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Kinder und Jugendliche leiden oft im Stillen. In der Akut- und Intensivstation der Luzerner Psychiatrie lernen sie, dass es anderen ähnlich geht – und dass es Auswege gibt. Die Plätze sind aber knapp.
Vor fünf Jahren hat die Luzerner Psychiatrie AG die Akut- und Intensivstation (Akis) auf dem Areal des Luzerner Kantonsspitals eröffnet. Gemäss Oliver Bilke-Hentsch, Chefarzt der Kinder- und Jugendpsychiatrie bei der Luzerner Psychiatrie AG, sind die Plätze mehr als gefragt.
zentralplus: Oliver Bilke-Hentsch, wie unverzichtbar ist die Akis für Kinder und Jugendliche?
Oliver Bilke-Hentsch: Es zeigte sich schon vor Jahren, dass es immer mehr kinder- und jugendpsychiatrische Notfallsituationen gibt. Vor der Eröffnung der Akis im Jahr 2019 wurden diese in der Kinderklinik, in Heimeinrichtungen, auf der Psychotherapiestation aufgenommen – sie waren verteilt. Diese Hilfslösungen haben irgendwie funktioniert. Aber es ist wichtig, dass die betroffenen Kinder und Jugendlichen gemeinsam an einem Ort sind.
«Die meisten Kinder und Jugendlichen, die in der Akis aufgenommen werden, weisen ein stark selbstverletzendes oder suizidales Verhalten auf.»
zentralplus: Warum?
Bilke-Hentsch: Die meisten Kinder und Jugendlichen, die in der Akis aufgenommen werden, weisen ein stark selbstverletzendes oder suizidales Verhalten auf. Wir reden hier von bis zu 85 Prozent. Sie lernen hier, dass sie mit ihren Gedanken und Sorgen nicht alleine sind. Sie können sich anderen anvertrauen, fühlen sich verstanden. Zudem sind manche der Jugendlichen in ihrem Genesungsprozess weiter vorangeschritten als sie selbst. Dadurch realisieren jene Jugendliche, bei denen die Krise noch akut ist, dass es andere da herausschaffen oder bereits geschafft haben.
Hier findest du Hilfe
Wähle die Nummer 143 der «Dargebotenen Hand», wenn es dir nicht gut geht oder du dir Sorgen um jemand anderen machst. Kostenlos und rund um die Uhr hilft dir auch die Nummer 147 (Pro Juventute).
Das Beratungstelefon der Luzerner Psychiatrie AG ist ebenfalls rund um die Uhr für Direktbetroffene von psychischen Erkrankungen sowie deren Angehörige unter 0900 85 65 65 erreichbar.
zentralplus: Zudem betreut das Behandlungsteam der Akis die Jugendlichen rund um die Uhr. Dieses besteht aus Fachpersonen der Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychologie, der somatischen Medizin, Pädagogik, Pflege sowie Lehrpersonen und Fachtherapeuten.
Bilke-Hentsch: Dass sich ein breit aufgestelltes Team um die Jugendlichen kümmert, ist der zweite grosse Vorteil. Einerseits wird Diagnostik gemacht, ob und welche seelische Störung vorliegt und ob Medikamente und Psychotherapie hilfreich sind. Bei gemeinsamen Essen, Ausflügen oder abendlichen Aktivitäten achtet das Team darauf, ob sich die Kinder und Jugendlichen sozial in die Gruppe integrieren können. Andererseits haben wir eine Musiktherapie, in der sich zeigt, ob sich Patienten und Patientinnen nonverbal ausdrücken können. Auch werden sie schulisch gefördert, so gewinnen wir Erkenntnisse, ob die schulischen Anforderungen zu gering waren oder ob eine Leistungsschwäche vorliegt. In der Akis geschehen also ganz viele Interventionen gleichzeitig. Der Tagesablauf ist klar strukturiert.
zentralplus: Die Akis bietet 15 Behandlungsplätze an. Wie lange werden Kinder und Jugendliche hier betreut?
Bilke-Hentsch: Manche bleiben nur drei bis vier Tage, die meisten werden rund sechs Wochen in der Akis betreut. Gerade suizidale Krisen sind nicht immer Teil einer schweren psychischen Störung und dauern deswegen oft nur ein paar Tage. Sie sind oft eine Mischung aus verschiedenen Stressfaktoren wie Lehrabbruch, Liebeskummer, Verluste oder Schulprobleme. Bei unseren Patienten und Patientinnen passiert häufig alles gleichzeitig, was die Krise auslöst.
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zentralplus: Was führt dazu, dass Kinder und Jugendliche in eine schwere psychische Krise gelangen?
Bilke-Hentsch: Die Entwicklung seelischer Störungen wie Angst oder Depression erfolgt grösstenteils schleichend über längere Zeit. Betroffene haben oft gute Strategien, damit umzugehen – sei das durch prosoziales Gaming, Gespräche mit einer Freundin oder den Grosseltern oder durch ungesunde Wege wie Drogen. Dann passiert etwas, das alles durcheinanderbringt: Liebeskummer, Stress in der Schule oder Zweifel nach dem ersten Lehrjahr. Wenn dann noch wichtige Stützen im Leben wegbrechen, wie beim Tod eines geliebten Haustiers oder der Oma, kann das die Krankheit auslösen.
«Etwa jeder dritte Jugendliche kommt direkt.»
zentralplus: Wie gelangen diese Kinder und Jugendlichen an die Akis?
Bilke-Hentsch: Etwa jeder dritte Jugendliche kommt direkt. Sie haben sich erkundigt, etwa erst bei der «Dargebotenen Hand», der Pro Juventute oder der Hausärztin, den Austausch gesucht und erkannt, dass sie Hilfe brauchen, um sich zu «sichern». Bei einem Drittel sind es die Eltern, die sich etwa nach einem Suizidversuch des Kindes bei uns melden. Der Rest kommt aus Pflegefamilien und Heimeinrichtungen, die überfordert sind, zu uns.
zentralplus: Wie oft kommt es zu Zwangseinweisungen?
Bilke-Hentsch: Eine Fürsorgerische Unterbringung ist nur bei etwa zehn Prozent aller Kinder und Jugendlicher der Fall. In diesen wenigen Fällen überweisen Ärzte oder die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (Kesb) die Kinder in schwersten Akutnotfällen an die Akis.
zentralplus: Wie sieht es mit dem Geschlechterverhältnis aus in der Akis?
Bilke-Hentsch: Bei den Jugendlichen sind drei Viertel der Patienten junge Frauen. Bei den Kindern sind es deutlich mehr Jungs.
«Gerade Mädchen verbergen über lange Zeit, wie es ihnen wirklich geht.»
zentralplus: Wie erklären Sie sich diesen Unterschied?
Bilke-Hentsch: Junge Frauen kommen mit vielfältigen Krisensituationen weniger zurecht als junge Männer. Mädchen sind eher nachdenklicher und melancholischer. Bei Krisensituationen sind sie tendenziell in sich gekehrter und selbstzerstörerisch. Jungs hingegen sind eher fremdaggressiv, reagieren impulsiv und aggressiv gegenüber anderen. Jungs werden also eher verhaltensauffällig, was auch das Umfeld so wahrnimmt, während sich Mädchen eher zurückziehen. Gerade Mädchen verbergen über lange Zeit, wie es ihnen wirklich geht.
zentralplus: Wie sieht es bei Jungs aus?
Bilke-Hentsch: Viele männliche Jugendliche, die den Weg in die Akis finden, haben in ihrer frühen Kindheit Gewalt erlebt und wurden vernachlässigt. Von klein auf haben sie gelernt, sich nur durch Aggressionen und Abwehr durchsetzen zu können. Bis das für (Pflege-)Familien, Heime und Schulen nicht mehr tragbar ist. Oft spielt bei diesen Jungs auch ADHS oder Lernbehinderung mit.
zentralplus: Gemäss Studien scheinen psychische Störungen bei jungen Menschen zuzunehmen. Worauf führen Sie diese Zunahme von psychischen Krankheiten zurück?
Bilke-Hentsch: In vielen entwickelten Ländern führt man den Anstieg psychischer Erkrankungen auf die Einführung der Smartphones 2007 zurück. Durch soziale Medien vergleicht man sich ständig mit anderen, hat den Druck, ständig auf dem Laufenden sein zu müssen, und ist auch eher Mobbing ausgesetzt. Das raubt Energie, sich kritisch mit sich selbst auseinanderzusetzen und sich selbst zu regulieren. Hinzu kommen aktuelle Krisen wie Kriege, Klimawandel und Klimaangst und die Pandemie.
zentralplus: Inwiefern spüren Sie Nachwirkungen der Pandemie?
Bilke-Hentsch: Für Kinder und Jugendliche waren die Massnahmen sehr einschneidend. Wer eine Zwangserkrankung hatte – wie ständiges Händewaschen oder Zwangsgedanken –, war auf das Zuhause zurückgeworfen und konnte diesen Zwängen dauernd nachgehen. Autistische Menschen konnten sich noch mehr in ihre eigene Welt zurückziehen, und auch sozial ängstliche Jugendliche merkten, dass es gar nicht nötig ist, das Haus zu verlassen. Viele haben sich tief in ihre Innenwelt zurückgezogen, da wieder herauszukommen, ist schwierig.
zentralplus: Konnten Sie durch die Pandemie auch etwas Positives gewinnen?
Bilke-Hentsch: Die Coronapandemie hat massiv auf seelische Nöte aufmerksam gemacht, die vorher bereits da waren. Die Aufmerksamkeit ist deutlich gestiegen. Das ist wichtig: Wir wissen seit Langem, dass rund 20 Prozent aller Kinder und Jugendlicher eine seelische Auffälligkeit haben, jedes zehnte Kind eine ernstere psychische Krankheit wie Depression, Angst oder ADHS. Das sind circa 110’000 Minderjährige in der Schweiz. Davon kommt aber nur wiederum jedes zehnte Kind zur Diagnostik und Behandlung. Neun von zehn Kindern mit einer psychischen Erkrankung werden überhaupt nicht diagnostiziert und behandelt. Wir Erwachsenen müssen dringend gemeinsam mehr Verantwortung übernehmen, um betroffene Kinder und Jugendliche früher auffangen zu können.
- Telefonat mit Oliver Bilke-Hentsch, Chefarzt Kinder- und Jugendpsychiatrie der Luzerner Psychiatrie AG
- Medienmitteilung der Luzerner Psychiatrie
- Informationen des BFS