Mitten in der Stadt Luzern

TikToker Kevin imitiert alberne Figuren – so verdient er dabei

Der Luzerner legt sich ins Zeug – 300 Leute spenden ihm dafür online Geld. (Bild: kok)

Kevin hüpft für Geld in der Luzerner Altstadt hin und her. Hunderte Leute schauen ihm dabei auf der Online-Plattform TikTok zu. Peinlich ist ihm das nicht – ausser in einer Situation.

In der Stadt Luzern ist Kevin bereits berühmt. «Ey whats up», ruft ihm ein Jugendlicher in Bomberjacke zu, der 27-Jährige nickt lächelnd zurück. Mit seinem hellbraunen Muskelanzug und einer roten Nikolausmütze, mitten in der wuseligen Hertensteinstrasse im Zentrum der Altstadt. An einer Hausecke stellt er seinen E-Roller ab, klemmt auf den Lenker ein Stativ, darin sein Handy.

Er entfernt sich zwei Meter von der Kamera und springt einige Male in die Luft. «Ich wärme mich immer auf», ruft er. «Vielleicht schickt jemand eine Galaxy, dann muss ich einen Backflip machen.»

Dann geht er zurück ans Handy und öffnet seinen Stream auf der Online-Plattform TikTok. Dort heisst Kevin «eywhatsap». Direkt schauen ihm 60 Personen live zu, schnell werden es 300. Für sie imitiert Kevin eine Computerspielfigur – einen «Non-player character» (NPC). Passanten sehen einen Mann in Kostüm, der in die Luft springt, «Join my team» ruft oder mit verzerrtem Gesicht einen Dinosaurier nachahmt.

Seit vier Wochen ist der junge Luzerner jeden Tag mehrere Stunden in der Stadt unterwegs, um auf TikTok bekannt zu werden. Oder wie er lachend sagt: «Die Leute wollen sehen, wie ich mich in der Öffentlichkeit zum Deppen mache.» Der Trend, dem er folgt, gehört zu dem wohl Skurrilsten, was die sozialen Medien seit einiger Zeit zu bieten haben. Nun auch in der Schweiz.

NPC werden mit echtem Geld in Livestreams bezahlt

Als NPC werden in der Gamingwelt Figuren in Computerspielen bezeichnet, die nicht gesteuert werden und automatisierte Dialoge mit den Spielerinnen führen. Ungefähr 2023 begannen amerikanische TikToker, in Live-Streams diese Figuren nachzuspielen. Die künstliche Mimik und Gestik gefiel den Zuschauern, ein Geschäftsmodell entstand.

In der App können Nutzerinnen mit echtem Geld digitale Geschenke kaufen und Streamern live schicken. Es gibt Rosen, Galaxien und viele «Gifts» mehr. Am teuersten ist das «Universe» – das Symbol kostet rund 500 Dollar. Die kleinsten Geschenke kosten weniger als einen Rappen.

Auf diese Geschenke reagieren NPC-Streamer live im Stream. Für jede Rose ein Zwinkern. Für jede Münze einen Sprung, und im Fall von Kevin für jede Galaxie einen Rückwärtssalto. Die Reaktionen denken sich die TikToker selber aus. Rund 20 Reaktionen hat Kevin im Repertoire – laufend werden es mehr.

Fürs teuerste Geschenk auf TikTok springt Kevin in die Reuss

Jetzt stellt sich ein 13-Jähriger neben Kevin, der gerade wie eine Katze miaut, weil ihm einer seiner Zuschauer das passende «Gift» geschickt hat. Der Junge sieht Kevin fast täglich auf seiner TikTok-Startseite, erzählt er geradeheraus. Manchmal in der Altstadt, am Bahnhof oder auch in der Wohnung des 27-Jährigen.

«Einmal hat er gesagt, dass er in die Reuss springt, wenn ihm jemand ein Universe schickt. Ich bin drangeblieben, aber ich glaube, am Ende ist nichts passiert», erzählt der Junge. Später wird sich aufklären: Kevin hat das 500-Franken-Geschenk nicht erhalten. Sein teuerster Fang bisher ist ein Baby-Löwe. Wert: etwa 50 Franken.

Jetzt schaut der 13-Jährige mit einer Mischung aus Bewunderung und Skepsis auf Kevin, der einen Teil des Songs «I’ve Got the Power» von Snap! performt. Beiläufig sagt er: «Ich kenne eigentlich nur zwei echte NPCs auf Deutsch. Ihn – und den aus Deutschland.»

Der berühmteste deutschsprachige NPC verdient ein Vermögen

«Der» aus Deutschland heisst auf TikTok «minimalmehr»: Ein NPC-Streamer mit 200’000 Followern, der in der Show «Late Night Berlin» vor kurzem erzählte, mit seinen Streams bis zu 13’000 Euro im Monat zu verdienen. Er ist das bekannteste Aushängeschild der Szene im deutschsprachigen Raum.

Kevin ist stolz, dass selbst «minimalmehr» seine Videos geliked hat. Er grenzt sich aber auch ab. «Der Deutsche macht viel zuhause und kriegt kleine Geschenke. Die Amerikaner gehen auf die Strasse, tragen Kostüme und machen richtig viel Geld damit. Das ist witzig, ich musste selbst darüber lachen.» An diesen Streamern aus New York und anderen US-Städten hat sich der Luzerner orientiert.

Mitte November trat er zum ersten Mal als NPC vor die Kamera. «Ich habe mir gedacht: Wenn andere es geschafft haben, mit TikTok Geld zu verdienen, dann schaffe ich das auch.»

Seine Motivation? Rechnungen bezahlen.

NPC in Luzern ist direkt durchgestartet – mit Agentin

Auf seinen ersten Videos als NPC legte sich Kevin eine Bettdecke um die Schultern und alberte herum. Schnell wurde man auf ihn aufmerksam. Seine witzige, skurrile, aber auch sympathische Rolle verfing.

Sein Profil begann zu wachsen, täglich um Hunderte Follower. Er kaufte sich ein Kostüm, so wie die US-Streamer. Bald meldete sich eine TikTok-Agentin aus Deutschland bei ihm, um Beratungen anzubieten. «Ich habe mich gefreut, aber es war auch komisch», sagt er heute zu seinem schnellen Erfolg.

Der Luzerner Kevin wohnt mit seinem Schäferhund nahe des Zentrums. Acht Jahre verbrachte er in der Dominikanischen Republik, wo ein Teil seiner Familie herkommt. Früher nahm er auch an professionellen Kickbox-Wettkämpfen teil, heute trainiert er viermal die Woche. «Ich habe Energie. Ich muss mich bewegen», erklärt der Streamer.

Nach einer Bürolehre arbeitete Kevin auf Baustellen und in der Gastronomie. Auch als Fitness-Influencer versuchte er es bereits. Wirklich geklappt hat es mit dem Erfolg aber erst als Computerspielfigur.

Peinlich ist Kevin sein Job nicht – ausser er wird zum Vorbild

In der Altstadt kann Kevin keiner ignorieren. «Das ist doch nicht normal», brummt eine ältere Dame. Jugendliche zücken die Handys und filmen ihn, lachen, mehrere Mädchengruppen fragen nach Selfies. Kevin kann mit der Aufmerksamkeit umgehen, suhlt sich aber nicht darin. «Ich wollte schon immer das Leben eines Stars, aber nicht bekannt sein», wird er später sagen.

Peinlich ist ihm die Tanzerei nicht. Ausser, wenn sich Jüngere ihn zum Vorbild nehmen. «Immer wenn Kinder hinter mich in den Stream kommen und mich nachmachen, denke ich: Scheisse, ich will sie nicht motivieren, so etwas zu machen. Was ich mache, ist nichts für jeden.»

Immer wieder stellen sich Teenager hinter ihn in den Stream. (Bild: kok)

Ein Blick in die Kommentare unter seinen Video zeigt, warum. «Schäm dich», «Hoffentlich kassierst du», steht dort. Mit dem «Hate» müsse man klarkommen, sagt der NPC-Streamer. Er könne darüber zum Glück lachen. «Ach, und schreib gern, dass ich Kevin heisse. Dann können sich die Hater darüber lustig machen.»

«Die Leute denken: Oh, das würde ich mich nie trauen.»

Ähnlich wie online reagieren auch Passanten auf den Mann im Muskelanzug. «Die Menschen sind halt dumm, deswegen schauen sie solche Streams», sagt ein etwa 16-Jähriger, der mit seinen Freunden von der Ferne den Streamer beobachtet. Die Gruppe lacht ein wenig überheblich – kann aber nicht wegschauen.

Kevin nennt andere Gründe für seinen Erfolg: «Die Leute denken: Oh, das würde ich mich nie trauen. Eigentlich ist er ein mutiges Kerlchen. Dann lachen sie und fragen sich, was die Personen im Hintergrund denken. Und dann gibt es noch Leute, die es aufgeilt, mich rumzukommandieren.» Spüre er letzteres, falle ihm die Arbeit schwer, gibt er zu.

Was er verdient, hält der NPC aus Luzern geheim

Nach vier Wochen als NPC hat sich Kevins Followerschaft von 2000 auf 7000 mehr als verdreifacht. Sein nächstes Ziel sind 10’000 Follower. Ab dann kann der TikToker auch mit seinen Videoaufrufen verdienen und nicht nur mit den Geschenken. «Ich setze jetzt wirklich voll auf Social Media.» Dazu arbeitet er Teilzeit in der Gastro.

Was er mit seinen Streams genau verdient, möchte der 27-Jährige noch nicht sagen. Nur so viel: «Wenn ich müde bin und nicht bei der Sache, merken das die Leute sofort und schicken weniger.» An jedem Geschenk verdient Kevin 75 Prozent. Die Hälfe sind Standard, die anderen 25 Prozent hat ihm seine Agentin verschafft. Quasi als Einstiegsprämie.

Kevin will es als Influencer schaffen

Nach 20 Minuten – manchmal gehen seine Streams zwei Stunden – beendet Kevin den Auftritt, packt das Stativ ein und zieht die Winterjacke über den Muskelanzug, unter dem er Thermounterhosen trägt. Jetzt will er sich zuhause aufwärmen, am Nachmittag gehts weiter. Dann, wenn die Leute in den Feierabend fahren und Zeit haben, ihm zuzuschauen.

In der Schweiz gebe es niemanden wie ihn, sagt er selbstsicher. Nun hofft der 27-Jährige auf eine Influencer-Karriere mit Prank-Videos, Streams im Ausland und einem Werbedeal. «Ich bin der Erste, der in der Schweiz NPC richtig macht, draussen auf der Strasse, wie in den USA.» Man könnte sagen: Kevin ist der erste NPC der Schweiz.

Verwendete Quellen
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