Miriam Hochuli arbeitet seit fünf Jahren beim Brückendienst der Spitex Stadt Luzern. (Bild: ida)
Miriam Hochuli steht am Bett schwerstkranker Menschen, bis sie den letzten Atemzug machen. Sie spricht über die letzten Wünsche und über die besondere Bedeutung eines würdevollen Abschieds.
Dort sterben zu dürfen, wo man gelebt hat und sich geborgen fühlt, ist für viele Menschen ein wichtiger Wunsch. Diesen ermöglicht der Brückendienst der Spitex Stadt Luzern, der sich auf Palliativ- und Onkologiepflege schwerstkranker Menschen spezialisiert hat.
Miriam Hochuli arbeitet seit fast 20 Jahren im Spital, seit fünf Jahren beim Brückendienst. Sie begleitet als gelernte Pflegefachfrau Dutzende von Sterbenden am Bett. Im Interview geht sie auf die letzten Wünsche dieser Menschen ein und erklärt, wie sich ihr eigenes Leben durch den omnipräsenten Tod verändert hat.
zentralplus: Miriam Hochuli, Anfang November ist auch die Zeit von Allerheiligen und Allerseelen, wo wir der Verstorbenen gedenken. Was bedeuten Ihnen diese beiden Tage?
Miriam Hochuli: Für mich ist es eine sehr bedeutende Zeit. Ich denke wieder mehr an meine Mutter, die vor acht Jahren verstorben ist, und fühle mich mit ihr verbunden. Diese Tage erinnern uns daran, dass auch unser Leben begrenzt ist und wie kostbar es ist.
zentralplus: Sie pflegen schwerstkranke und sterbende Menschen. Wie und wo wollen diese sterben?
Hochuli: Die meisten sterben in Alters- und Pflegeheimen oder im Spital. Nur etwa 20 Prozent sterben zu Hause, obwohl sich dies deutlich mehr wünschen würden. Nicht immer ist dies möglich, weil Schwerkranke spezielle Pflege benötigen und das Betreuen zu Hause oft eine grosse mentale Belastung für Angehörige mit sich zieht, was auch Sterbende nicht wollen. Wir bieten zwar 24-Stunden-Pikett-Dienst an, können aber nicht wie ein Pflegeheim rund um die Uhr da sein. Um zu Hause sterben zu können, brauchen Betroffene ein Netz um sich – Angehörige, Nachbarn, Freiwillige.
zentralplus: Was sind die letzten Wünsche von Sterbenden?
Hochuli: Häufig ist die Krankheit bereits so weit fortgeschritten, dass sie den Takt vorgibt. Die meisten möchten in Ruhe und Frieden, ohne grosses Leid, sterben, umgeben von ihren Angehörigen. Am Sterbebett sollte zudem eine gute Stimmung herrschen.
zentralplus: Wie meinen Sie das?
Hochuli: Mir ist es wichtig, Emotionen auf eine positive Basis zu bringen. Deswegen spreche ich mit Angehörigen über die Sterbenden, um positive Erinnerungen hervorzuholen. Sagt, was euch wichtig ist, dass alles gut ist und sie nun in Frieden gehen dürfen.
zentralplus: Gab es einen letzten Wunsch, der Sie besonders berührte?
Hochuli: Ja. Ich erinnere mich an eine Frau, die an Amyotropher Lateralsklerose (ALS) litt – eine unheilbare, schwere Erkrankung des Nervensystems. Im Laufe der Erkrankung wird der Körper immer gelähmter, bis die Atemhilfsmuskulatur aussetzt. Die Frau sagte: «Wenn ich den Elektrorollstuhl nicht mehr steuern kann, will ich sterben.» Drei, vier Wochen vor ihrem Tod unternahm sie einen Ausflug an den Golzerensee. Für die Angehörigen war dies herausfordernd und kräftezehrend – aber sie haben es gemeinsam möglich gemacht.
zentralplus: Gibt es letzte Worte, die Sterbende loswerden?
Hochuli: Ich glaube, vieles wurde schon vorher gesagt, oder es verliert im Angesicht des Todes an Relevanz. Schwerstkranke sind häufig sehr müde und geschwächt vor dem Tod. Die Gespräche, in denen etwas geklärt werden muss, haben entweder vorher stattgefunden oder sie finden gar nicht statt. Was ich beobachte, ist, dass sich beim Tod ein grosser Frieden über die Sterbenden legt. Fragen, die einen womöglich bis dahin gequält haben, lassen sie angesichts des Todes los. Bedrückende Dinge werden verschwindend klein, wenn man sich der Endlichkeit bewusst wird.
zentralplus: Gibt es eine Begegnung mit jemandem, die Ihnen besonders naheging?
Hochuli: «Jetzt spüre ich es, jetzt bin ich ganz nahe.» Das sagte gemäss ihren Angehörigen die Frau mit der ALS-Erkrankung einen Tag vor ihrem Tod. Das berührt mich enorm. Wie genau spürt man das? Ich glaube, Menschen, die im Sterben liegen, befinden sich teilweise schon wie in einer Zwischenwelt, bereits von uns entfernt. Teilweise fixieren ihre Augen das Gegenüber nicht mehr. Worte werden immer weniger, Fragen werden nicht mehr beantwortet. Für Angehörige sind solche Momente wichtig, denn sie führen sie an den Tod heran. Es ist ein langsames Zurückziehen und ein langsames Abschiednehmen.
zentralplus: Sie haben Dutzende von Menschen bis zum Tod begleitet. Wird man dadurch nicht ein wenig abgestumpft, was das Sterben anbelangt?
Hochuli: Abgestumpft würde ich nicht sagen. Jeder Mensch beeindruckt mich. Ich bleibe empathisch und tröste, ohne selbst mitzuleiden. Da muss ich eine gute Balance finden, ansonsten könnte ich diesen Beruf auch nicht ausüben.
zentralplus: Kamen Sie selbst mal an Ihre Grenzen?
Hochuli: Ja, beim Tod meiner Mutter kam ich komplett an meine Grenzen. Ich betreute sie einen Monat lang bei mir zu Hause. Permanent mit dem nahenden Tod einer geliebten Person konfrontiert zu sein, ist mental enorm belastend. Zugleich muss man funktionieren, die tägliche Arbeit erledigen. Daraus habe ich eine bedeutende Erkenntnis gewonnen: Es ist wichtig, auch mal aus der Wohnung zu kommen. Dieser Tapetenwechsel zeigt: Auch wenn ein nahender Abschied schmerzt, das Leben geht weiter.
zentralplus: Wie stehen Sie zu aktiver und passiver Sterbehilfe?
Hochuli: In den ersten 20 Jahren meines Berufslebens war ich eine Exit-Gegnerin. Durch all die Einblicke habe ich erkannt: Menschen leiden, und es gibt nicht immer Medikamente und Hilfsmittel, um Schmerzen und Leid erträglich zu machen. Es liegt nicht an mir, zu beurteilen, wie ein Mensch von dieser Welt gehen möchte und ob sein Zustand noch erträglich ist. Das sollte jeder Mensch für sich entscheiden dürfen. Und wenn jemand gehen möchte, respektiere ich das.
zentralplus: Hatten Sie ein prägendes Erlebnis diesbezüglich?
Hochuli: Ich komme zurück auf die Frau, die sterben wollte, sobald sie mit ihrer Hand nicht mehr den Elektrorollstuhl steuern konnte. Sie wollte selbstbestimmt sterben und entschied sich für das Sterbefasten: nichts mehr essen, nichts mehr trinken. Nur noch ihren Mund liess sie sich befeuchten. Mit allen Konsequenzen wollte sie sterben, weil sie ihre Autonomie verloren hat. Sie hätte sich gefangen in ihrem eigenen Körper gefühlt, der sich für sie wie ein Gefängnis angefühlt hätte, wie sie sagte. Bewusst verabschiedete sie sich von ihren Geschwistern, Angehörigen und Nachbarn. Dieser Wille hat mich enorm beeindruckt.
zentralplus: Glauben Sie, dass nach dem Tod noch etwas kommt?
Hochuli: Ja. Ich glaube, dass es eine Seele in Menschen gibt, welche die Hülle verlässt. Ich weiss nicht, in welcher Form es weitergeht. Aber ich glaube an diesen Transformationsprozess und dass danach etwas Schönes auf Sterbende zukommt. Dieser Gedanke hilft mir.
zentralplus: Haben Sie sich durch all Ihre Einblicke mit Ihrem eigenen Tod befasst? Wie wollen Sie sterben?
Hochuli: Durch die Arbeit habe ich gesehen, dass man sich gut lösen kann von dieser Welt. Selbst, wenn man schwer erkrankt ist. Ich kann noch nicht sagen, ob ich zu Hause oder beispielsweise in einem Hospiz sterben möchte. Den letzten Atemzug möchte ich sicherlich an einem schönen Ort, an dem ich mich wohlfühle, machen – in einem natürlicheren Umfeld als einem Spital.
zentralplus: Lebt es sich anders, wenn man so oft mit dem Tod konfrontiert wird?
Hochuli: Ich finde schon. Ich bin enorm dankbar, gesund zu sein und morgens ohne Schmerzen aufzustehen und die Vögel zu hören. Wenn ich jemanden bis zum Tod begleitet habe, so verlasse ich das Haus und weiss, ich darf weiterleben. Dafür bin ich enorm dankbar, immer aufs Neue. Diese Arbeit führt einem vor Augen, für jeden Moment dankbar zu sein und positiv durchs Leben zu gehen. Und das Leben zu feiern.
Isabelle Dahinden schreibt über Menschen, Beziehungen und das Leben. Nach ihrem Studium in Gesellschafts- und Kommunikationswissenschaften begann sie im Dezember 2017 als Praktikantin bei zentralplus. 2021 schloss sie die Diplomausbildung am MAZ ab, übernahm 2023 die stellvertretende Redaktionsleitung – und ist seit April 2025 Co-Redaktionsleiterin. Sie verantwortet das Ressort Gesellschaft.