Gesellschaft
Du glaubst, Rassismus gibt's nicht in Luzern? Hier die Fakten

«Einige Menschen suchen den Fehler bei sich, wenn sie rassistisch angegriffen werden»

«Black Lives Matter»- Protest in Washington D.C. vom 6. Juni. (Bild: Koshu Kunii/unsplash)

Einige Menschen, die rassistisch angegriffen werden, sind resigniert. Das sagt der Geschäftsleiter des Kompetenzzentrums Migration in Luzern. Wer glaubt, Rassismus gebe es bei uns nicht – der werde hier eines besseren belehrt.

Die Wut treibt Tausende auf die Strassen. Weltweit ziehen Menschen auf die Strassen, um ein Zeichen gegen Rassismus zu setzen. Die «Black Lives Matter»-Protestwelle hat auch Luzern erreicht.

Zwar scheint der Fall George Floyds weit weg. Doch Rassismus ist auch in Luzern Alltag. Drei dunkelhäutige junge Menschen haben bei uns kürzlich von ihren Erlebnissen erzählt (zentralplus berichtete).

In Luzern ist das Kompetenzzentrum Migration Fabia Anlaufstelle für Menschen, die diskriminiert oder rassistisch angegriffen wurden. Wir haben mit Geschäftsführer Hamit Zeqiri gesprochen – und die wichtigsten Fakten zum Thema Rassismus in der Schweiz zusammengetragen.

1. Rassismus in der Schweiz: Was ans Licht kommt, ist nur die Spitze des Eisbergs

Vor einem Jahr hat das Innendepartement den Bericht der Fachstelle für Rassismusbekämpfung 2018 herausgegeben. Aus diesem wird ersichtlich, dass jede dritte Person mit Migrationshintergrund in der Schweiz in den letzten fünf Jahren diskriminiert wurde – nämlich 36 Prozent. Diskriminiert wurden sie aufgrund ihrer Nationalität, ihrer Sprache, Hautfarbe oder Religion.

Die Fabia hat sich zwar letztes Jahr «nur» mit 13 Rassismusfällen auseinandergesetzt. Die Dunkelziffer dürfte aber wesentlich höher sein. Wie Hamit Zeqiri erklärt, lassen sich viele bei der Fabia zu Integrationsthemen beraten. Fragen zum Job und zur Wohnung werden gestellt sowie familiäre Themen diskutiert. «Indirekt erfahren wir dann im Rahmen dieser Beratungen, dass den Menschen Diskriminierung und Rassismus widerfahren sind.»

«Einige Menschen sind resigniert.»

Hamit Zeqiri, Geschäftsführer Fabia

Darauf angesprochen, ob sie auch dazu beraten werden möchten, würden viele abwinken. Oft würden sie sagen, dass es ja doch nichts bringe. Viele hätten sich damit abgefunden, würden gar denken, dass Rassismus zu ihrem Dasein dazugehöre. «Einige Menschen sind resigniert, suchen den Fehler gar bei sich, wenn sie rassistisch angegriffen werden», sagt Zeqiri. Manche hätten gar das Gefühl, weniger wertvoll zu sein als der Mensch, der sie diskriminiert.

Wiederum andere haben Angst, darüber zu sprechen, dass sie ungerecht behandelt wurden, ihnen gar Unrecht widerfahren ist. Weil sie teilweise zu wenig Vertrauen und Angst davor haben, dass andere Ämter davon erfahren werden, sie nicht anonym bleiben. Diese Angst sei insbesondere bei Menschen mit unsicheren Aufenthaltsbewilligungen vorhanden.

Die Zahlen zeigen aber, dass sich immer mehr Schweizer Beratungsstellen mit rassistischen Vorfällen auseinandersetzen. Beziehungsweise dass sich immer mehr Menschen an solche Stellen wenden. 2008 waren es noch schweizweit 87 registrierte rassistische Vorfälle, 2019 waren es 352 Fälle – so viele wie noch nie. Auch die Anzahl spezialisierter Beratungsstellen hat stark zugenommen: 2008 waren es 5, vor einem Jahr 22 Stellen.

«352 registrierte rassistische Vorfälle sind immer noch sehr wenig und die Spitze des Eisbergs», sagt Zeqiri. Beispielsweise haben auch die drei von uns befragten dunkelhäutigen Luzernerinnen und Luzernern nirgendwo Hilfe gesucht.

2. Strukturellen Rassismus gibt’s auch in der Schweiz

Fakten zeigen: Secondos werden auf dem Schweizer Arbeits- und Wohnungsmarkt diskriminiert. Menschen, mit einer ausländischen Herkunft beziehungsweise einem ausländisch klingenden Namen müssen drei Mal mehr Bewerbungen einreichen, um zu einem Vorstellungsgespräch eingeladen zu werden. Das zeigte eine Studie der Universität Neuenburg vor einem Jahr.

Auch im Wohnungsmarkt werden Menschen abhängig davon, was für einen Namen sie haben, benachteiligt. Das zeigt die Studie des Bundesamts für Wohnungswesen BWO. 2018 hat eine Forschungsgruppe der Universitäten Genf, Neuenburg und Lausanne 11’000 Anfragen für Wohnungsbesichtigungen verschickt. Die einen Bewerbungen unterzeichneten die Forscherinnen mit «typisch einheimischen Namen», die anderen Unterlagen mit Namen, die auf eine Herkunft aus Deutschland, Frankreich, Italien, dem Kosovo oder der Türkei schliessen liessen.

Menschen mit einem kosovarisch oder türkischen Namen haben deutlich geringere Chance, zu einer Wohnungsbesichtigung eingeladen zu werden. So werden (eingebürgerte) Personen mit einem türkischen Namen im Schnitt 6,6 Prozent weniger häufig für eine Besichtigung eingeladen als eine Person mit einem Schweizer Namen.

«Das Gespräch verlief gut, bis ich plötzlich gefragt wurde, woher ich komme.»

Der Geschäftsleiter von Fabia, Hamit Zeqiri, hat aufgrund seines Namens schon ähnliche Erfahrungen gemacht. Wie er erzählt, hat er sich vor Jahren einmal telefonisch bei einer Verwaltung gemeldet, um Fragen zur Grösse und zum Balkon einer Wohnung zu stellen. «Das Gespräch verlief gut, bis ich plötzlich gefragt wurde, woher ich denn eigentlich komme», erzählt Zeqiri. Nachdem er erwidert habe, dass er aus dem Kosovo sei und wieso das wichtig sei, sei das Gespräch prompt beendet worden.

All das ist struktureller Rassismus. «Klar: Bei den Verwaltungen wird nirgends ein Papier mit der Weisung bereitstehen, in dem festgehalten wird, dass keine Ausländer geduldet werden.» Wenn aber eine Firma über Jahre hinweg Menschen mit Migrationshintergrund nicht berücksichtige und bewusst ablehne – nicht aufgrund von Kompetenzen, sondern aufgrund ihrer Herkunft – hat das System.

3. Die Gesellschaft redet Rassismus klein

Zahlreiche Kommentare unter Schweizer Medienberichten zeigen: Hans Muster glaubt nicht, dass es in der Schweiz Rassismus gibt.

«Die Bilder, die Menschen von Rassismus haben, sind unterschiedlich», sagt Zeqiri. Für den einen mag es erst so weit sein, wenn jemand bespuckt wird, physische Gewalt im Spiel ist. Rassismus in der Schweiz ist in vielen Fällen subtiler. Etwa das Nachfragen, ob man als Dunkelhäutige denn wirklich Schweizerin sei.

Immer wieder hört man von Menschen, die über rassistische Erfahrungen berichten, dass sie nicht ernst genommen werden. Und die Frage, ob es denn wirklich an der Hautfarbe gelegen habe, dass beispielsweise ein blöder Spruch gefallen sei.

Rassismus wird häufig kleingeredet. Doch wieso eigentlich? Die amerikanische Soziologin Robin DiAngelo schreibt in ihrem Bestseller «White Fragility», also zu Deutsch «Weisse Zerbrechlichkeit», dass es für viele schwer, gar unertragbar sei, über Rassismus zu sprechen. Etwas zu ignorieren und abzustreiten ist schliesslich einfacher.

Um aber ein Problem angehen und lösen zu können, braucht es das Zusammenspiel aller. So sieht man auf zahlreichen Schildern unter den Demonstranten auch die Worte: «White Silence Is Violence», also: «Weisses Schweigen ist gewalttätig.»

Auch die Fakten in der Schweiz zeigen, dass viele denken, dass Schweizer doch bestimmt keine Rassisten seien. In einer repräsentativen Erhebung des Bundesamts für Statistik wird festgehalten: Rund die Hälfte – nämlich 51 Prozent – betrachten Rassismus gegenüber Schwarzen eher als «Randphänomen». 45 Prozent stimmten der Aussage, dass sich schwarze Menschen «zu oft darüber beklagen, diskriminiert zu werden» zu.

Laut dem Bericht der Fachstelle für Rassismusbekämpfung 2018 sind es aber ein Grossteil der Bevölkerung, nämlich 59 Prozent, die Rassismus als «ernstes gesellschaftliches Problem» erachten. Und das stimmt Zeqiri immerhin ein wenig optimistisch.

4. Racial Profiling ist ein «gravierendes Problem»

Racial Profiling bedeutet, dass Menschen aufgrund einer Hautfarbe oder bestimmten ethnischen Zugehörigkeit kontrolliert werden.

Die Schweiz habe damit ein «gravierendes Problem» berichtete die «Sonntagszeitung», gestützt auf einen kürzlich veröffentlichten Report. Zudem fehle nach wie vor in vielen Kantonen ein unabhängiger Mechanismus, wo Betroffene sich über das Fehlverhalten der Polizei beschweren können.

Wie oft in Luzern jemand aufgrund seiner Herkunft oder Hautfarbe von der Polizei kontrolliert wird, lässt sich nicht sagen. Doch auch bei der Fabia kommt das Thema Racial Profiling nicht selten auf den Tisch. «Immer wieder macht jemand die Aussage, dass er den Eindruck habe, viel von der Polizei kontrolliert zu werden», sagt Hamit Zeqiri.

5. Warum jetzt die ganze Welt über Rassismus spricht

Der Tod von George Floyd hat eine weltweite Protestwelle ausgelöst. Auch in Luzern zogen Hunderte Menschen durch die Strassen. Hamit Zeqiri sagt, dass die Situation in der Schweiz – glücklicherweise – nicht mit derjenigen in den USA vergleichbar sei.

«Das achtminütige Video ist extrem schockierend: Wir alle sehen, wie ein Mensch langsam stirbt.»

Weil der Tod von George Floyd derart heftig sei, sei diese Protestwelle bis in die Schweiz gelangt, ist Zeqiri überzeugt. «Das achtminütige Video ist extrem schockierend: Wir alle sehen, wie ein Mensch langsam stirbt und das bei einem Polizeieinsatz» Die ganze Welt sieht es, kann nicht wegschauen. Es löst Empathie und Wut aus, weswegen Tausende auf die Strassen ziehen.

Unter dem Hashtag #blackouttuesday bringen auch Luzerner Künstler ihre Solidarität zum Ausdruck:

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6. Rassismus geht uns alle etwas an

«Ich habe oft erlebt, dass jemand sagt: Rassismus ist etwas, das uns nicht betrifft», sagt Zeqiri. «Aber Rassismus betrifft uns alle.» Jeder sei mindestens indirekt betroffen – sei es, weil die Kollegin Wurzeln im Ausland hat, die Cousine mit einem Mann aus einem anderen Land verheiratet ist.

An einem Anlass hat Zeqiri einmal eine Frau kennengelernt. Sie, ohne Migrationshintergrund, ihr Mann, gebürtig aus Afrika. Die Frau habe Zeqiri erzählt, wie ihre Kinder immer wieder von anderen gefragt werden, woher sie denn wirklich kommen würden. Implizit unterstellt, dass dunkelhäutige Kinder doch nicht von hier sein könnten. «Auch diese Haltung wird von vielen Betroffenen als rassistisch erlebt», sagt Zeqiri. Die Mutter habe das sichtlich verletzt.

Hier liest du, was dunkelhäutige Luzernerinnen in ihrem Alltag erleben:

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