Luzern verzichtet auf Entschädigung – Betroffene enttäuscht

Verdingkinder: Grosse Entschuldigung, kein Geld

Oftmals wurden sie als sogenannte Verdingkinder auf Bauernhöfen und Handwerksbetrieben zur Arbeit gezwungen, erhielten aber keinen Franken. (Bild: Symbolbild: Adobe Stock)

Viele Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen oder Fremdplatzierungen kämpfen bis heute um Anerkennung – und für Gerechtigkeit. Nun folgt eine offizielle Entschuldigung aus Luzern. Doch bei der Forderung nach Wiedergutmachung bleibt die Regierung hart.

Theresa Rohr-Steinmann ist in Luzern aufgewachsen. Sie gehört zu den vielen Opfern sogenannter fürsorgerischer Zwangsmassnahmen oder Fremdplatzierungen in der Schweiz. Als Kind hörte sie Sätze wie «Du gosch jetzt go schaffe, Meitschi, du hesch gnue choschtet», wie sie zentralplus erzählte.

Die Luzernerin, die als Verdingkind missbraucht wurde, forderte Gerechtigkeit. Zwar hat der Bund das Unrecht der Betroffenen anerkannt und zahlt einen Solidaritätsbeitrag in Höhe von 25’000 Franken. Kanton und Gemeinden leisten keine Entschädigung – obwohl sie hauptschuldig sind.

Rohr-Steinmann kritisiert diese Ungleichbehandlung. Gemeinsam mit anderen Betroffenen hat sie sich an lokale Politikerinnen gewandt, um eine Anerkennung der Mitschuld und zusätzliche Entschädigungen zu erreichen. Zwischen November 2024 und Januar 2025 haben mehrere Betroffene von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen beim Kantons- sowie beim Regierungsrat je eine gleichlautende Petition eingereicht.

Darin fordern sie, dass der Kanton Luzern eine gesetzliche Grundlage für zusätzliche Solidaritätsbeiträge prüft.

Umfassende Entschuldigung blieb bislang aus

Am Mittwoch hat nun die Luzerner Regierung auf die Forderungen reagiert. In ihrer Stellungnahme drückt sie zwar ihr Bedauern über das begangene Unrecht aus und bittet die Betroffenen offiziell um Entschuldigung. Eine Entschädigung lehnt sie jedoch ab.

Wie die Regierung ausführt, hat sie sich bereits 2012 öffentlich bei ehemaligen Heimkindern entschuldigt. Auch verweist sie auf bestehende Angebote wie die kantonale Opferberatung oder Unterstützung bei der Aktenbeschaffung durch das Staatsarchiv. Mehr als 800 Personen hätten bisher die Opferberatungsstelle aufgesucht, über 900 Personen sich beim Staatsarchiv gemeldet, so die Regierung.

Und 2012 ist der vom Kanton Luzern in Auftrag gegebene «Bericht Kinderheime im Kanton Luzern im Zeitraum von 1930-1970» erschienen. Er beleuchtet ein Teilgebiet der Geschichte fürsorgerischer Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen.

Trotzdem bleibt eine umfassende Entschuldigung an alle Opfer fürsorgerischer Zwangsmassnahmen im Kanton Luzern bislang aus. Das will die Luzerner Regierung nun nachholen – in Abstimmung mit der kantonsrätlichen Kommission Gesundheit, Arbeit und soziale Sicherheit (GASK).

Der Regierungsrat bedauere «die damaligen Vorkommnisse und die damit verbundenen psychischen und physischen Verletzungen zutiefst», heisst es in der Mitteilung. «Für das Leid, das den Betroffenen angetan wurde, bitte ich die Opfer im Namen der Luzerner Regierung aufrichtig und umfassend um Entschuldigung», wird Regierungsrätin Michaela Tschuor, Vorsteherin des Gesundheits- und Sozialdepartements, zitiert. Was damals geschehen sei, dürfe nie wieder geschehen.

Deswegen ist der Kanton gegen kantonale Entschädigungen

Doch warum keine zusätzlichen Zahlungen an die Betroffenen? Die Regierung verweist darauf, dass sich die Petitionärinnen auf den Kanton Schaffhausen und die Stadt Zürich beziehen. Diese sehen vor, eine Regelung für einen zusätzlichen Solidaritätsbeitrag an Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen zu schaffen oder eine solche bereits umzusetzen. «Dadurch werden nun Betroffene aus einer bestimmten Gemeinde oder einem einzelnen Kanton eine höhere Entschädigung erhalten als andere und es entsteht eine neue Ungleichbehandlung», schreibt der Kanton.

«Die Regierung hat uns zugehört, war betroffen, berührt – ich meine, sogar Tränen gesehen zu haben.»

Theresa Rohr-Steinmann

Die GASK zeigt sich gespalten: Zwar erkennt sie an, dass eine zusätzliche Zahlung ein wichtiges Zeichen der Anerkennung und Würdigung der Opfer wäre. Die Mehrheit der Kommission sprach sich jedoch dagegen aus – mit dem Argument, dass eine kantonale Lösung die Ungleichbehandlung sogar verschärfen würde. Zusätzliche Entschädigungszahlungen stempelt sie als «Verschärfung der neu entstandenen Ungleichbehandlung durch einen kantonalen Alleingang bei der Zahlung von Entschädigungen» ab.

Stattdessen empfiehlt sie dem Regierungsrat, sich über die Konferenz der Sozialdirektorinnen und -direktoren (SODK) für eine schweizweit einheitliche Lösung einzusetzen.

So war der Austausch mit Betroffenen

Theresa Rohr hat zusammen mit drei Mitbetroffenen die Petition eingereicht und durfte im Dezember vorsprechen. Das Treffen ist ihr in guter Erinnerung geblieben. «Wir wurden mit offenen Armen empfangen. Die Regierung hat uns zugehört, war betroffen, berührt – ich meine, sogar Tränen gesehen zu haben. Es war würdevoll, das hat uns gutgetan. Auch die Entschuldigung empfinde ich als ehrlich.»

Die junge Theresa Rohr-Steinmann (Zweite von rechts, unten) im Kreise ihrer Geschwister. Wenig später wurden die Kinder getrennt und verdingt. (Bild: zvg)

Seit 2004 hat sie sich für eine Entschädigung eingesetzt. 2016 sprach der Bund schliesslich Solidaritätsbeiträge. Die 79-Jährige, die im engen Austausch mit anderen Betroffenen steht, erinnert sich an berührende Momente: Menschen, die sich erstmals ein richtiges Gebiss oder ein Hörgerät leisten konnten. Andere kamen damit aus einer finanziellen Notlage. «Solche Geschichten gehen jedes Mal unter die Haut.»

«Ich sehe mich nicht mehr als Opfer»

Sie ist über die nun ablehnende Haltung der Sozialkommission des Kantonsrates enttäuscht. «Natürlich hätte ich mir gewünscht, dass Luzern nachzieht. Für viele wäre das ein starkes Zeichen gewesen. Dass der Kanton darauf verzichtet, kann für manche wie ein Deckel über das Thema wirken. Ich kann jedoch auch nachvollziehen, dass die Auszahlung kantonaler Solidaritätsbeiträge besser überkantonal geregelt werden sollte, um Ungleichheiten zu vermeiden.»

Doch Theresa Rohr blickt nach vorne: «Mein Anliegen ist nun, dass vom Kanton Luzern in der Konferenz der Sozialdirektorinnen und -direktoren (SODK) auf das klare Ziel der raschen Auszahlung eines einheitlichen kantonalen Solidaritätsbeitrags bewusst hingewirkt werden sollte.» Sie fände es falsch, wenn Schaffhausen oder Zürich – die bereits mit der Auszahlung vorgeprescht sind – nun zurückruderten. «Ich gönne es jedem Betroffenen, der diese Beiträge bekommt.»

Theresa Rohr hat ihre Vergangenheit aufgearbeitet. «Ich sehe mich heute nicht mehr als Opfer, sondern als Betroffene.» Das wünsche sie allen – verstehe aber auch jede und jeden, der noch immer mit den Folgen ringt und unter der Vergangenheit leidet.

Hier finden Betroffene Hilfe

Wer Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und/oder Fremdplatzierungen geworden ist, kann sich an die Opferberatungsstelle des Kantons Luzern wenden: 041 228 74 00 oder hier.

Betroffene haben Recht auf Einsicht in die sie betreffenden Unterlagen. Das Staatsarchiv Luzern hilft: 041 228 53 65 oder hier.

Betroffene haben Anrecht auf einen eidgenössischen Solidaritätsbeitrag in der Höhe von 25’000 Franken. Gesuche können hier eingereicht werden.

Verwendete Quellen
  • Medienmitteilung des Kantons Luzern
  • Telefonat mit Theresa Rohr-Steinmann

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