«Realsatire», «Mist», «Oberfrechheit»

Spiess-Hegglin vs. Ringier: Ein Prozess mit verbalen Tiefschlägen

Der «Blick» hat über Jolanda Spiess-Hegglin und die Zuger Landammannfeier 2014 insgesamt 167 Artikel veröffentlicht. Hat er dabei nicht nur die Grenzen des guten Geschmacks überschritten, sondern auch die Persönlichkeitsrechte der ehemaligen Kantonsrätin verletzt?

Der «Blick» ist die Zeitung mit den grossen Buchstaben in der Schweiz. Die Verhandlung an diesem Morgen im Kantonsgericht Zug zwischen Jolanda Spiess-Hegglin und dem Verlagshaus Ringier erinnert an die 1974 erschienene Abrechnung von Heinrich Böll mit den Boulevardmedien.

In seinem Buch «Die verlorene Ehre der Katharina Blum» beschreibt der bedeutende deutsche Schriftsteller, wie eine junge Frau von der «ZEITUNG» verunglimpft und in die Verzweiflung getrieben wird. Ganz ähnlich beschreibt die Anwältin der ehemaligen Zuger Kantonsrätin, was ihrer Mandantin passiert ist.

Spiess-Hegglin gibt sich gelassen, Ringier bissig

Die Stimmung vor der Verhandlung ist angespannt – auch wenn das keiner zugeben mag. Im Café neben dem Kantonsgericht sitzen zahlreiche Journalistinnen. Jolanda Spiess-Hegglin begrüsst ihre Anwältin und verschiedene Unterstützer. Man spricht betont unbeschwert über den Verkehr, die Kinder und einen Bericht in der «NZZ», in der die Vorkommnisse an der Zuger Landammannfeier einmal mehr als «Sexaffäre» bezeichnet wurden. Nervös sei sie nicht, meint sie. Ganz glauben kann man es ihr nicht.

«Einen Rechtfertigungsgrund namens Rudeljournalismus gibt es nicht.»

Anwältin von Jolanda Spiess-Hegglin

Der Gerichtssaal füllt sich schnell, die Zuschauerplätze sind bis auf den letzten Platz besetzt (zentralplus berichtete). Heute geht es um fünf Artikel, die der «Blick» 2014 veröffentlicht hat. Sie stehen aus Sicht der Anwältin von Jolanda Spiess-Hegglin stellvertretend für die «persönlichkeitsverletzende Kampagne», welche die Zeitung gegen ihre Mandantin geführt habe. Sie fordert, dass das Medienhaus Ringier den mit den Artikeln gemachten Gewinn an Spiess-Hegglin zahlen muss (zentralplus berichtete).

Was da steht, würde heute einen Shitstorm auslösen

Als die Anwältin die Schlagzeilen von damals vorliest, wird jedem im Saal klar, wie stark sich die Medienlandschaft in den letzten sieben Jahren verändert hat. Zwischen den Zeilen trieft der Sexismus. Es wird in einer Art und Weise berichtet, die heute – nach der weltweiten #MeToo-Debatte – einen Shitstorm sondergleichen auslösen würde.

Das ist eines der Hauptargumente des Ringier-Vertreters. Er verlangt, dass die Berichterstattung im Kontext der damaligen Ereignisse gesehen und beurteilt wird. Der «Blick» hat längst nicht als einziges Medium reisserisch über den Fall geschrieben. Der Weltwoche-Journalist Philipp Gut wurde deswegen 2019 rechtskräftig verurteilt. Er hatte behauptet, Jolanda Spiess-Hegglin hätte Markus Hürlimann der Schändung bezichtigt – und dabei bewusst gelogen (zentralplus berichtete).

Dies liess sich nicht nachweisen – und war gemäss der Anwältin von Spiess-Hegglin auch nicht so. Für sie ist die Ringier-Argumentation deshalb eine fadenscheinige Ausrede. «Einen Rechtfertigungsgrund namens Rudeljournalismus gibt es nicht», sagt sie in ihrem Plädoyer.

Ringier zeigte sich in Sachen Spiess-Hegglin unbelehrbar

Als «Gipfel des Zynismus» bezeichnet die Anwältin einen Artikel, den der «Blick» im Zuge einer Presseratsbeschwerde gegen ihn selbst veröffentlichte. Der Presserat hatte damals festgestellt, dass die Redaktion den Journalisten-Kodex missachtet hatte. Statt daraus Lehren zu ziehen, nutzte die Boulevardzeitung die von Spiess-Hegglin in diesem Zusammenhang eingereichten Unterlagen, um sehr intime Details aus jener Nacht öffentlich auszubreiten. «Das betrifft klar den Intimbereich von Jolanda Spiess-Hegglin», so die Anwältin. Dass damit eine Persönlichkeitsverletzung begangen wurde, steht für sie ausser Frage.

Der Ringier-Anwalt interpretiert die Tatsache, dass Jolanda Spiess-Hegglin im Presseratsverfahren die besagten Details vorgebracht hat, als eine Art «unbewusste Einwilligung», diese Informationen journalistisch auszuschlachten. Weiter geht er auf die einzelnen Artikel in seinem Plädoyer kaum ein.

Was nicht mehr da ist, kann keine Persönlichkeit verletzen

Braucht er auch nicht. Für ihn ist die Klage aus einem ganz anderen Grund ohnehin abzuweisen. Das Verlagshaus hat nämlich die besagten Artikel inzwischen vom Netz genommen und aus der Schweizerischen Mediendatenbank (SMD) löschen lassen.

«Ich finde es ein No-Go, dass man an einem Gericht solchen Mist verbreitet.»

Anwältin von Jolanda Spiess-Hegglin

Gelesen werden können die Berichte also nicht mehr. Und das ist aus seiner Sicht der entscheidende Punkt bei einer sogenannten Feststellungsklage wie der vorliegenden. Sie dient dazu, eine Rechtsverletzung festzustellen, aus der zum Beispiel Schadensersatzansprüche abgleitet werden. Wenn die Artikel zum Zeitpunkt der Klage aber nicht mehr existieren, können sie auch nicht persönlichkeitsverletzend sein, meint der Ringier-Anwalt.

Gewinnherausgabe: Ein Entscheid mit Folgen

Folgt das Gericht dieser Überlegung, wäre die geforderte Gewinnherausgabe vom Tisch. Die vorsitzende Richterin und ihre beiden Amtskollegen müssen nun also in einem ersten Schritt entscheiden, ob überhaupt eine Persönlichkeitsverletzung vorliegt. Und wenn ja: Wie berechnet werden soll, wie viel Gewinn Ringier damit gemacht hat. Spiess-Hegglin beantragt, dass in diesem Zusammenhang der Journalist Hansi Voigt als Sachverständiger beigezogen wird (siehe Video).

Bisher wurden solche Fälle in der Schweizer Mediengeschichte meistens mit einem Vergleich gelöst. Nun aber soll anhand der User-Daten der Gewinn möglichst genau berechnet werden. Das gab es bisher noch nie. Deshalb könnte der Prozess – je nach Ausgang – die Schweizer Medienlandschaft nachhaltig verändern.

Der Ton wird gereizter

Vielleicht ist das der Grund, weshalb im Gerichtssaal die Wogen zuletzt ziemlich hochgehen. Nachdem der Ringier-Anwalt mehrfach behauptet, Jolanda Spiess-Hegglin sei doch diejenige gewesen, die damals das Strafverfahren wegen Schändung eingeleitet hatte, lüpft es deren Anwältin den Hut.

«Dieses Plädoyer war eine gründlich missglückte Realsatire», wettert sie. «Ich finde es ein No-Go, dass man an einem Gericht solchen Mist verbreitet.» Eine Äusserung, die der Ringier-Anwalt als «Oberfrechheit» bezeichnet – woraufhin er nach der Verhandlung wortlos abrauscht, ohne sich weiter über den Prozess zu äussern. Das Kantonsgericht wird seinen Entscheid den Parteien schriftlich mitteilen.

Verwendete Quellen
  • Teilnahme an der Gerichtsverhandlung am Kantonsgericht Zug
  • Video-Interview mit Jolanda Spiess-Hegglin
  • Video-Interview mit Hansi Voigt
  • NZZ-Artikel: Spiess-Hegglin vs. «Blick»: Zuger Sexaffäre vor Gericht (Titel inzwischen geändert)
  • Entscheid Presserat 2016
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4 Kommentare
  • Profilfoto von Mediocre
    Mediocre, 20.01.2022, 23:54 Uhr

    Das Opfer kommt ja gar nicht zu Wort. Wo ist Markus Hürlimann ?

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    • Profilfoto von Samuel Kneubuehler
      Samuel Kneubuehler, 22.01.2022, 00:43 Uhr

      Hürlimann ist genauso Opfer wie Jolanda Spiess-Hegglin. Zu behaupten, nur er sei es, verkennt die Realität und Betreibt womöglich eine Straftat.

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  • Profilfoto von Fabrizio
    Fabrizio, 19.01.2022, 23:10 Uhr

    Gut wenn dieses unfaire Hetzblatt endlich verurteilt wird. Auf Kosten anderer sich lustig machen ist einfach nur armselig. Ich würde mir in Zukunft mehr sachliche und unabhängige Zeitungen wünschen.

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  • Profilfoto von Toni Bernasconi
    Toni Bernasconi, 19.01.2022, 17:41 Uhr

    Die Medienkampagne gegen Spiess-Hegglin erinnert an die medialen Hexenjagden der Fünfziger-Jahre. Unglaublich, dass so etwas heute noch möglich ist, gut lässt sich die Frau nicht zum Schweigen bringen.

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