Luzern/Zug: Jagdgründe sind umstritten

Todesurteil für 120 von 300 Hirschen – Experte zweifelt an Notwendigkeit

Ein Entlebucher Hirsch sucht in einer Schlammmulde nach Nahrung. Geht es auch ihm an den Kragen?

(Bild: zVg)

Wildtiere knabbern gerne an Knospen und Trieben junger Bäume. Auch der Kanton Luzern will deshalb das Wachstum seines Hirschbestandes bremsen und 120 von 300 Hirschen abschiessen lassen. Aber wie gravierend sind die angerichteten Schäden wirklich? Für einige Fachleute sind für den Baumbestand andere Faktoren wichtiger.

Das Thema «Wald und Wild» hat in den Medien gerade ziemlich Konjunktur. «Es gibt zu viele Rehe, sie zerstören den Schweizer Wald» war im September in der NZZ am Sonntag  zu lesen. «Luzern bläst zur Jagd auf Hirsche», titelte das SRF-Regionaljournal Zentralschweiz im August. Und Ende Oktober nahm sich auch noch die Rundschau SRF mit dem Beitrag «Krach im Wald» des Themas an.

Rothirsche

Ein Rothirsche in seiner vollen Pracht.

(Bild: Wildnispark Zürich)

Der Befund scheint klar: Wildtiere wie die Gämse, das Reh oder der Hirsch verursachen im Schweizer Wald Verbissschäden mit gravierenden Folgen. Die Verminderung von Wildschäden gilt denn auch ganz generell als einer der Gründe für die Jagd. Gemäss Peter Ulmann, Abteilungsleiter Natur, Jagd und Fischerei des Kantons Luzern, können zu viele Hirsche aufgrund der von ihnen angerichteten Verbiss- und Fegeschäden die Waldverjüngung bei der Tanne gefährden. Der Kanton Luzern setzte sich deshalb vor der diesjährigen Jagdsaison zum Ziel, den bestehenden Hirschbestand nicht weiter anwachsen zu lassen. In diesem Herbst sollen deshalb von den gegenwärtig rund 300 Hirschen im Kanton deren 120 abgeschossen werden.

Entlebucher Hirsche müssen bangen

Peter Ulmann ergänzt, dass eine Reduktion des Hirschbestandes nur dort erfolgen könne, wo bereits grössere Vorkommen vorhanden sind. Konkret sei dies etwa im Raum Entlebuch der Fall. Hingegen sei eine jagdliche Nutzung der Hirsche bei Einzelvorkommen kaum möglich. Dies treffe zum Beispiel auf das nördliche Hinterland oder das Seetal zu. Die Jagd auf Hirsche ist im Kanton Luzern noch bis Mitte Dezember offen. Zahlen aus der laufenden Jagd werden im Kanton Luzern nicht publiziert.

«Der Wald als Vegetationsform wird durch das Wild sicher nicht gefährdet.»

Harald Bugmann, ETH Zürich

Im Kanton Zug würden vor allem das Reh- und Rotwild zu Verbissschäden beitragen, sagt Raffaella Albione vom Amt für Wald und Wild des Kantons Zug. Deshalb würden jedes Jahr im Frühjahr der Rehwildbestand und der Zustand der Verjüngung des Waldes erhoben. Auf Basis dieser Daten werde dann in den Jagdvorschriften die minimalen und die maximalen Abschusszahlen festgelegt.

Hirsche im Entlebuch

Ein Hirschrudel ist im Entlebuch unterwegs.

(Bild: zVg)

Differenzierte Sicht des Bundes

Wie gravierend aber sind die Schäden, welche Wildtiere im Jungwald anrichten können, wirklich? Das Bundesamt für Umwelt (BAFU) differenziert. Die oft geäusserte Ansicht, dass Verbissschäden für die Waldverjüngung immer ein grosses Problem darstellen, sei in dieser pauschalen Form nicht haltbar. Wald-Wild-Probleme kämen keinesfalls überall und flächendeckend vor, meint Claudine Winter vom BAFU. Vielenorts sei das Gleichgewicht zwischen Wald und Wild intakt. Zudem hänge der Einfluss des Wildes auf den Wald von verschiedenen Faktoren ab. Nebst der Wilddichte würden etwa auch die Qualität des Lebensraumes oder Störungen durch Freizeitaktivitäten eine Rolle spielen.

«Die Forst-Seite ist hochgradig frustriert»

Für Harald Bugmann, Professor für Waldökologie an der ETH Zürich, gibt es in der Schweiz nicht eigentlich ein «Wald-Wild»-Problem. Für den Wald an sich sei das Wild kein Problem: «Der Wald als Vegetationsform wird durch das Wild sicher nicht gefährdet.» Bugmann spricht von einem «Forst-Jagd»-Problem. Weil der Wald aber beispielsweise auch dem Schutz vor Steinschlag und Lawinen diene, sei es wichtig, den Einfluss des Wildes in Grenzen zu halten. Die Verbissproblematik werde seit mindestens 40 Jahren diskutiert und an vielen Orten sei weiterhin keine Lösung in Sicht: «Die Forst-Seite ist deshalb hochgradig frustriert.»

«Wenn der Verbiss aber so stark wird, dass so gut wie alle Bäume einer bestimmten Art eingehen, so ist das zu viel.»

Harald Bugmann, ETH Zürich

Zwar sei der Verbiss gemäss Bugmann nur ein Faktor unter mehreren, welche dazu beitragen, dass junge Bäume absterben: «Wenn der Verbiss aber so stark wird, dass so gut wie alle Bäume einer bestimmten Art eingehen, so ist das zu viel.» Aus diesem Grunde befürwortet Bugmann höhere Abschusszahlen. Dabei müsse jeder Wildraum differenziert betrachtet werden. Allerdings reiche es nicht, den Bestand einfach um einen bestimmten Prozentsatz zu reduzieren. Wichtig sei, dass die Anzahl Tiere später auch auf dem entsprechend tiefen Niveau gehalten werde. Dazu brauche es aber unter Umständen einen hohen Effort.

Licht ist wichtiger als Bissschäden

Werner Suter, Mitarbeiter der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WLS) Birmensdorf mit Forschungsschwerpunkt «Ökologie der Lebensgemeinschaften», weist darauf hin, dass Wildtiere seit jeher zum Wald gehören. Deshalb seien Bäume daran angepasst, trotz Verbiss überleben zu können. «Allerdings ist gut belegt, dass die Aufwuchsgeschwindigkeit von jungen Bäumen unter Verbiss markant verlangsamt wird. Weil einzelne Baumarten stärker verbissen werden als andere, sind etwa Weisstannen im Nachteil. Die Frage ist aber, wie sich dies langfristig auswirkt.»

Ein Reh stolziert im Entlebuch durch den Wald.

Ein Reh stolziert im Entlebuch durch den Wald.

(Bild: zVg)

Laut Suter ist für das Hochkommen eines Baumes genügend Lichteinfall entscheidender als der Wildverbiss. Dicht stehende Jungbäume konkurrenzierten sich und so sei Lichtmangel eine der wichtigsten Ursachen für deren Absterben. Für das Eingehen von jungen Bäumen gebe es zudem viele weitere Gründe. In den Alpen etwa seien Schneedruck und Pilzinfektionen sehr bedeutsam. Eine Studie bei Davos an 25’000 jungen Bäumchen habe genau dies nachgewiesen. «Bei der Fokussierung auf das Thema Verbiss vernachlässigt man diese anderen Gründe aber meistens.»

Wird das Problem überhöht?

Gemäss Suter gilt es vermehrt die langfristige Entwicklung eines Waldes im Auge zu behalten. Die Verjüngung des Waldes sei natürlicherweise ein räumlich und zeitlich gestaffelter Prozess. «Wenn bestimmte Bedingungen wie Wasserversorgung und Lichteinfall gesichert sind, werden auch zu einem späteren Zeitpunkt immer wieder weitere Bäumchen aufkommen. Damit ein nutzbarer Hochwald oder ein funktionierender Schutzwald entstehen können, braucht es nicht zwangsläufig dichte Jungwuchsflächen.»

«Der Wald kann sich selbst bei hohen Wildtierdichten problemlos verjüngen.»

Werner Suter, Eidg. Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft

Werner Suter steht deshalb Appellen, dass mehr Wildtiere geschossen werden müssten, kritisch gegenüber. «Das entspricht immer der schnellen Forderung nach Lösung eines ‹Problems›, welches weder sprachlich noch inhaltlich richtig definiert ist.» In der Schweiz gebe es in der Regel nur an lokalen Stellen grössere Ansammlungen von Huftieren. Solche kleinräumige Massierungen könne man aber auch mit vermehrten Abschüssen kaum verhindern. «Zudem haben Untersuchungen gezeigt, dass sich der Wald selbst bei hohen Wildtierdichten wie im Schweizerischen Nationalpark problemlos verjüngen kann.»

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