Luzerner über seine lange Wartezeit

Organempfänger: «Jeder Tag hätte mein letzter sein können»

Marc Zulian rät allen, sich Gedanken zu machen über die Organspende. (Bild: zvg)

Anderthalb Jahre hat Marc Zulian auf eine Spenderleber gewartet. Der 61-jährige Luzerner, inzwischen im Kanton Zug zu Hause, erzählt von seinem Leidensweg und dem glücklichen Ausgang letzten Sommer.

«Anfangen hat alles mit einer harmlosen Blutkontrolle. Zunächst schien sie unverdächtig, ich hatte ja auch keinerlei Schmerzen. Doch dann kam das Telefon des Arztes, dass ein Wert verdächtig sei. Bei den weiteren Kontrollen wurden fünf Tumore in meiner Leber festgestellt. Der Arzt sagte: Sie können jetzt zwei Monate auf einen Segeltörn oder versuchen, eine Spenderleber zu beantragen. Wieso zwei Monate?, fragte ich ihn, denn der Groschen fiel bei mir nicht sofort. Im einen Moment noch kerngesund, im nächsten kann man schon morgen tot sein – das muss man erst verdauen.

Diagnose der Mutter verschwiegen

Krebs und Leberzirrhose, lautete die Diagnose. Dank meinem Job als Betriebswirtschaftler konnte ich problemlos zu Hause arbeiten. Die Coronapandemie lieferte mir dafür einen prima Deckmantel. Denn bald kam die Frage auf: Wem erzähle ich davon? Natürlich meiner Frau, ebenso den engsten Verwandten. Ich entschied mich auch dafür, die Geschäftsleitung der Firma einzuweihen. Meiner 86-jährigen Mutter hingegen sagte ich nichts, sie hätte das nicht durchgestanden.

Unterwegs musste ich fortan immer eine Notfalltasche dabeihaben. Denn jederzeit hätte der Anruf kommen können, dass ein Organ für mich bereitstehe. Dann muss man innert Kürze ins Spital. Ein Segeltörn wäre also keine gute Idee.

Die schwierige Ungewissheit und das bange Warten

Die Monate vergingen, ich erduldete zahlreiche Behandlungen, Bestrahlungen, Untersuchungen, sogar radioaktives Material wurde meinem Körper verabreicht. Am Ende half alles nichts. Eine Ärztin sagte mir, meine Leber gleiche einer Mondlandschaft.

Meine einzige Hoffnung war also, dass jemand anders mit einer gesunden Leber sterben würde. Wieder zogen viele Monate ins Land. Das Schlimmste ist die Ungewissheit. Zu wissen, ich sterbe wohl im nächsten Jahr, ist sehr hart. Für mich war es aber noch härter, gar nicht zu wissen, was Sache ist. Als Patient weiss ich ja nicht, auf welchem Rang der Warteliste ich stehe. Immerhin bekommt man als Leberpatient in der regelmässigen Sprechstunde sogenannte MELD-Punkte: Je höher der Wert, desto grösser die Wahrscheinlichkeit, bald zu sterben – oder eben ein Spendeorgan zu erhalten. Mir hat das geholfen.  

Der Optimist wird nachdenklich

Ich bin grundsätzlich ein optimistischer Mensch. Doch die Krankheit machte mich nachdenklich und auch aggressiv. Was habe ich falsch gemacht? Ich war ja nie Alkoholiker. Wieso gerade ich? Man kann oberflächlich noch so cool sein, unterbewusst plagen einen viele Zweifel. Wie manage ich den Alltag, ohne dass es alle merken? Es kommt so viel Neues auf einen zu.

«Dann kam der Anruf: Herr Zulian, wir haben eine Leber für Sie!»

Ich sah in dieser Zeit am Spital viele Ärzte kommen und gehen. Erst als ich im Juli 2021 mal bei einer Ärztin in der Sprechstunde war, spürte ich, dass etwas nicht gut lief. Sie riet mir zu einem Gallentest. Ich befolgte ihren Rat. Im Anschluss an die Untersuchung besuchte ich mit meiner Frau ein Einkaufszentrum. Sie shoppte, ich wartete. Dann kam der Anruf: «Herr Zulian, wir haben eine Leber für Sie!» Man muss sich diesen Moment vorstellen: Nach anderthalb Jahren Wartezeit, in der jeder Tag der letzte hätte sein können, kommt urplötzlich diese Nachricht. Unglaublich.

Innert einer halben Stunde war ich in der Notaufnahme im Unispital Zürich; bereits knapp zwei Stunden später wurde ich operiert. Danach das Aufwachen mit einer neuen Leber. Ich hatte grosses Glück, denn mein Körper erholte sich rasch und es gab kaum Komplikationen. Nur, dass ich mit drei Männern ein stickiges Zimmer teilen musste, war zunächst unangenehm. Doch es zeigte sich, dass wir auch unser Schicksal teilten: Alle drei hatten eine Transplantation hinter sich. Wir schauten gemeinsam die Fussball-WM und hatten gemeinsam Schmerzen. Um nichts hätte ich ein Einzelzimmer gewollt.

Die berührende Nachricht der Angehörigen des Spenders

Wessen Leber ich in mir trage und wem ich mein Leben verdanke, weiss ich nicht. Die Spende ist immer anonym. Aber ich konnte über einen Vertrauensarzt der Familie ein Dankesmail schreiben. Ein paar Monate später erhielt ich eine berührende Antwortkarte von der Schwester meines Spenders. Sie schrieb mir: Jemandem ein zweites Leben geschenkt zu haben sei das einzig Gute am schlimmen Unfall ihres Bruders.

Offenbar mussten die Geschwister bei ihm entscheiden, ob seine Organe gespendet würden. Da muss man innert weniger Stunden Ja oder Nein sagen – das bedeutet nach dem Schock über den Tod zusätzlichen Stress. Ich selbst habe vor meiner Erkrankung auch keinen Spenderausweis besessen. Die gesunde Bevölkerung kümmert sich leider kaum darum.

Für mich waren es anderthalb harte und einschränkende Jahre. Doch ich hatte grosses Glück. Ich werde am 15. Mai Ja stimmen, weil ich glaube, dass es dadurch mehr Spendeorgane geben wird. Und das kann viel Leiden verhindern oder verkürzen.

Doch meine Hauptbotschaft ist, unabhängig von dieser Abstimmung: Macht euch in Ruhe Gedanken über die Organspende, tauscht euch mit euren Angehörigen aus und haltet euren Entscheid fest. Denn das ist, was im entscheidenden Moment zählt.»

In diesem Video erklärt der Bund, worum es bei der Abstimmung am 15. Mai geht:

Verwendete Quellen
  • Telefonat mit Marc Zulian
  • Website Swisstransplant

Hinweis: Im Verlauf der nächsten Woche publiziert zentralplus ein Gespräch mit einem Kritiker der Abstimmungsvorlage.

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