Totgeburten überfordern Eltern und Ärzte
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Statt das Wunder des Lebens, bodenlose Trauer infolge Totgeburt. Das erleben rund 600 Paare in der Schweiz jährlich. Die Folgen für die Betroffenen sind oftmals gravierend. Auch weil das Thema noch immer ein Tabu ist.
Um die 600 Totgeburten und Spätaborte gibt es jährlich in der Schweiz. Gemessen an den rund 88'000 Geburten pro Jahr sind das 0,68 Prozent. Claudia Meier Magistretti, Professorin an der Hochschule Luzern – Soziale Arbeit, hat unlängst eine Studie zu diesem Thema mitpubliziert. Und doch betreffe jedes dieser Ereignisse «eine Vielzahl von Personen» und führe mitunter zu langfristigen psychischen Schäden: von posttraumatischen Belastungsstörungen über Depressionen bis hin zu anderen «manchmal über viele Jahre anhaltenden» psychischen Problemen.
Dies auch weil das Thema Totgeburt nach wie vor tabuisiert und «ins Private gedrängt» werde. «Das ist problematisch. Die Tabuisierung von Totgeburten macht die Situation der betroffenen Eltern noch schwieriger», sagt die Psychologin Meier Magistretti.
Mütter fühlen sich zu wenig vorbereitet
Die fehlende Sensibilisierung führt laut den Studienautorinnen und -autoren nicht nur dazu, dass betroffene Eltern unzureichend auf Totgeburten vorbereitet sind. «Fast alle befragten Mütter haben berichtet, dass ihnen die Verarbeitung dieser Situation leichter gefallen wäre, wenn sie besser auf ein solches Szenario vorbereitet gewesen wären», so Meier Magistretti. Dies wirkt sich auch auf das Betreuungspersonal aus.
Denn die Betreuung von betroffenen Eltern orientiere sich oftmals zu stark an der Organisationslogik des Spitals statt an den Bedürfnissen der Eltern. Einige Spitäler und Regionen würden zwar Richtlinien kennen. Mehrheitlich aber fehlten solche. Die Studienautorinnen kommen deshalb zum Schluss: Für Ärzte, Hebammen und Co gebe es in der Schweiz «nur wenig unterstützende Instrumente».
«Spitäler müssen in solchen Extremfällen kontinuierliche psychologische und soziale Unterstützung anbieten.»
Claudia Meier Magistretti, Professorin an der Hochschule Luzern
Dabei könnte man mit geringen Mitteln schon grosses Leid bei den Betroffenen vermindern. Etwa indem man möglichst empathisch und rücksichtsvoll informiert. Indem Patientenakten so markiert werden, dass auch beim kurzen Überfliegen klar wird, welches Schicksal die betreffende Frau erlitten hat. Indem den schutzbedürftigen Betroffenen speziell abgetrennte, private Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt werden. Indem Spitäler ihre Abläufe genau definieren, damit in solchen Extremsituationen keine Körper von toten Babys verloren gehen – was bedauernswerterweise auch schon passiert sei, so Meier Magistretti.
Solche und weitere Massnahmen lassen sich laut Meier Magistretti in eine ebenso simple wie wichtige Grundformel für einen besseren Umgang mit Totgeburten giessen: «Spitäler müssen nicht nur die medizinische Versorgung gewährleisten, sondern auch kontinuierliche psychologische und soziale Unterstützung in solchen Extremfällen anbieten.»
Schwierig auffindbare Betroffene – und untererforschte Männer
Die Tabuisierung des Themas ist nicht nur für betroffene Eltern und Spitalangestellte ein Problem, sondern hat auch die vier Studienautorinnen und -autoren vor Herausforderungen gestellt. Denn die Suche nach Direktbetroffenen gestaltete sich als «sehr schwierig», besonders im Tessin. Über Selbsthilfegruppen und andere Umwege aber fanden die Studienautoren letztlich doch noch zu ihren 20 Interviewpartnern. Weiter hat die Studie auch Einschätzungen und Erfahrungen von rund zwanzig Fachleuten sowie fünf Krankenkassenvertretern berücksichtigt.
«Die Rolle des Vaters ist noch kaum erforscht.»
Claudia Meier Magistretti, Professorin an der Hochschule Luzern
Geht es nach dem Willen der Studienautorinnen, soll ihre Arbeit Grundlage sein, um einerseits die «breite Öffentlichkeit» für das Thema Totgeburt zu sensibilisieren und andererseits bestehende Versorgungslücken zu schliessen. Dabei schwebt Meier Magistretti etwa eine spezielle Website vor, auf der Betroffene, Fachpersonen und Institutionen auf gebündeltes Know-how zurückgreifen können. Daneben bräuchte es auch einen Pikettpsychologiedienst, in welchem fähige Experten verzeichnet sind. Und zu guter Letzt bedürfte es schweizweit verbindlicher Richtlinien, wie Fachleute im Falle einer Totgeburt vorzugehen haben.
Daneben hat die Studienleiterin Meier Magistretti noch eine Forschungslücke ausgemacht: «Die Rolle des Mannes, respektive des Vaters, im Fall einer Totgeburt ist noch kaum erforscht. Da gibt es noch einen grossen Nachholbedarf.»
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