Prüfungsfreies Verfahren in der Zentralschweiz

Schulübertritt: Augenmass statt Taschenrechner

Jugendliche können in der Zentralschweiz prüfungsfrei ins Gymnasium. Ihre Befähigung wird von Experten beurteilt. Unsere Kantone fahren gut mit diesem System. (Bild: Emanuel Ammon/AURA)

Die Zentralschweiz vertraut auf das prüfungsfreie Verfahren, das nach der sechsten Klasse einen entspannten Übertritt in die Folgeschule erlaubt. In über 95 Prozent der Zuweisungen werden sich Lehrer, Eltern und Schüler einig. Zuger Bildungsverantwortliche bezeichnen das Verfahren als «stress- und komplikationsfrei».

Wer das inoffizielle Sorgenbarometer junger Familien in der Schweiz vor Augen hat, muss zum Schluss kommen, diese hätten vorab deren zwei: die ungerechte Aufteilung der Hausarbeit zwischen Mann und Frau und der Übertritt der Kinder ins Gymnasium. Von intensiven und teuren Vorbereitungskursen ist die Rede, von bis zur Erschöpfung büffelnden Jugendlichen, von Drill und Gerangel und – je nach Testresultat – von grossem Jubel über einen gesicherten Platz am Gymnasium oder massloser Enttäuschung über einen negativen Bescheid.

Wer solches hört oder liest, ist zuweilen froh, seinen Wohnsitz im Kanton Zug, Luzern, Schwyz, Uri, Nid- oder Obwalden zu haben. Dort vertraut man im Unterschied zu anderen Kantonen wie Zürich bei der Zuweisung von 6. Klässlern weniger Testergebnissen und Taschenrechnern. Vielmehr baut man auf mehrjährige Erfahrungswerte, intensive Gespräche und fähige Pädagogen, die die Leistungsentwicklung eines Kindes zwar nicht vorausahnen, aber zumindest realistisch einschätzen können.

Hohe Einigkeit

Können sich Lehrer, Schüler und Eltern auch ohne aufwendig inszenierte, flächendeckend angelegte und kostspielig organisierte Gymiprüfung darauf einigen, wie die Schullaufbahn für ein Kind nach der 6. Klasse weitergeht? Die Antwort darauf liefert der Kanton Zug seit nunmehr über 20 Jahren. Laut Statistik herrschte im Schuljahr 2013 in 96,5 Prozent der Fälle Einigkeit. Für Markus Kunz, bei der Zuger Bildungsdirektion zuständig für das Übertrittsverfahren, stellt dieser Wert allerdings keine Überraschung dar, weil auch in anderen Jahren ähnliche Übereinstimmung herrschte und das Verfahren für alle Beteiligten grossmehrheitlich «stress- und komplikationsfrei» von statten gehe.

Situation im Kanton Schwyz

Im Kanton Schwyz, wo es die Langzeitgymnasien nur auf privater Ebene gibt, wechseln die Kinder nach der 6. Klasse ohnehin in die Sekundar- oder Realschule: prüfungsfrei. Sture, auf Kommastellen errechnete Notenwerte kennt man nicht. Stattdessen setzt man grossmehrheitlich auf die Einschätzung der Lehrperson und der Eltern und berücksichtigt die gesamte Leistung und Entwicklung während der Primarschullaufbahn. «Das funktioniert», so Bruno Wirthensohn vom Amt für Volksschulen des Kantons Schwyz. «Lehrpersonen und Eltern sind gemeinsam im Stande zu beurteilen, welche Schulform für das Kind die Beste ist.»

Entscheidend sei herauszufinden, wie das Kind mit Leistungsdruck umgehe und welche Motivation es für die Schule mitbringe. Rekurse gibt es auch in Schwyz höchst selten. Erst in der 8. Klasse müssen Schwyzer Jugendliche, die ans Gymnasium wechseln möchten, eine Prüfung ablegen. Das sei, meint Wirthensohn, noch früh genug. In der Innerschweiz liegt die Maturitätsquote mit 18,7 Prozent leicht unter dem Schweizer Schnitt (19,6 Prozent).

Durchaus setzen die Lehrer im zweiten Semester der 5. und ersten Semester der 6. Klasse im Rahmen des regulären Unterrichts vermehrt Prüfungen an, um repräsentative Notenwerte zu erhalten. Eine zusätzlich organisierte Prüfung, die auch von der Tagesform des Kindes abhänge, sei deshalb nicht nötig, so Kunz. Im Kanton Zug existieren keine fixen Richt- oder Mindestwerte. Ein Notenschnitt von einer 5,08 in den Fächern Deutsch, Mathematik und Mensch und Umwelt in den erwähnten Semestern, kann für oder gegen eine Zuweisung zum Gymnasium sprechen – je nachdem, wie der Lehrer das Leistungsvermögen des Schülers einschätzt.

Probleme mit so genannten Kampfeltern, die Zuweisungen anfechten, sind auch laut Aldo Magno vom Amt für Gymnasialbildung des Kantons Luzern die absolute Ausnahme (siehe auch Interview).

Gemeinsamer Entscheid

Dass 6.-Klasslehrer ohne «Beweis» einer Gymiprüfung einem verstärkten Druck seitens überambitionierter Eltern ausgesetzt sein sollen, wie oft behauptet wird, können die Bildungsverantwortlichen aus der Zentralschweiz nicht bestätigen. «Der Entscheid wird ja gemeinsam getroffen. Zudem zieht sich der Prozess über zwei Jahre hinweg, ist institutionalisiert, eingespielt und beinhaltet eine umfassende und für alle Beteiligten transparente Beurteilung», so Kaspar Bättig, Geschäftsführer des Luzerner Lehrerinnen– und Lehrerverbands LLV.

Die Abschaffung der Sekprüfung vor rund 20 Jahren wertet er als Errungenschaft, weil die mit beträchtlichem Aufwand herbeigeführten Resultate in den meisten Fällen bestätigten, was man ohnehin schon wusste. Entsprechend käme für Bättig die Einführung einer Gymiprüfung einem bildungspolitischen Rückschritt gleich.

Während in Zürich eine intensive Debatte darüber läuft, ob die an der Gymiprüfung gestellten Aufgaben mit oder ohne private Nachhilfestunden zu bewältigen seien oder ob sich der Test in sozial tiefen Schichten eher zum Vor- oder Nachteil erweist, sieht man die Sache in den sechs Zentralschweizer Kantonen pragmatisch. Dort werden Eltern und Kinder bereits ab der 4. Klasse regelmässig zu Gesprächen eingeladen und langsam auf den Übertritt vorbereitet. Parallel dazu findet eine individuelle Förderung im Schulzimmer statt, um das Kind an sein schulisches Ziel heranzuführen, ob dies nun Werk-, Real-, Sek- oder Mittelschule sei.

Klassenlehrer hat Gewicht

Unbestritten ist, dass im prüfungsfreien Verfahren die Einschätzung des Klassenlehrers einen hohen Stellenwert geniesst. Sein Wort hat Gewicht. «Doch daran gibt es nichts auszusetzen», findet Gabrielle von Büren, Direktorin der Kantonsschule Alpenquai in Luzern mit 1670 Schülerinnen und Schülern «Wir erhalten die richtigen Schüler, vertrauen auf die abgebenden Schulen, insbesondere auf das Urteil der Lehrpersonen, die ihre Zuweisungsempfehlungen sowohl gegenüber Behörden wie Eltern gut begründen müssen.»

Ivo Frey, Rektor des Kollegiums Altdorf im Kanton Uri lobt das «gute Augenmass» der Primarschullehrer und deren Fähigkeit, sich vom Schüler ein «ganzheitliches Bild» zu machen. Dass ein Lehrer seine Zuweisung von Sympathien oder Antipathien gegenüber einem Kind abhängig macht, glaubt Frey nicht, zumal die schulrätlichen Organe formell für die Zuweisungen zuständig seien und intervenieren würden, falls Pädagogen nicht nachvollziehbare Entscheidungen treffen beziehungsweise Fälle von Diskriminierung oder Willkür bekannt würden.

Zusatzprüfung überflüssig

Nicht als unfair, aber als überflüssig erachtet man in der Zentralschweiz eine Zusatzprüfung. Dies zeigte sich, als vor zwei Jahren im Kanton Nidwalden ein Parlamentarier die Wiedereinführung der Mittelschulprüfung forderte. Regierungs- und Kantonsrat lehnten das Ansinnen deutlich ab und riefen dazu auf, die Aufnahmeprüfung «in der Mottenkiste zu lassen».

Aufwand und Ertrag, argumentierte der Nidwaldner Bildungsdirektor Res Schmid, stünden in keinem Verhältnis. Zudem würden Aufnahmeprüfungen unweigerlich zu einer «Verzerrung der Unterrichtsdidaktik» (Stichwort: teaching-to-the-test) führen. «Die 23-jährige Praxis hat sich bewährt. Klagen zum heutigen Übertrittverfahren liegen keine vor.» Im Gegenteil: «Der Verzicht auf eine Aufnahmeprüfung wirkte sich für Schule, Schulkinder und Eltern beruhigend auf die 6. Klasse der Primarschule aus», bilanziert Schmid. Gerade mal in drei Prozent der Fälle wird die Übertrittskommission aktiv.

Derweil werden die Ideen, wie dem Züricher Gymi-Stress beizukommen sei, immer abwegiger: So wollte die Zürcher Regierung die Gemeinden kürzlich per Gesetz dazu verpflichten, kostenlose Vorbereitungskurse anzubieten, die allen Aspiranten des Gymnasiums zur Verfügung stehen müssen: Ein indirektes Eingeständnis, dass die Volksschule nicht im Stande ist, einer ihrer Grundaufträge zu erfüllen, nämlich die adäquate Vorbereitung aller Kinder auf eine ihren Fähigkeiten und Ambitionen entsprechende nachfolgende Bildungsstufe.

Interview mit Aldo Magno: «Auch unser System hat Ungerechtigkeiten»


Wir sprachen zum prüfungsfreien Übertritt mit Aldo Magno. Der 47-Jährige ist Leiter der Dienststelle Gymnasialbildung des Kantons Luzern. Vorher war er Rektor des Gymnasiums Immensee und Direktor am Hochalpinen Institut Ftan.

zentral+: Erinnern Sie sich an Ihren Übertritt von der Primarstufe in die nächst höhere Schule?

Aldo Magno

Aldo Magno

(Bild: PD)

Aldo Magno: Sogar sehr gut, obwohl dies schon 35 Jahre zurückliegt. Ich schaffte den Übertritt nach der 5. Primarklasse in die Aargauer Bezirksschule nämlich nur knapp. Als Arbeiterkind mit Migrationshintergrund – meine Eltern stammen aus Italien – und auch aufgrund meines Notenschnitts wäre ich eigentlich für die Sekundarschule prädestiniert gewesen. Aber meine Mutter intervenierte und meine damalige Primarlehrerin hatte den Mut, mich für die «Bez» zu empfehlen; wie sich später zeigte, ein richtiger Entscheid. Denn ich wurde ein sehr guter Bezirksschüler und wechselte nach vier Jahren problemlos ins Gymnasium.

zentral+: In der Innerschweiz treten Primarschüler ohne Prüfung in die Kantonsschulen und Gymnasien ein. Die Einigungsquote liegt bei über 95 Prozent. Überrascht Sie das?

Magno: Nein. Diese Zahl ist ein Beweis, dass dieses System funktioniert und wirksam ist. Kommt hinzu, dass Eltern, Lehrpersonen und Jugendliche das prüfungsfreie System als entspannter und weniger hektisch empfinden, weil es prozessorientiert verläuft. Man darf aber nicht vergessen, dass auch dieses System seine Ungerechtigkeiten hat, die nie ganz eliminiert werden können. Ein Notenschnitt von 5,2 in einer bestimmten Gemeinde entspricht in einer anderen Gemeinde nur einer 5,0 und reicht unter Umständen bereits nicht mehr fürs Gymnasium.

«Das Zentralschweizer Modell ist ökonomisch sinnvoller und pädagogisch durchdachter»

zentral+: Offenbar gelingt es den Primarlehrerinnen, Schüler und Eltern davon zu überzeugen, welche Schule die beste Anschlusslösung bietet.

Magno: Es geht nicht um ein Überzeugen, sondern um eine kongruente Wahrnehmung der Schülerinnen und Schüler. Dies stimmt mich positiv, weil es zeigt, dass die Lehrpersonen das Leistungspotential der Schüler realistisch einschätzen können und sich alle Akteure ihrer Verantwortung bewusst sind. Die Frage ist immer, welcher Aufwand betrieben wird, um eine Entscheidung herbeizuführen. Und da bin ich klar der Meinung, dass das Zentralschweizer Modell das ökonomisch sinnvollere und pädagogisch durchdachtere ist.

Die Situation in Zürich wirkt auf mich sehr überhitzt. Denn die grossen Gewinner der Gymiprüfungen sind bekanntlich nicht die Schüler, sondern die Akteure der privaten Bildungsindustrie. Sie verdienen sich dank teilweise völlig überteuerter Nachhilfekurse eine goldene Nase. Ein Stück weit kommt dies einer staatlich tolerierten Entmündigung der Volksschule gleich, die es mancherorts offenbar nicht schafft, talentierte Kinder selber aufs Gymnasium vorzubereiten.

zentral+: Angesichts der harmonischen Verhältnisse in Luzern oder Zug könnte der Kanton Zürich doch getrost auf die Gymiprüfungen verzichten, zumal diese bezüglich Leistungsstärke eines Schülers meist bestätigen, was man ohnehin schon weiss.

Magno: Ein direkter Vergleich ist schwierig. Denn im Kanton Zürich ist der Druck auf die Gymnasien höher als in der Zentralschweiz. Man kann deshalb nicht davon ausgehen, dass bei einem Verzicht auf die Prüfung im Kanton Zürich ein ähnlich hoher Wert an übereinstimmenden Empfehlungen zustande kommen würde, wie dies bei uns der Fall ist. Vermutlich müsste nach einem Systemwechsel im Kanton Zürich eine lange Phase der Passung stattfinden.

«Wir hatten im Kanton Luzern früher zu wenig Gymnasiasten»

zentral+: Im Kanton Luzern befürchtete man, dass die Abschaffung der Gymiprüfung vor rund 20 Jahren zu einem unkontrollierten Zustrom an die Mittelschulen führen könnte. Trat dies ein?

Magno: Ein Zuwachs fand statt, aber kein unkontrollierter. Im Kanton Luzern stieg die Gymnasialquote von 11,2 Prozent im Jahr 1999 auf 19,1 Prozent im Jahre 2012. Wir hatten früher zu wenig Gymnasiasten und haben nun aufgeholt. Vor allem in ländlichen Gebieten, wo die Quote unterdurchschnittlich tief lag, gelang es, vermehrt weibliche Jugendliche ans Gymnasium heranzuführen.

zentral+: Bei einem «soften» Übertritt, hört man oft, seien sich die Jugendlichen dem Ernst der Sache nicht bewusst. Eine Prüfung hingegen markiere eine Zäsur.

Magno: Ritualisierte Initiationsakte haben ihre Berechtigung. Ich glaube aber nicht, dass gymnasialer Vorbereitungsstress für die Entwicklung eines Zwölfjährigen förderlich ist. Ambitionierte Jugendliche – und diese wollen wir an den Gymnasien – lernen intrinsisch motiviert und brauchen keinen Prüfungsdruck. Unsere Gymnasiasten sind sich auch ohne Prüfung bewusst, dass sie an der Mittelschule kein Wohlfühlprogramm erwartet. Zudem ist der prüfungsfreie Wechsel nicht so soft, wie man meinen könnte. Er geht für viele Jugendlichen mit einem Schulortwechsel, längeren Anfahrtswegen und einer Probezeit einher.

zentral+: Manche Eltern ziehen es vor, ihr Kind mit 12 oder 13 Jahren in die kleineren gemeindlichen Sekundarschulen zu schicken, als in eine anonyme Schulfabrik mit über 1000 Schülerinnen und Schülern. Können Sie das nachvollziehen?

Magno: Sehr gut sogar. Denn die körperliche und seelische Verfassung muss berücksichtigt werden, wenn entschieden wird, welche Schule für ein Kind die beste ist. Gerade in der Pubertät geht eine riesige Schere auf, was den Entwicklungsstand von Jugendlichen betrifft. Die einen sind fast «überreif» für eine Mittelschule und können es kaum erwarten, mehr Eigenverantwortung zu übernehmen. Die anderen sind im gleichen Alter noch sehr fragil, verspielt oder unsicher und fühlen sich an einer grossen Kantonsschule trotz intellektuellen Kapazitäten nicht wohl. Wenn diese Rahmenbedingungen nicht stimmen, kann sich das sogar negativ auf die Leistung auswirken.

Deine Ideefür das Community-Voting

Die Redaktion sichtet die Ideen regelmässig und erstellt daraus monatliche Votings. Mehr zu unseren Regeln, wenn du dich an unseren Redaktionstisch setzt.

Deine Meinung ist gefragt
Deine E-Mailadresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert. Bitte beachte unsere Netiquette.
Zeichenanzahl: 0 / 1500.


0 Kommentare
    Apple Store IconGoogle Play Store Icon