Luzern: Falsche Diagnosen, fatale Folgen

Psychisch krank – und keiner merkts

Viele Patienten kommen mit körperlichen Beschwerden – dahinter steckt aber die Psyche. (Bild: zvg)

Mehraufwand, Mehrkosten und Mehrbelastung für alle: Oftmals verstecken sich hinter körperlichen Beschwerden psychische Leiden. Diese sind schwierig zu erkennen – und immer noch werden sie tabuisiert und verdrängt. Deshalb wollen Pflegende vermehrt auf die Nebendiagnose «psychisch krank» hinweisen.

In Spitälern, Kliniken, in der Spitex, in Pflegeheimen und auch in einer Rehabilitationsklinik sind zahlreiche Menschen auf Pflege angewiesen. Die Unterstützung ist dabei vor allem auf die körperliche Genesung ausgerichtet. Was dabei häufig in den Hintergrund rückt, ist die Psyche der Patienten. Psychische Erkrankungen sind nicht selten Begleiterscheinungen – die oft zu wenig beachtet werden. Dabei sind diese für die Behandlung eines Patienten von entscheidender Bedeutung, finden Mechtild Willi Studer, Leiterin Pflegemanagement im Schweizer Paraplegiker-Zentrum Nottwil (SPZ) und die Pflegefachfrau Romina Miracco (ebenfalls SPZ).

zentral+: Sie sprechen von der Nebendiagnose «psychisch krank» – warum?

Mechtild Willi Studer: Rund 20 Prozent der Menschen mit einer psychiatrischen Diagnose lassen sich in einem Akutspital oder einer Rehabilitationsklinik behandeln. Fachpersonen sprechen jedoch von weit mehr Personen mit psychischen Auffälligkeiten, die sich in der Somatik – also in einer Institution, die sich mit körperlichen Leiden befasst – behandeln lassen.

zentral+: Eine erstaunlich hohe Zahl.

Willi Studer: Was sehr spannend ist: Von den Menschen mit psychiatrischen Diagnosen, die sich im Akutspital behandeln lassen, gehen 65 Prozent später wieder dort hin. Dies letztlich wegen der psychiatrischen Erkrankung. Dieser typische Drehtüreffekt «Psychiatrie» spielt sich insofern auch in der Somatik ab.

zentral+: Wären diese Menschen in einer psychiatrischen Behandlung nicht besser aufgehoben?

«Da gehen Menschen in ein Spital und lassen sich körperlich behandeln, dabei hätten sie eine psychiatrische Behandlung nötig.»

Mechtild Willi Studer, Leiterin Pflegemanagement am SPZ

Willi Studer: Das Problem ist, dass jemand zum Beispiel mit Rückenbeschwerden immer wieder ins Spital geht, dabei liegt allenfalls ein psychiatrisches Leiden vor. Das heisst, dass diese Menschen nicht in ihrem Grundleiden erfasst, ihre Probleme zu wenig erkannt und sie darum auch nicht adäquat behandelt werden.

zentral+: Also gehen Menschen mit psychischen Erkrankungen häufig an den falschen Ort?

Willi Studer: Genau. Bei psychiatrischen Institutionen liegt die Rehospitalisationsrate nur bei 55 Prozent, sie ist also deutlich niedriger als in der Somatik. Das hat mich wahnsinnig erstaunt. Da gehen Menschen in ein Spital und lassen sich körperlich behandeln, dabei hätten sie eine psychiatrische Behandlung nötig – und landen immer wieder im Akutspital, wo sie nicht die Therapie erhalten, die sie eigentlich bräuchten. Weil psychiatrische Patienten im Akutspital, im Pflegeheim oder der Spitex betreut werden und das Personal damit oftmals überfordert ist, da sie nicht das nötige Know-how haben, haben wir uns mit einem kürzlich durchgeführten Symposium mit dem Begriff «Nebendiagnose psychisch krank» auseinandergesetzt. Der Aufmarsch in Nottwil von rund 380 interessierten Personen zeigte, dass das Thema den Pflegenden überall unter den Nägeln brennt.

zentral+: Wie gehen beispielsweise Spitäler mit solchen «Fällen» um?

Willi Studer: Sie werden oft als Störfaktor wahrgenommen. Man kommt häufig gar nicht auf die Idee, dass ein psychisches Leiden vorhanden sein könnte, das man benennen und bewältigen kann.

«Rückenbeschwerden zu haben, ist gesellschaftlich akzeptiert, eine kranke Psyche hingegen nicht.»

Mechtild Willi Studer

zentral+: Viele haben vielleicht auch Angst davor, den Stempel «psychisch krank» aufgedrückt zu bekommen. Ist das Thema nicht auch immer noch stigmatisiert und tabuisiert?

Willi Studer: Das ist leider so, ja. Rückenbeschwerden zu haben, ist gesellschaftlich akzeptiert, eine kranke Psyche hingegen nicht. Man lässt lieber einen Beinbruch kurieren als eine Angststörung oder eine schwere Depression. Den meisten fällt es leichter, in ein normales Spital zu gehen als eine psychiatrische Klinik aufzusuchen.

zentral+: Auch am Schweizer Paraplegiker-Zentrum spielt die Psyche eine grosse Rolle.

Romina Miracco: Ein besonderes Beispiel ist der Fall einer Frau, die aufgrund eines Suizidversuches querschnittgelähmt wurde. Sie hat eine mittelgradige Intelligenzminderung und leidet zudem unter einer Persönlichkeitsstörung. Deshalb war eine allgemein übliche Rehabilitation erst gar nicht möglich, weil ihre psychische Störung im Vordergrund stand. Bei Patienten ohne psychische Erkrankung gibt es so etwas wie einen psychischen Airbag, der hilft, trotz des schweren Schicksalsschlags die schwierige und anstrengende Rehabilitation in Angriff zu nehmen. Bei Menschen mit einer psychischen Erkrankung ist das äusserst schwierig.

Die Pflegefachfrau Romina Miracco (links) und Mechtild Willi Studer, Leiterin Pflegemanagement am Schweizer Parplegiker-Zentrum Nottwil.

Die Pflegefachfrau Romina Miracco (links) und Mechtild Willi Studer, Leiterin Pflegemanagement am Schweizer Parplegiker-Zentrum Nottwil.

(Bild: rob)

 

zentral+: Was hilft diesen Menschen?

Miracco: Wir arbeiten in solchen Fällen mit der Psychiatrie zusammen. Und vor allem ist es wichtig, dass man sich auf diese Menschen einlässt, ihnen zuhört. So lernt man, sie zu verstehen und kann mit ihnen zusammen herausfinden, wie ihnen am besten zu helfen ist. Klar ist, dass wir vom Schema F wegkommen mussten. Das braucht sehr viel Engagement und Einfühlungsvermögen des Pflegepersonals. Aber im Fall dieser Frau wurde es zu einer Erfolgsgeschichte: Schliesslich gelang eine erfolgreiche Rehabilitation, und die Patientin konnte am Ende sogar wieder gehen.

zentral+: Wie kann man psychisch kranken Menschen in der Pflege konkret helfen?

Miracco: In der Somatik sind wir uns gewohnt, dass man für jedes Leiden ein klares Vorgehen bei der Behandlung hat. Bei psychischen Erkrankungen geht es vermehrt darum, das Krankheitsbild zu verstehen und einen Zugang zum Patienten zu finden. Was macht man zum Beispiel bei einer Borderline-Patientin, die sich ihren Verband nicht wechseln lässt, weil sie keine körperlichen Berührungen erträgt? Da geht es je nachdem auch mal darum, abzuwägen, wie wichtig der neue Verband tatsächlich ist. Vielleicht kann das ja noch warten und man hat Zeit, das Vertrauen der Patientin zu gewinnen.

«Die Zahl von Suiziden im Alter, vor allem bei Männern, steigt markant.»

Mechtild Willi Studer

zentral+: Auch bei alten Menschen gibt es psychische Probleme. Bedeutet die steigende Anzahl pflegebedürftiger Betagter auch, dass das Thema akuter wird?

Willi Studer: Ja, da hat die Spitex zunehmend eine wichtige präventive Funktion. Die Pflegenden können frühzeitig erkennen, wenn jemand verwahrlost, sich zurückzieht oder depressiv wird. Sie sehen zum Beispiel auch, wenn eine Person sich selber gefährdet, weil sie vielleicht dauernd vergisst, die Herdplatte auszuschalten. Präventive Hausbesuche von geschultem Personal sind darum sehr wichtig. So können etwa auch mögliche Suizidabsichten erkannt und verhindert werden. Die Zahl von Suiziden im Alter, vor allem bei Männern, steigt markant.

«Es ist immer noch so, dass psychische Krankheiten viel zu oft nicht behandelt und zu wenig ernst genommen werden.»

Romina Miracco, Pflegefachfrau

zentral+: Werden psychische Leiden immer noch unterschätzt?

Miracco: Es ist immer noch so, dass psychische Krankheiten viel zu oft nicht behandelt und zu wenig ernst genommen werden. Dabei spielt die menschliche Psyche eine enorm wichtige Rolle.

zentral+: Jeder zweite Mensch hat im Verlauf seines Lebens zumindest einmal eine psychische Störung. Das ist eine erstaunliche hohe Zahl.

Miracco: Ja – und häufig werden diese Krankheiten stigmatisiert, weil wir in unserer Gesellschaft, die sich sehr stark über Erfolg und Stärke definiert, keinen Platz für psychische Leiden haben. Man schweigt sie tot. Häufig sind die Erkrankten auch kaum fassbar, weil sie nichts Sichtbares, keinen Gips am Arm oder Ähnliches haben.

Willi Studer: Ich habe bei Menschen mit Depressionen erlebt, dass sie von den Angehörigen erst als ernsthaft krank wahrgenommen wurden, als man ihnen statt Pillen die Antidepressiva mittels Infusion verabreichte. Da sagte das Umfeld plötzlich: Aha, du bist ja tatsächlich krank. Eine Infusion macht eben Eindruck.

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1 Kommentar
  • Profilfoto von Luchsfan
    Luchsfan, 07.12.2015, 11:04 Uhr

    Super das endlich mal «Das Kind beim Namen»genannt wird.
    Ich denke ein weitreres Problem ist gerade bei Psychisch Kranken Personen auch die Finanzierung.
    Die Krankenkassen Bezahlen eher Körperliche Leiden als Psychische.
    Auch wenn man zur Kur will muss man oft vieles oder sogar alles selber Bezahlen und eine dementsprechende Zusatzversicherung erhält man ab der Behandlung eh nicht mehr.

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