Edwin Beelers erschütternder Film «Hexenkinder»

«Sie wollten uns ersäufen»: Als Nonnen Waterboarding praktizierten

MarieLies Birchler: Was ihr widerfuhr, ist unglaublich. (Bild: Filmstill «Hexenkinder»)

Der Luzerner Dokumentarfilmer Edwin Beeler untersucht in seinem neuen Werk, was die Greueltaten der Hexenverbrennung mit den Opfern von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen gemeinsam haben. Nach der coronabedingten Verzögerung kommt «Hexenkinder» nun in die Kinos.

Jeden Abend Folter in Form von Waterboarding und Prügel, häufige Isolation und der stete Vorwurf: «Du bist vom Teufel besessen». So wächst MarieLies Birchler in den 1950er-Jahren im Waisenhaus von Einsiedeln auf. Dieses wurde damals von Ingenbohler Schwestern betrieben.

MarieLies ist eines von vielen zwangsplatzierten Heimkindern in der Schweiz, die schwere Gewalterfahrungen gemacht haben. Und sie ist eine der fünf Hauptdarsteller in «Hexenkinder» – dem neusten Werk des in Luzern ansässigen Dokumentarfilmers Edwin Beeler (geboren 1957).

Sündiger Körper wird verbrannt

Schlimmer als MarieLies ist es Katharina aus Romoos ergangen, die behauptete, sie könne Vögel machen. Die Elfjährige wurde 1652 von den Gnädigen Herren zu Luzern als Hexe verurteilt und geköpft. Der sündige Mädchenkörper wurde zu Asche verbrannt.

Das ist Edwin Beeler

Für seinen Film «Die weisse Arche» über Nahtoderfahrungen erhielt Edwin Beeler 2017 den Innerschweizer Filmpreis. Zuvor war er mit dem wunderbar mystischen Film «Arme Seelen» (2011) aufgefallen. Der Historiker ist seit 1984 («Rothenthurm – bei uns regiert das Volk») filmerisch tätig. Er wohnt in Luzern und hat zwei Töchter.

Erwachsene, die aus ihrer Sicht sündhaftes Verhalten von Kindern mit brutaler Gewalt bestrafen: Das verbindet als Hexen verbrannte Minderjährige aus dem 17. Jahrhundert mit vielen Opfer von fürsorgerischen Zwangsmassnahmen aus dem 20. Jahrhundert, hat Edwin Beeler beobachtet.

Büssen für Sünden der Eltern

Zumal viele Heime bis in die 1970er- und 1980er-Jahre von kirchlichen Einrichtungen betrieben wurden – und Kinder dafür verantwortlich machten, wenn sie ausserehelich geboren wurden, oder wenn ihre Eltern gesellschaftlich oder wirtschaftlich aus dem Rahmen fielen. Sie mussten büssen. Zum Beispiel in Einsiedeln.

Annemarie Iten-Kälin starrt wie früher im Waisenhaus auf die verschneiten Strassen von Einsiedeln. (Bild: Filmstill «Hexenkinder»)

Beeler, der noch in «Arme Seelen» (2011) auf die Innerschweiz fokussiert hatte, spannt den geographischen Rahmen in seinem neuen Film weiter: Die Schauplätze von «Hexenkinder» reichen von Pura (Malcantone) im Süden bis Laufen im Norden, von Ftan (Unterengadin) im Osten bis Bern im Westen.

Rettung vor den Katholiken

Sergio Devecchi kam im Malcantone in ein Heim der evangelikalen Stiftung «Gott hilft». Auch er war ein Kind einer unehelicher Verbindung. Die protestantische Grossmutter versuchte das Seelenheil des unerwünschten Sprösslings zu retten, indem sie ihn dem katholischen Umfeld des Vaters entriss.

«Die staatlichen Stellen haben in ihrer Aufsichtsfunktion versagt.»

Sergio Devecchi, Protagonist

Auch Sergio erlebte eine gewaltbetonte Erziehung – und Missbrauch. Die Akten zu seinem Fall hat die Stiftung «aus Datenschutzgründen» vernichtet.

Heimkind wird Präsident des Fachverbandes

Er ist ein anderer Protagonist von «Hexenkinder». Zwar nicht so wild wie die andern. Er wurde im späteren Leben Sozialpädagoge und Präsident des schweizerischen Fachverbandes für Sozial- und Sonderpädagogik.

Ein besonnener Charakter, der aber als Kind mangels fleischlicher Ernährung an Schweinefutter naschen musste und nach mehreren Umplatzierungen davonrennen wollte. «Die staatlichen Stellen haben in ihrer Aufsichtsfunktion versagt», sagt er im Film und: «Die übertrieben religiöse Erziehung war eindeutig übergriffig».

Kinostart am 17. September

Wegen der Coronakrise musste der Kinostart vom Frühling auf den Herbst verschoben werden. Vorpremieren finden am 12. September im Zuger Kino Seehof sowie am 13. September im Kino Bourbaki in Luzern statt. Der Regisseur Edwin Beeler, Gewinner des Innerschweizer Kulturpreises 2017, ist anwesend.

Stimmige Filmmusik

Die herzerweichenden Erzählungen der Heimkinder tragen Edwin Beelers neuen Film, der sich keiner Kunstkniffe bedient. Er zeigt die Heimkinder in ihrer früheren Umgebung oder zu Hause, dazu alte Fotografien.

Die stimmige Filmmusik stammt vom amerikanischen Komponisten Guy Klucevsek, vom Luzerner Jazzer Albin Brun und vom Luzerner Filmmusikdesigner Oskar Schwander. Sie trägt dazu bei, den Kloss im Hals im Verlauf des langen Films immer grösser werden zu lassen.

Zu den Erzählungen werden Naturbilder gereicht. Die erste Einstellung zeigt den winterlichen Walchwilerberg und einen silbernen Zugersee, dahinter das Habsburgeramt sowie – verborgen in dunklen Wolken – den Pilatus. Ein Szenerie, die Kälte ausstrahlt. Wie sie auch der seelischen Verfassung der Heimkinder entsprach.

Tiere sorgten für Geborgenheit

Pedro Raas, der als unehelich Geborener noch im Säuglingsalter ins Waisenhaus kam, rannte in freien Augenblicken in den Stall des Einsiedler Klosters. Ein Pferd trug seinen Namen. «Es versteht mich», wusste er und vertraute sich ihm an – nahm deswegen auch Prügel in Kauf.  Auch Sergio Devecchi holt sich die menschliche Wärme, die ihm im Heim abging, ersatzweise als Stallknecht bei Kühen und Geissen. «Tiere lügen nie», weiss er.

Sergio Devecchi mit einer Fotografie aus Kindheitstagen. (Bild: Filmstill «Hexenkinder»)

Schockierend am Film sind die rabiaten «Erziehungsmethoden» in den Heimen. Willy Mischler wurde als ausgelassener, kleiner Kerl ohne Eltern in ein Heim in Laufen gesteckt und später im Kinderdörfli in Rathausen gross. In der Nordwestschweiz wurde er Opfer von «Waterboarding» der Ingenbohler Schwestern, die ihn mit einem Duschschlauch traktierten.

«Tünklen» oder «Duschen» nannten sie das. Mischlers Bruder Michel sagt im Film: «Sie wollten uns ersäufen.» MarieLies Birchler war dies in früher Kindheit widerfahren, weil sie eine Bettnässerin war. Mit «Tünklen» versuchten ihr die Nonnen in Einsiedeln dies auszutreiben.

Nicht alle Hexenkinder wurden geköpft

Später entwickelte sich MarieLies zum rebellischen Mädchen. Als sie in der Schule durch gute Leistungen und eine schöne Schrift auffiel, meinte eine der Folter-Nonnen: «Das passt gar nicht zu dir.»

«Ich fragte mich: Welches sind die Hexenkinder unserer Zeit?»

Edwin Beeler

Die Hexenkinder aus der Neuzeit, deren Schicksal Beeler dazwischen ausbreitet, stammen aus Hünenberg, Giswil und Stans. Meist wurden sie hingerichtet, in milderen Fällen aber auch religiöser Umerziehung und Disziplinierung übergeben, wie Jansjakob Achermann, alt Staatsarchivar des Kantons Nidwalden sagt.

Die Vogelmacherin gab den Anstoss

Diese Passagen sind der intellektuelle Überbau des Films, aber auch der Auslöser für Edwin Beelers Recherche. «Als ich meinen letzten Film ‹Die weisse Arche› 2016 veröffentlichte, machte mich ein Bekannter auf die Vogelmacherin Katharina Schmidlin aus Romoos aufmerksam», sagt Beeler. 

Er habe ihn dazu bewegen wollen, einen Spielfim über die vermeintliche Hexe zu machen. «Stattdessen fragte ich mich: Welches sind die Hexenkinder unserer Zeit?»

Amor omnia vincit

Die missbrauchten und geprügelten ehemaligen Heimkinder leben noch. Sie gehören heute der Grosseltern-Generation an. Sie warten immer noch – meist vergebens – auf ein Zeichen der Reue ihrer Peiniger. Aber sie haben sich, obwohl gezeichnet durch ihre Kindheit, einen Platz im Leben erkämpft. Dies zeigt der Film auch. Dies macht ihn versöhnlich.

MarieLies Birchler, die in ihrer Kindheit so viele Gewalterfahrungen, machte, geht mit dem Regisseur an die Luzerner Fasnacht. Am Schluss spielt sie am Zürichsee mit einer kleinen Gruppe von Kindern, die ihr zur Betreuung übergeben wurde und denen sie unendlich zugetan ist. Liebe überdauert alles – amor omnia vincit.

Hinweis: Dieser Artikel ist erstmals im März 2020 erschienen.

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2 Kommentare
  • Profilfoto von Gabriela Renggli
    Gabriela Renggli, 17.09.2020, 14:07 Uhr

    Ach, nicht nur von kirchlichen Institutionen, auch im Waisenhaus Basel hatten sicher ein paar von uns, schreckliche Erfahrungen. Zwar wurden wir koeperlich nie angegriffen, denn das musste raportiert und dem Waisenvater gemeldet werden. Wenn wir Maedchen die Periode hatten, erhielten wir nie genug Binden, ein Packet pro Periode. Wir mussten die Binde mit WC Papier neu umwickeln, alle Stunde, so dass es fuer 7 Tage reichte. Ein Tropfen Blut in der Bettwaesche und wir wurden beschumpfen. Wenn wir mit dem Knaben spielten (was wir nicht durften) wurden wir als «Saeumeitli» beschimpft. «Saeumeitli, die dann spaeter im Leben mal mit einem Mann schlafen wuerden.» Wir schaemten uns natuerlich und verneinten, dass wir jemals sowas tun wuerden, wenn wir aelter wuerden. Schrecklich. Jeden Abend kam die Erzieherung bei uns einzeln (bei jedem, nach dem andern) am Bett vorbei und schaute unsere getragene, weisse Unterhose an. Bei Maedchen ist diese oftmals gelb von den Urinspuren. Dann wurden wir als entweder «gutes» oder «schlechtes» Maedchen eingestuft, und geliebt oder veraergert «Gute Nacht» gewunschen. Auch wurde uns fortan erzaehlt, dass die alte Dame in der Waescherei unsere Gruppe, Felicitas, als die unsaeuberste betrachte, gemaess den Unterhosen. Stellt Euch mal vor, dass dort die Waschfrauen Zeit hatten, einzelene Unterhosen zu untersuchen, statt sie einfach in die Waschmaschine zu werfen. Pullover (shirts gab es damals noch keine) durften wir nur zwei haben und anziehen pro Wochen. Ich stank immer. Ich schaemte mich wegen meinem Schweissgeruch und hielt in der Schule immer die Arme gegen den Koeper gedrueckt, dass man es nicht so roch, wie ich stank. Wenn wir was falsch gemacht hatten, mussten wir beim Waisenvater vorziehen, also vorbeigehen und erhielten eine Ruege. Oftmals war er zornig. Gefuerchtet hatten wir ihn nicht, aber wir versuchten aus seinem Weg zu gehen. Vor der Erzieherin hatten wir jedoch Todesaengste, nicht alle in unserer Gruppe, aber vermutlich alle Feinfuehligen.

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  • Profilfoto von Rudolf
    Rudolf, 08.09.2020, 08:04 Uhr

    «Zumal viele Heime bis in die 1970er- und 1980er-Jahre von kirchlichen Einrichtungen betrieben wurden – und Kinder dafür verantwortlich machten, wenn sie ausserehelich geboren wurden, oder wenn ihre Eltern gesellschaftlich oder wirtschaftlich aus dem Rahmen fielen.»

    Zumal kirchliche Institutionen, welche viele Heime bis in die 1970er- und 1980er-Jahre betrieben, die Kinder dafür verantwortlich machten, dass sie ausserehelich geboren worden waren oder wenn ihre Eltern gesellschaftlich oder wirtschaftlich aus dem Rahmen fielen.

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