Viel mehr häusliche Gewalt in Luzern? Das steckt dahinter
Ende November machten Aktivistinnen in Luzern aufs Thema Gewalt an Frauen aufmerksam. Neue Zahlen zeigen, wie sich häusliche Gewalt im Kanton entwickelt hat. (Bild: ida)
In den vergangenen Jahren schwankte die Anzahl Fälle häuslicher Gewalt im Kanton Luzern jeweils zwischen 320 und 420. Nun gibt es plötzlich deutlich mehr Fälle.
«Er sollte aufhören. Aber er wollte unbedingt Sex. Er hat meinen Kopf an die Wand geschlagen.» «Er kontrollierte mich rund um die Uhr.»
Aussagen wie diese prangten Ende November auf Plakaten, die Aktivistinnen an der Luzerner Pilatusstrasse um ihre Hälse trugen (zentralplus berichtete). Das Ziel der feministischen Plattform Perron F: Gewalt an Frauen sichtbar machen.
Und wie eine neue Interpellationsantwort der Regierung zeigt, waren die Aktivistinnen damit sehr aktuell. Denn gemäss neuen Statistiken der Luzerner Polizei sind die Fallzahlen zu häuslicher Gewalt aufs Jahr 2023 hin im Kanton deutlich angestiegen. Allerdings müssen die Zahlen genauer angeschaut werden.
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wieso die Fälle häuslicher Gewalt in Luzern so stark gestiegen sind
ob die Schutzplätze für die Opfer reichen
wer besonders oft getötet wird
Fast doppelt so viele Interventionen
Zwischen 2019 und 2022 schwankte die Anzahl Straftaten zu häuslicher Gewalt zwischen 320 und 420, wie die Luzerner Regierung in einer aktuellen Stellungnahme zu den Fragen der Mitte-Kantonsrätin Karin Stadelmann schreibt. 2023 verzeichnete die Luzerner Polizei hingegen 499 Straftaten. Im laufenden Jahr 2024 liegt dieser Wert Anfang Oktober bei 356. Beinahe verdoppelt hat sich die Zahl der Interventionen: 2022 musste die Polizei 406-, 2023 ganze 810-mal bei Fällen von häuslicher Gewalt eingreifen.
Allerdings deute dies nicht direkt auf einen sprunghaften Anstieg bei häuslicher Gewalt hin, erklärt die Regierung. 2023 passte die Luzerner Polizei ihre Zählart an. «Seither werden systematisch alle Interventionen in Fällen von psychischer, physischer und sexueller Gewalt in der Familie, in einer bestehenden oder ehemaligen Ehe oder Partnerschaft erfasst, unabhängig davon, ob danach eine Anzeige erfolgt», schreibt die Exekutive. Dies im Zuge der Istanbul-Konvention, mit der sich die unterzeichnenden Länder verpflichten, Frauen und Mädchen vor Gewalt zu schützen. Durch die neue Erfassungsart ist die Zahl der Interventionen «ohne Anzeige» von knapp 190 im Jahr 2022 auf rund 550 im Jahr 2023 gestiegen.
Zum Vergleich zieht der Regierungsrat die Statistik zu bezahlten Notunterkünften im Rahmen von Opferberatungen hinzu. Gemäss Bundesamt für Statistik wurden im Jahr 2022 schweizweit 2235 Aufenthalte in Notunterkünften finanziert, 2023 waren es 2176.
Nicht alle Opfer finden im Luzerner Frauenhaus Zuflucht
Nebst Fallzahlen wollte die Luzerner Mitte-Präsidentin Stadelmann auch wissen, wie es um die Schutzunterkünfte im Kanton Luzern steht. Im Gegensatz zu Notunterkünften sind deren Adressen nicht öffentlich bekannt, um Opfer vor akuten Bedrohungen zu schützen. Zudem haben die Opfer dort Zugang zu verschiedenen Ressourcen und Beratungen, um die Krisensituation zu meistern. Im Kanton Luzern stehen den Opfern dafür sieben Plätze im Frauenhaus zur Verfügung. Sind diese voll, bringt der Kanton Opfer in anderen Kantonen unter, primär im Kanton Zug.
Der Kanton Luzern schätzt, dass in den Jahren 2019 bis 2023 durchschnittlich 54 Prozent der Opfer, die eine Schutz- oder Notunterkunft gesucht haben, Schutz im Frauenhaus Luzern gefunden haben. 15 Prozent kamen im Haus Hagar der St.-Anna-Stiftung unter, 29 Prozent ausserkantonal und zwei Prozent an einem anderen Ort. Dass Opfer nicht immer im Frauenhaus unterkommen, sei dabei nicht nur dem Platzmangel geschuldet, schreibt die Regierung. Sondern es gibt auch Fälle, in denen der hohe Schutzstandard des Frauenhauses nicht gebraucht werde oder das Opfer lieber eine andere Unterkunft wünscht. Geschieht dies aber aus Platzmangel, versuchen die Frauenhäuser die Betroffenen, sobald ein Platz frei werde, in ihren Wohnsitzkanton zurückzubringen, beteuert der Kanton.
Grundsätzlich stünden in der Zentralschweiz genügend Plätze zur Verfügung, erklärt der Regierungsrat in seiner Antwort. «Diese stehen jedoch aufgrund einer Belegung mit Frauen aus anderen Regionen bei Bedarf nicht immer zur Verfügung», fügt er an. Obwohl die Schutzunterkünfte schweizweit «hoch» ausgelastet seien, gelinge es dem Kanton jeweils, eine passende Lösung für die Opfer zu finden.
Wer besonders oft getötet wird
Ebenfalls fragten die Interpellantinnen um Stadelmann nach dem Phänomen «Femizide». Das sind vorsätzliche Tötungen, bei denen das Motiv mit dem Geschlecht des Opfers zusammenhängt. Wenn also eine Frau getötet wird, nur weil sie eine Frau ist. Eine Auswertung davon sei jedoch schwer, so die Luzerner Regierung. Die polizeiliche Kriminalstatistik des Bundes weise die Daten dafür nicht gesondert aus. Allgemein hätten vollendete Tötungsdelikte in den letzten Jahren nicht zugenommen. In den vergangenen zwei Jahren habe es einen Fall gegeben, den die Luzerner Polizei klar als Femizid habe einordnen können. Der Luzerner Regierungsrat empfände es aber als wertvoll, wenn Femizide nach einheitlicher Definition in den polizeilichen Statistiken ausgewiesen wären.
Allerdings arbeite der Bund an einer grösseren Auswertung zu diesem Thema. Dabei untersucht der Bund die versuchten und vollendeten Tötungen zwischen 2019 und 2023 unter anderem auf Femizide. Den finalen Bericht erwartet der Kanton Luzern im November 2025. Mit der Auswertung wolle der Bund gezielt Risikofaktoren identifizieren und darauf basierend Präventionsmassnahmen ableiten. Neuere Statistiken zeigten gemäss der Regierung jedoch bereits: In der Schweiz werden überdurchschnittlich viele ältere Frauen getötet.
Bei der Frage nach den Massnahmen gegen häusliche Gewalt verweist die Regierung auf ihr kürzlich verabschiedetes Massnahmenpaket. Die elf Massnahmen enthalten Sensibilisierungskampagnen für die Bevölkerung sowie den Ausbau von Präventionsprogrammen für Schulen. Geplant ist zudem, dass die Arbeit mit gewaltausübenden Personen verstärkt wird und Fachpersonen aus Justiz, Polizei, Gesundheitswesen und Bildungsinstitutionen aus- und weitergebildet werden. Die Umsetzung der Massnahmen werde zudem durch den reaktivierten «Runden Tisch häusliche Gewalt» begleitet.
Schreibt über alles, was Luzern und Zug aktuell beschäftigt. Im ländlichen Luzern aufgewachsen, hat sie beim «Entlebucher Anzeiger» ihre Begeisterung für Lokaljournalismus entdeckt. Nach einem Studium in Medienwissenschaften und Englisch ist sie seit September 2021 bei zentralplus. Nebenbei absolviert sie derzeit die Diplomausbildung Journalismus am MAZ.