Gesellschaft
Jahrestag der Ukraine-Invasion

Ukrainerinnen in Luzern: Geschichten aus dem Krieg

Tatiana Korotkykh (links) und Victoria Melnikova wohnen seit knapp einem Jahr in der Schweiz. (Bild: kap)

Aus dem Kriegsgebiet in die Zentralschweiz geflohen: 2700 ukrainische Flüchtlinge leben in Luzern. Wie geht es ihnen nach einem Jahr Krieg in der Heimat? zentralplus hat in der Stadt Luzern lebende Ukrainerinnen getroffen und mit ihnen über ihr Leben vor und nach der Invasion gesprochen.

Es ist ein ruhiger, friedlicher Vormittag im Luzerner Maihof-Quartier. Vögel zwitschern aus allen Richtungen, während die Sonne das beige Gebäude an der Libellenstrasse 25 erstrahlen lässt. In diesem Haus befindet sich das Büro der Temporären Unterkunft Libellenstrasse. Seit März 2022 wohnen hier und in anderen Gebäuden in der Strasse Geflüchtete aus der Ukraine in rund 80 Wohnungen (zentralplus berichtete).

Im Sonnenlicht ist unschwer zu erkennen, dass am Haus der Zahn der Zeit nagt. Die Farbe der morschen, bordeauxroten Fensterläden beginnt sich zu lösen und die Türe ist zerkratzt. Lange wird es die Gebäude nicht mehr geben, darauf weisen die Baugespanne hin, die rund um das Gebäude in die Höhe ragen. Noch wohnen rund 300 Geflüchtete in den Wohnungen. Wie lange sie noch bleiben können, ist unklar. Dies hängt einerseits davon ab, wann es für das Bauprojekt der Wohnbaugenossenschaft Luzern, der die Gebäude gehören, grünes Licht gibt. Andererseits auch davon, wann der Krieg in der Ukraine endet.

Ukrainerinnen in Luzern sind gut vernetzt

Genau ein Jahr ist es her, seitdem Russland in die Ukraine einmarschiert ist. Ein Ereignis, dass der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz bereits kurz nach der Invasion als «Zeitenwende» bezeichnete. Wie prägt dieses Ereignis das Leben der in Luzern lebenden Ukrainerinnen?

Im kleinen Park vor dem Büro sprechen eine Ukrainerin und ein Ukrainer miteinander. Letztere ist gerade mit ihrem kleinen Hund auf dem Spaziergang. Ihr Name ist Tatiana Korotkykh.

«Wir Leute aus der Ukraine sind glückliche Leute, solange uns niemand zu nahe tritt.»

Victoria Melnikova, Ukrainerin

Zwar kann Korotkykh verständlich Englisch sprechen, aber sie möchte noch jemand anderes für ein Gespräch finden. Es wird sich als einfach erweisen. Denn die in Luzern wohnhaften Geflüchteten scheinen gut vernetzt zu sein. Korotkykh zeigt einen Gruppenchat eines Messenger-Dienstes. Über 1000 Geflüchtete sind in diesem Chat drin. Dies bei insgesamt 2700 in Luzern lebenden Geflüchteten aus der Ukraine.

Drei Personen erscheinen nachmittags. Neben Tatiana Korotkykh (47) und Victoria Melnikova (28) auch Alisa Ryzhkova (24).

Vor Kriegsausbruch in Luzern in den Ferien – und sogleich geblieben

Die Geschichte von Alisa Ryzhkova tönt verrückt: Sie stammt aus Charkiw, einer Grossstadt rund 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt. Ryzhkova ist bereits Anfang Februar 2022 in die Schweiz und nach Luzern gekommen, wie sie erzählt – ferienhalber. Der Flieger zurück in die Ukraine hätte am 25. Februar abheben sollen – einen Tag nach der Invasion also. Die Fluggesellschaft hat den Flug immer wieder verschoben und schliesslich annulliert. Nun ist Ryzhkova hier, studiert an der Universität Luzern und ist als Werkstudentin bei einem Industriekonzern angestellt.

Korotkykh und Melnikova sind zum Zeitpunkt der Invasion hingegen noch in der Ukraine. An den 24. Februar 2022 mögen sich die beiden noch gut erinnern. Melnikova stammt aus der Kleinstadt Butscha, die später weltweit aufgrund massenhafter Tötungen an Zivilisten bekannt wurde. Sie wacht aufgrund eines Anrufes eines Freundes auf und hört danach Explosionen. Sie beginnt sofort ihre Sachen zu packen, wie sie sagt.

Korotkykh selbst wacht an jenem Morgen aufgrund der heulenden Sirenen auf. «Mein Mann sagte mir, ich sollte fliehen», sagt sie. Die 47-jährige Mutter zögerte zuerst, entscheidet sich dann aber doch für eine Flucht. Zuerst flüchtet sie in den Westen der Ukraine. Doch aufgrund der Fluchtbewegungen in den Westen der Ukraine findet sie kaum eine Unterkunft. Nach einem Anruf von Bekannten aus der Schweiz setzte sie sich zusammen mit ihrer heute 17-jährigen Tochter in ihr Auto und reiste in die Schweiz. Ihren Ehemann lässt Korotkykh in der Ukraine zurück, genauso wie ihren Bruder. Letzterer kämpft seit dem ersten Tag nach der Invasion gegen die russische Armee.

Eine Russin nimmt eine Ukrainerin bei sich in Luzern auf

Auch Melnikova floh zuerst von ihrer Heimatstadt Butscha in Richtung Westukraine, zusammen mit ihrer heute achtjährigen Tochter. «Ich fühlte mich in der Westukraine aber nicht genug sicher», sagt sie. Von dort aus flüchten sie und ihre Tochter zuerst in das benachbarte Polen. Doch auch sie findet keine Wohnung. Mit dem Zug gelangte sie schliesslich via Deutschland in die Schweiz.

An Einzelheiten dieser Zugreise kann sie sich nicht mehr erinnern, sagt Melnikova. «Zu viel Stress» war es, sagt sie. Auf der Zugfahrt traf sie jedoch eine Mutter mit ihrer Tochter, die ebenfalls aus Butscha kamen. Wieso Melnikova in die Schweiz reiste? Sie hatte eine Bekannte in der Schweiz, die in der Immobilienbranche arbeitete. «Später startete ich einen Aufruf auf Facebook, in dem ich schrieb, dass ich Arbeit suche.»

Daraufhin meldet sich eine in Luzern wohnhafte Frau – eine Russin. Bei dieser wohnt Melnikova zusammen mit Tochter während einer Woche. Dass die Ukrainerin zusammen mit einer Russin wohnte, stellte für sie kein Problem dar, da diese den Krieg ebenso ablehnte: «Ich trenne Menschen nicht nach Nationalität», wie sie sagt. Die Russin half der Ukrainerin, eine Wohnung zu finden. Schliesslich haben sie eine Gastfamilie gefunden und Melnikova zog zusammen mit ihrer Tochter und der Familie aus Butscha zusammen, die sie auf der Flucht kennenlernte.

Verein für Flüchtlingshilfe ins Leben gerufen

Melnikova hat zusammen mit Ryzhkova bereits kurz nach der Ankunft in Luzern den Verein für Flüchtlingshilfe «LUkraina» ins Leben gerufen, den die beiden Frauen co-präsidieren. Sie bieten dort etwa Sprachkurse und psychologische Hilfe für Geflüchtete an. Korotkykh leitet dort Handarbeitskurse. Vor ihrer Flucht besass Korotkykh in ihrer Heimatstadt einen eigenen Laden für Handgemachtes. Der Verein auf dem Krienser Bell-Areal sei äusserst erfolgreich, erzählt Ryzhkova. Die Nachfrage sei jedoch stets höher als das Angebot, erzählt sie weiter.

«Ich weiss, es hört sich doof an. Aber ich hoffe, dass der Krieg im Sommer vorbei ist, damit meine Tochter nach den Sommerferien in die Schule zurückkehren kann.»

Victoria Melnikova

Die Frauen scheinen bestens vernetzt und engagiert zu sein. Auch Luzern, die Stadt, die seit nunmehr einem Jahr ihr Zuhause ist, mögen sie, wie sie sagen. Gleichwohl sagen sie dezidiert und unisono, dass sie wieder zurück in die Ukraine möchten. Wann dies wieder realistisch sein könnte, wollen sie nicht prognostizieren. «Ich weiss, es hört sich doof an. Aber ich hoffe, dass der Krieg im Sommer vorbei ist, damit meine Tochter nach den Sommerferien in die Schule zurückkehren kann», sagt Melnikova.

Seit Kriegsausbruch gemerkt, wofür man alles dankbar sein könne

Angesprochen auf ihr Leben in der Ukraine vor dem Kriegsausbruch, wird Melnikova nostalgisch: «Es war ein wunderbares Leben. Ich hatte den besten Beruf, den es gibt. Dabei wusste ich nicht einmal, welch tollen Job ich hatte.» Melnikova war Assistentin der Geschäftsleitung eines Einzelhandelsunternehmens. Nach dem Kriegsausbruch habe sie gemerkt, wofür sie alles dankbar sein könne.

Die Geflüchteten erzählen allesamt in relativ abgeklärter Manier über ihre Erlebnisse und ihr Leben. Kurz vor Schluss wird Melnikova dennoch emotional. Die Frau aus Butscha spricht kurz über das Massaker, dass sich in ihrer Heimatstadt ereignet hat. «Ich war schockiert darüber, dass Menschen im 21. Jahrhundert noch so brutal und grausam sein können.» Und weiter sagt sie: «Wir Leute aus der Ukraine sind glückliche Leute, solange uns niemand zu nahe tritt.»

Verwendete Quellen
  • Augenschein an der Libellenstrasse
  • Persönliches Gespräch mit Ukrainerinnen
  • Medienmitteilung des Kantons mit aktuellen Zahlen zu Geflüchteten in Luzern
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