sagt Magdalena Lottenbach.

Bertha und Baptist Lottenbach mit Schweizer Freunden in Brooklyn.

Bertha und Baptist Lottenbach mit Schweizer Freunden in Brooklyn.

(Bild: zvg)

Die Krise erreicht New York

Die Firma Jacksons an der Carrol Street 374 in Brooklyn, bei der Baptist Lottenbach angestellt ist, muss Dutzende Mitarbeiter entlassen. Baptist Lottenbach bleibt jedoch bis zu seiner Heimreise fest angestellt und verrichtet zuletzt noch als einziger Arbeiter der Firma die spärlichen Aufträge, die Jacksons erhält. Der Tagebucheintrag vom 14. März 1932 lautet aber schliesslich: «Muss nicht arbeiten gehen, es gibt keine. Noch 4 Personen.» Als Ende März immer noch keine Arbeit vorhanden ist, entschliesst sich die Familie Lottenbach, die Heimreise nach Weggis anzutreten.

1936 kehrt Baptist Lottenbach nochmals für einige Monate nach New York zurück, um Geld zu verdienen. Mit dem heimgeschickten Geld vom ersten Amerikaaufenthalt und dem Verdienst des zweiten kann er sich die Schlosserei seines ehemaligen Lehrmeisters, Eduard Infanger, aus der Konkursmasse kaufen. Das Geschäft ist bis heute im Besitz der Familie Lottenbach.

Mit Mut und Akribie

Sie habe beim Lesen der Tagebücher den Eindruck gewonnen, dass ihr Urgrossvater ein sehr akribischer Mensch war, sagt Magdalena Lottenbach. Jeden Tag habe er Tagebuch geschrieben und jede Seite habe denselben Aufbau: «Wetter, Abrechnungen, von wem er Briefe erhalten hat, wem er geschrieben hat», erklärt Lottenbach. «Zudem würde ich ihn als sparsam und hart arbeitend beschreiben.» Doch je näher die Auswanderung rückte, desto emotionaler seien die Einträge geworden. Und oft habe er zu Beginn Heimweh nach seiner Familie und seiner Bertha gehabt.

Wie ihr Urgrossvater ganz ohne Kenntnis der Sprache, ohne Freunde und ohne feste Arbeit in ein fremdes Land auszuwandern, kann sich Magdalena Lottenbach nicht vorstellen. «Für den Mut, den er damals hatte, bewundere ich ihn sehr.»

(Bild: zvg)

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