Was passiert mit den Kindern der Opfer?

Soziale Fürsorge Zug: Auch Folgegenerationen haben zu beissen

Schlafsaal im Kinderasyl Walterswil, ca. 1930. (Bild: Foto: Stiftung Don Bosco Walterswil. Quelle: Staatsarchiv Zug, P 302)

Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen haben meist Traumatisches erlebt. Studien zeigen, dass auch spätere Generationen unter dem Erlebten ihrer Eltern leiden. Eine Veranstaltung des Kantons Zug gab Einblick in die Erfahrungen der Nachkommen.

Fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen sind ein dunkles Kapitel in der Schweizer Geschichte. Zehntausende Schweizer Kinder und Erwachsene wurden bis in die 80er-Jahre in streng geführten stationären Heimen, Arbeits- oder Strafanstalten «administrativ versorgt», Verdingkinder wurden auf Bauernhöfen als billige Arbeitskräfte ausgebeutet. In vielen Fällen erlebten die Menschen massive körperliche und psychische Gewalt und wurden auch oft sexuell missbraucht.

Der Bundesrat entschuldigte sich vor 13 Jahren und begann daraufhin, das Thema aufzuarbeiten und Solidaritätsgelder an die Opfer auszurichten.

Auch im Kanton Zug wurden Menschen Opfer solcher Massnahmen, hier gab es ebenfalls Verdingkinder (zentralplus berichtete). Diese Zeiten sind nun vorbei, dürfte man meinen. Doch fürsorgerische Zwangsmassnahmen und Fremdplatzierungen scheinen Folgen bis heute zu haben und selbst in neuen Familiensystemen weiterzuwirken.

Folgen für die Kinder der Opfer

Im Rahmen einer Veranstaltungsreihe des Kantons zum Thema der sozialen Fürsorge wurde am Donnerstagabend über ebendiese Nachwirkungen gesprochen. Mit dabei war unter anderem Andrea Abraham, Dozentin für Kindes- und Familienwohl an der Berner Fachhochschule. Sie hat in den vergangenen Jahren intensiv zum Thema geforscht.

«Uns interessierte die Frage, wie es war, mit Eltern aufzuwachsen, die selbst körperliche und psychische Gewalt erlebt hatten, missbraucht wurden oder unter Druck gesetzt worden waren, ihr eigenes Kind wegzugeben. Was macht das mit den Kindern?», so Abraham.

Dafür sprachen die Forscherinnen explizit mit Leuten, die unter den Erfahrungen ihrer direkt betroffenen Eltern gelitten hatten. «Es handelt sich also nicht um ein repräsentatives Sample, sondern um einen Teil der Gruppe», hielt Abraham fest.

Fürsorgen, vorsorgen, versorgen

Mit einer Veranstaltungsreihe und einer Kabinettsausstellung im Staatsarchiv Zug macht der Kanton Zug den Forschungsbericht «Fürsorgen, vorsorgen, versorgen» über die soziale Fürsorge der Öffentlichkeit zugänglich. Die wichtigen Erkenntnisse aus dem Bericht will die Direktion des Innern mit der Bevölkerung teilen und mit ihr über das Sozialsystem der Gegenwart und der Zukunft diskutieren. Gelegenheit dazu bieten vier Dialogveranstaltungen, welche das Thema der sozialen Fürsorge aus unterschiedlichen Blickwinkeln betrachten.

Die nächsten Veranstaltungen:

Kinderschutz heute: Was, wenn die Kesb ins Spiel kommt? 22. Juni 2023,
19.00 Uhr, Kantonsratssaal, Zug

Erwachsenenschutz: Was, wenn die Kesb ins Spiel kommt? 22. August 2023, 19.00 Uhr, Siehbachsaal, Zug

Die häufigsten Folgen, welche sich bei einigen Befragten aus den nachfolgenden Generationen gezeigt hätten, seien Tabuisierungen, komplizierte Eltern-Kind-Beziehungen, Gewalt oder weitere Fremdplatzierungen gewesen.

Die Vergangenheit hing wie eine dunkle Wolke über der Kindheit

«Viele der Kinder erlebten es, dass bestimmte Themen, Orte oder Personen gemieden wurden, die Vergangenheit aber dennoch omnipräsent war.» Die Kinder hätten sich dadurch eigene Fantasien gemacht und hätten unter anderem mit ausgeprägter Sorge, Mitleid, Angst oder auch Schuld gegenüber den Eltern reagiert. «Dass Kinder Rollen annehmen, die eigentlich jene der Eltern wären, nennt man Parentifizierung», so die Forscherin.

Bei den meisten interviewten Personen sei die Kindheit und Jugend von häuslicher Gewalt begleitet gewesen. Eine Betroffene, die als Kind Gewalt von nahestehenden Personen erlebt hatte, schilderte die Reaktion ihres Vaters im Rahmen der Studie wie folgt: «Er möchte nicht, dass geschlagen wird, kann aber nicht handeln. Wenn man das nicht durchbricht, geht das immer so weiter. Weiter, weiter. In welcher Form auch immer.»

Abraham sprach von einer «Dreizeitigkeit», in welcher die Nachkommen leben würden: «Sie sind geprägt von einer Kindheit mit biografisch belasteten Eltern, müssen heute einen Umgang finden damit und gleichzeitig auch in die Zukunft blicken, um die Risiken für ihre eigenen Kinder zu minimieren.»

Was die Studie zutage gebracht habe, sei im Prinzip nichts Neues, nichts Erstaunliches. «Wir wissen mittlerweile, dass Traumata über weitere Generationen Folgen haben. Was mich hingegen erstaunt, ist, dass transgenerationale Mechanismen so wenig Eingang finden in unserem Bildungs-, Gesundheits- und Sozialwesen.»

Turnen der Zürcher Kinderheilstätte Erliberg in Unterägeri, ca. 1940er-​Jahre. (Bild: oto: Fotostudio Bürgi. Quelle: Staatsarchiv Zug, P 1)

Solidaritätsbeiträge: Teils finanziell nötig, teils eine wichtige Anerkennung

Isabel Käshammer ist die Abteilungsleiterin Beratung und Prävention beim Eff-zett-Fachzentrum in Zug. Zu ihr kommen ausserdem Betroffene von Zwangsmassnahmen, welche Solidaritätsbeiträge beantragen möchten. An der Dialogveranstaltung erklärte sie: «Es kommt schon vor, dass Leute finanziell auf dieses Geld angewiesen sind, etwa aufgrund der Folgen der fürsorgerischen Massnahmen.» Viele Betroffene seien psychisch oder körperlich beeinträchtigt aufgrund des Erlebten, teils bezögen sie IV.

«Während einige sich nicht trauen, dieses Geld anzufassen, verwenden es andere, um etwa Schulden zu begleichen», erklärt Käshammer. Und weiter: «Viele der Leute, die Opfer dieser Massnahmen wurden, sind nicht auf Rosen gebettet.»

Wer Solidaritätsgelder beantragt, muss sich mit der Vergangenheit befassen

Das Beantragen von Solidaritätsgeldern habe einen Einfluss auf die Aufarbeitung des Themas, so Käshammer. Das Eff-zett helfe dabei, die Akten in den betreffenden Kantonen anzufordern. «Ausserdem können wir diese stellvertretend lesen und zusammenfassen, wenn die Betroffenen das nicht möchten.» Während des Prozesses würden diese durch eine Psychotherapeutin betreut.

Die Abteilungsleiterin dazu: «Solche Akteneinblicke können für die Betroffenen sehr hart sein. Etwa wenn darin die Rede davon ist, dass eine Pflegefamilie gut gewesen sei, die Kinder dort aber mit der Gürtelschnalle geschlagen worden seien.»

Dass das Thema Armut im ganzen System der fürsorgerischen Zwangsmassnahmen eine grosse Rolle spielte, bestätigt auch Abraham. «Armut galt als grösstes Risiko dafür, dass ein Kind aus einer Familie weggenommen und fremdplatziert wurde.» Gleichzeitig sei es auch für spätere Generationen schwierig, aus dieser Armut auszubrechen. «Bildung ist diesbezüglich das Zauberwort. Die frühe Förderung der Kinder in der Schule und später bei der Berufswahl sind zentrale Schalthebel.»

Ein Betroffener erzählt

Ganz am Ende der Veranstaltung meldete sich ein älterer Herr zu Wort, der selbst Opfer fürsorgerischer Massnahmen war. Er werde dieses Jahr 70, sei seit bald 50 Jahren verheiratet und habe zwei Kinder. «Wir haben hier viel von der Gegenwart und der Zukunft gehört. Von der Vergangenheit sprechen, davon, was Opfer von Zwangsmassnahmen durchgemacht haben, können jedoch nur wir, die das selbst erlebt haben.»

Er betonte, dass nicht alle nachfolgenden Generationen zu kämpfen hätten und dass es seiner eigenen Familie gut ergangen sei. «Auch wenn für mich Weihnachten nach wie vor eine schwierige Zeit ist. Meine Frau erklärte den Kindern dann jeweils, dass sie mich in Ruhe lassen müssen.» Und weiter: «Im Heim bekamen wir an Weihnachten nur je ein Paar Socken, die wir sowieso gebraucht hätten. In unserer Familie haben wir die Geschenke abgeschafft, als die Kinder erwachsen wurden. Lieber gehen wir nun miteinander essen.»

Verwendete Quellen
  • Veranstaltung zu fürsorgerischen Zwangsmassnahmen und ihr Einfluss auf spätere Generationen
  • Gespräche vor Ort
  • Website des Kantons Zug zur Veranstaltungsreihe
  • Website des Bundes zum Thema
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