«Mein Leben als Alkoholiker» – Teil I

«Saufen, kotzen, nachfüllen»

Alkoholismus ist eine Krankheit, die zahlreiche Betroffene über Jahre bis Jahrzehnte hinweg nicht einsehen wollen. (Bild: fotolia)

Zwei trockene Alkoholiker aus Luzern erzählen uns ihre Geschichte. Im ersten Teil spricht die heute 47-jährige Kerstin – über ihre Angst, die Selbstzweifel. Und über die Lügen, die ihr Umfeld zerstörten wie der Alkohol ihren Körper.

Kerstin* ist zehn Jahre alt, als sie das erste Mal Alkohol trinkt – heimlich aus Jux etwas Apfelkorn. «Ich erinnere mich noch genau an das warme, lustige Gefühl, als ich es das erste Mal spürte», erzählt die 47-Jährige. Plötzlich kann sie offen sein, witzig und ohne Hemmungen. Ein gutes Gefühl für das Mädchen mit Selbstzweifeln, das in der Schule zu den Aussenseitern zählt. Ihre Familie ist sehr konservativ. Der Vater trinkt abends ein paar Bier, die Mutter nichts. «Eine Frau trinkt nicht», heisst es.

Doch als Kerstin zwölf ist und die ersten Schulfeten stattfinden, gehört der Alkohol fest dazu. Mit Alkohol fühlt sie sich dazugehörig, hat eine grosse Klappe bei den Jungs – «es war eine tolle Rolle, ich konnte endlich cool sein».

Mit 14 kauft sie mit Freundinnen auf einer Schulreise zwei Flaschen Kräuterschnaps. Die anderen Mädchen sind bald betrunken und übergeben sich. «Ich trank einfach weiter und weiter», erzählt die schlanke Luzernerin mit den hellen grüngrauen Augen.

«Ich konnte endlich cool sein.»

Immer wieder trinkt sie, hat auch mal Blackouts, selten torkelt sie. Das Ziel ist eigentlich den Pegel, das gute Gefühl zu halten. Sie will lustig sein. Aber das Mass hat sie nicht. Wenn es Alkohol gibt, dann will sie immer noch mehr.

Mit 16 beginnt sie eine Ausbildung in der Gastronomie. Jeden Abend wird gefeiert und viel getrunken. Um offen zu sein und sich sicher zu fühlen, braucht Kerstin Alkohol. «Am Anfang waren es drei, vier Bier, dann fünf, sechs – es hat sich immer mehr gesteigert.» Im zweiten Lehrjahr beginnt Kerstin Alkohol zu klauen und ihren Chef zu belügen. Schon nachmittags kippt sie ein paar hochprozentige Schnäpse bei der Arbeit, um abends den guten Pegel zu haben. «Klar wusste ich, es war etwas viel. Aber ich habe nicht gewusst, das Alkoholismus eine Krankheit ist.» Sie gibt allen anderen die Schuld daran, wenn sie sich schlecht fühlt. «Für mich war klar: Die anderen hatten Schuld daran, dass ich trinken musste.»

Mit 20 tritt sie eine Stelle in einem 5-Sterne-Hotel in Klosters an. Eine Saisonstelle – die jungen Mitarbeiter machen ständig Party und Kerstin ist immer dabei. Zwei Jahre später beginnt sie schon morgens zu trinken, um sich sicher zu fühlen. Sie trinkt auch kaum noch Bier – das wirkt zu langsam. Sie trinkt täglich Wodka, Gin – und Martini, wenn der Magen zu sehr schmerzt. Denn zum Alkohol kommt seit drei Jahren auch die Ess-Brech-Sucht: Bulimie. «Ich hatte schlimme Magenprobleme.» Die Tage starten mit einem Schluck Bier, der aber oft gleich wieder hochkommt. «Darauf trank ich Wodka. Der blieb unten – dann kam die Ruhe.» Trinken kann sie nur noch in Raumtemperatur. «Saufen, kotzen, nachfüllen.»

Mittlerweile funktioniert Kerstin nur noch, wenn sie getrunken hat. «Ich hatte solche Angst um meinen Job.» Sie eignet sich Tricks an. Schaut, dass sie den ganzen Tag ihren Pegel halten kann – dann geht’s. Immer wieder füllt sie nach. Kommt etwas dazwischen, beginnt sie zu zittern und kann kaum noch ein Tablar tragen.

«Ich habe niemanden nahe an mich herangelassen – auch emotional.»

Doch mit der Zeit beginnt sie Dinge zu vergessen. «Ich konnte mir keine vier Kaffees mehr merken.» Immer öfters gibt es Reklamationen. Kerstin ist jetzt 26 Jahre alt. Sie ist durch die Alkoholsucht und die Bulimie nur noch 48 Kilo schwer auf 1,72 Meter. An freien Tagen trinkt sie eine Flasche Wodka, ein paar Bier, ein paar Gin. Und sie zieht sich immer mehr zurück. «Ich trank mittlerweile lieber alleine als in Gesellschaft. Dann musste ich mich nicht rechtfertigen.»

Nach sieben Jahren im Betrieb nimmt die Chefin sie zur Seite. «Ich sei aufgedunsen. Ich hätte ein Problem. Sie mache sich Sorgen um mich. Ich müsse etwas machen, sonst solle ich in der nächsten Saison gar nicht mehr wieder kommen.» Kerstin ist wütend. Aber sie hat auch ein schlechtes Gewissen. Die Chefin trifft den richtigen Ton. «Sie war wohlwollend, aber konsequent. Das war das Beste.»

Alkoholismus

Das Bundesamt für Gesundheit liess 2014 ein Suchtmonitoring durchführen (siehe Links zum Thema). Die Ergebnisse zeigen, dass in der Schweizer Bevölkerung ab 15 Jahren neun von zehn Personen zumindest gelegentlich Alkohol trinken. Etwa eine von zehn Personen trinkt täglich, etwas mehr als 40 Prozent trinken mehrmals pro Woche, aber nicht täglich und ein Drittel trinkt seltener als wöchentlich. Zirka eine von zehn Personen trinkt nach eigenen Angaben nicht mehr oder hat in ihrem Leben noch nie getrunken.

Gemäss Schätzungen sind in der Schweiz etwa 250’000 Personen alkoholabhängig.

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Hilfe findet man zum Beispiel bei den Anonymen Alkoholikern. Auch in Luzern finden regelmässig Meetings statt (siehe Links zum Thema).

Ihr jüngerer Bruder will nichts mehr von ihr wissen – zu oft hat sie ihn angelogen. «Er hat mir später erzählt, dass er manchmal gehofft hatte, ich würde auf dem Weg nach Klosters an einen Baum fahren – dann müsste er sich keine Sorgen mehr machen.» Richtige Freunde hat sie auch keine mehr. «Meine guten Freunde mieden mich. Aber das war mir damals ja auch recht.» So muss sie sich nicht rechtfertigen. Kollegen gibt es, ja – solche, die selbst viel trinken. Eine richtige Beziehung hat sie keine, denn vor der Zimmertüre ist immer Schluss. «Ich konnte niemanden nahe an mich heranlassen – auch emotional.»

Sie geht zum Psychologen und lügt ihn an, sie besucht eine Selbsthilfegruppe, die sie lächerlich findet. Ihr Ziel ist es nur, die Wogen zu glätten. Sie will ihrer Chefin und ihrer Familie beweisen, dass sie kein Problem hat. Und sie will ihren Job behalten. Danach soll alles weitergehen wie bisher.

Zwei Wochen trinkt sie nichts. Das steht sie knapp durch. «Aber ich habe mich unsicher gefühlt, stotterte, war vergesslich.» Auch ihr Aussehen leidet. Sie hat Pickel und Pusteln am ganzen Körper, kreisrunden Haarausfall. «Ich habe mich kaum vor die Tür getraut.»

Danach reist sie nach Australien. Die Ferien sind schon länger gebucht. Abends trinkt sie mit der Gastschwester ein Bier. «Eines nur, haben wir gesagt.» Doch dabei bleibt es nicht. Sie stürzt ab. Mehrmals. Eine Woche lang ist sie alleine unterwegs – an diese Woche hat sie keine Erinnerungen mehr. «Sie ist völlig aus meinem Gedächtnis gelöscht.» Zwei Bilder gibt es: Wie sie im Taxi versucht, Geld aus dem Portemonnaie zu kratzen. Und wie sie im Hotel am Pool sitzt – mit einem Sechserpack Bier.

Als sie nach Hause zurückkommt, will sie erstmal nichts trinken. Und sie darf zurück zu ihrer Stelle in Klosters. Mittlerweile sieht sie etwas besser aus. Hat wieder etwas an Bodenhaftung gewonnen. «Ich erinnere mich noch genau daran, als ich meiner Mutter am Telefon sagen konnte, dass ich eine weitere Woche nichts getrunken hatte. Es war wie Schmetterlinge im Bauch.»

«Spass und Arbeit, Liebe und Liebeskummer – alles kannte ich nur mit Alkohol.»

Die Chefin gibt ihr frei und schickt sie zu den Anonymen Alkoholikern in Davos. Das schlechte Gewissen treibt Kerstin hin. Doch sie fühlt sich am falschen Ort. «Ich fand, ich gehöre nicht dazu.» Sie will nicht dazugehören. Sie ist überzeugt, so «Gschpürschmi-Zeug» nicht zu brauchen. Trotzdem besucht sie die Treffen weiterhin.

Und nach einigen Wochen erzählt wieder einer in der Runde vom Trinken am Morgen, vom Erbrechen und dem Nachfüllen. «Und in diesem Moment habe ich zugehört und mich darin wiedererkannt.» Einige Wochen später sagt sie das erste Mal «Ich bin Kerstin, ich bin Alkoholikerin». «Hier begannen die Ehrlichkeit, das Eingestehen und das Hinterfragen.» Ein schwieriger Weg.

«Ich musste das Leben neu lernen.» Alles Positive war bei ihr mit Alkohol verknüpft. Lachen und Alkohol gehörte zusammen, witzig sein, offen sein. «Spass und Arbeit, Liebe und Liebeskummer – alles kannte ich nur mit Alkohol.»

Heute gehört es nicht mehr zusammen.

Zweimal hat sie seither noch das Gefühl gehabt, sie brauche jetzt Alkohol. Aber einen Rückfall gab es nie. «Gefährlich ist es aber nach wie vor. Man muss immer wachsam sein.» Einmal war sie krank, musste Hustentropfen nehmen – und das Gefühl war wieder da. «Ich wollte mehr, der Körper reagierte. Ich spürte wieder dieses Reissen.» Deshalb kocht sie auch bis heute nicht mit Alkohol. «Gewisse können das. Aber mir ist das zu heikel.» Doch mit Freunden ausgehen und Party machen, das tut Kerstin wieder gerne und lange. «Ich hab überhaupt keine Probleme damit, wenn die anderen dann trinken. Und ich weiss, dass ich am nächsten Morgen ohne den dicken Kopf aufwachen werde.»

«Ich bestimme, ob ich trinke oder nicht, ob ich gut drauf bin oder nicht.»

Die Bulimie zu überwinden, brauchte jedoch noch etwas länger. Erst, als sie sich verliebte und das Zusammenziehen Thema wurde, kriegte sie die Krankheit gemeinsam mit einem Psychologen in den Griff.

Heute arbeitet Kerstin in Luzern als Sozialpädagogin mit Kindern. Mit ihrer Geschichte geht sie offen um. In ihrem Umfeld wissen viele Bescheid. «Es macht es einfacher. Mir wird nichts angeboten, ich kriege keinen Wein geschenkt und so weiter.»

Doch schlussendlich, sagt sie, kann nur sie für sich selbst entscheiden. «Ich bestimme, ob ich trinke oder nicht, ob ich gut drauf bin oder nicht. Nur ich bin für mich selbst verantwortlich.»

* Der vollständige Name ist der Redaktion bekannt

Im Teil II der Kurzserie «Mein Leben als Alkoholiker» erzählt Toni (65) seine bewegende Geschichte.

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