Staatsanwalt zieht Berufung vor Gericht zurück

Podium-41-Messerstecher ist endgültig ein freier Mann

Was sich am 12. August 2017 frühmorgens vor dem Podium 41 zugetragen hat, wird nie ganz aufgeklärt werden können. (Bild: mbe.)

Weder das Opfer noch die Staatsanwaltschaft konnten sich mit dem Freispruch für den Messerstecher vor dem Podium 41 anfreunden und legten Berufung ein. Ein Urteil des Zuger Obergerichts erübrigt sich nun – der Staatsanwalt machte während der Verhandlung einen Rückzieher.

Am Ende lagen sich die Familienangehörigen in den Armen. Auch ohne Worte war die Erleichterung im Gerichtssaal sicht- und spürbar. Was war passiert?

Soeben hatte der Staatsanwalt am Zuger Obergericht verkündet, seine Berufung zurückzuziehen. Dies bedeutet, dass der Beschuldigte Rico* definitiv freigesprochen ist. Dieser hatte nach einem nächtlichen Streit im August 2017 vor dem Podium 41 in Zug seinen Kontrahenten Fabian* mit einem Victorinox-Messer lebensbedrohlich verletzt (zentralplus berichtete). Heute leidet er zumindest körperlich nicht mehr an den Folgen des Vorfalls.

Vorausgegangen war ein von Fabian provozierter Streit. Er nahm Ricos Kollegen das Handy weg und steckte es sich in die Unterhose. «Was wollt ihr nun machen? Ich fresse euch alle auf!», blaffte er. So weit waren sich am Dienstagvormittag im Gerichtssaal alle Parteien einig. Doch wie es anschliessend weiterging, liess bisweilen die Emotionen hochgehen. Einerseits waren sich Fabian und Rico uneins, andererseits verstrickten sie sich durch das hartnäckige Nachhaken der Richter selbst in Widersprüche.

Die Bierflasche im Gesicht befürchtet

Rico schilderte die Situation folgendermassen: Er sei von seinem Kollegen auf das entwendete Handy aufmerksam gemacht worden und daraufhin von einem Freund Fabians weggestossen und getreten worden. «Ich nahm dann das Messer aus meinem Rucksack, klappte es jedoch noch nicht auf. Dieses trug ich damals immer bei mir. Ich hörte das Klirren einer Glasflasche und sah im Augenwinkel, wie Fabian eine Ausholbewegung machte», erzählte der 23-Jährige.

«Ich fürchtete um mein Leben.»

Beschuldigter

Er habe fest damit gerechnet, in der nächsten Sekunde einen Hieb mit der zerschlagenen Bierflasche ins Gesicht zu bekommen. «Ich fürchtete um mein Leben, duckte mich, klappte das Messer auf und versuchte Fabian am Arm zu schneiden – bloss, damit er von mir ablässt. Schlimmer verletzen wollte ich ihn keinesfalls.» Unglücklicherweise habe sich sein Angreifer bewegt, weswegen er den Oberkörper traf. Das Resultat war eine fünf Zentimeter tiefe Stichwunde.

Anschliessend habe er erfolgreich das Handy vom am Boden liegenden Fabian zurückgefordert und sei davongerannt. Das Messer warf er in den Zugersee, weil er «damit nichts mehr zu tun haben wollte».

Handyklau «purer Blödsinn»

Fabian, der nach eigenen Angaben an einer schweren Persönlichkeitsstörung und ADHS leidet und eine 100-prozentige IV-Rente bezieht, hat die Ereignisse etwas anders in Erinnerung. Er habe sich unmittelbar vor dem Stich nicht bewegt. Ausserdem habe er die Bierflasche erst in die Hand genommen, als er das Messer in Ricos Hand sah.

«Ich war zu stolz und zu arrogant.»

Opfer

«Als ich die Bierflasche halbieren wollte, zerbarst sie jedoch komplett und ich hatte nur noch den Flaschenhals in der Hand. Diesen warf ich in die Wiese und machte ohne etwas in der Hand eine Ausholbewegung.» Damit habe er Rico Angst machen wollen, damit dieser das Messer nicht einsetzt.

Einer der Richter wollte von Fabian wissen, weshalb er nicht einfach das Handy zurückgegeben habe, besonders als er das Messer entdeckte. «Ich war zu stolz und zu arrogant dafür», lautete die Antwort. Dass er das Handy überhaupt genommen hatte, sei purer Blödsinn gewesen.

Strafgericht entschied auf Notwehr

Rico und Fabian kannten sich vor dem Vorfall nicht und hatten sich seither einzig bei der Verhandlung vor dem Strafgericht wiedergesehen. Die Vorinstanz taxierte im letzten Dezember den Messerstich als Notwehr und sprach Rico deswegen vom Vorwurf der versuchten vorsätzlichen Tötung frei (zentralplus berichtete).

«Zwei junge, betrunkene Männer haben sich in eine Situation reineskaliert.»

Staatsanwalt

Mit diesem Urteil konnten sich weder Fabian, noch die Staatsanwaltschaft anfreunden, die eine sechsjährige Freiheitsstrafe forderte. Entsprechend gingen sie in Berufung. Fabian machte ursprünglich eine Schadenersatzforderung von 5’000 Franken sowie eine 20’000-fränkige Genugtuung geltend. Erstere zog er jedoch ohne Angabe von Gründen wieder zurück. Er trat als Privat- und Anschlussberufungskläger auf. Auf das Stellen eines eigenen Antrags sowie das Halten eines Plädoyers verzichtete der heute 19-Jährige jedoch.

Erleichterung und Frust

Die Staatsanwaltschaft hielt zunächst am geforderten Strafmass fest. Sie wurde jedoch von einem anderen Staatsanwalt vertreten als bei der Vorinstanz. Dieser gab unumwunden zu, dass es für ihn nicht einfach sei, sich einzig anhand der Akten ein Bild zu machen. Beim zweiten Parteivortrag nach dem Plädoyer fasste er die Geschehnisse jedoch sehr treffend zusammen: «Zwei junge, betrunkene Männer haben sich in eine Situation reineskaliert. Beide fühlten sich bedroht, weswegen sie sich als Verteidiger sehen. Entsprechend tut sich die Justiz mit dem Urteil, wer Opfer und wer Täter ist, schwer.» Mit dieser Begründung zog er überraschenderweise die Berufung zurück, weswegen das erstinstanzliche Urteil, also der Freispruch, stehen bleibt.

«Beide Männer sind sowohl Opfer als auch Täter.»

vorsitzender Oberrichter

Der vorsitzende Oberrichter schien froh zu sein. Er gab offen zu, dass es «wahnsinnig schwierig» sei, in diesem Fall zu urteilen. Sowohl Rico, als auch Fabian seien Opfer und Täter. «Es ist sehr dumm gelaufen, dass es zu einer solch schweren Verletzung kam», konstatierte er.

Während auf der einen Seite Erleichterung herrschte, war Fabian der Frust ins Gesicht geschrieben. Er, der den Fall aus einem Gefühl der Ungerechtigkeit weitergezogen hatte, fühlte sich offensichtlich ein weiteres Mal von Justitia im Stich gelassen.

*Namen von der Redaktion geändert

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