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Sie stehen am Rand unserer Gesellschaft und sind gerade im kleinen, reichen Zug noch unsichtbarer als sonst: armuts- und suchtbetroffene Menschen. zentralplus hat Gassenarbeiter Walter Frei auf seiner Tour begleitet und erfahren, wieso Obdachlose oft nicht auffallen.
«Wenn ich dich sehe, geht's mir doch immer gut», sagt der Mann.
Wir stehen an der Bartheke des Podiums 41 in Zug. Dem Begegnungsort ohne Konsumationszwang. Menschen sitzen an den Tischen draussen, trinken Kaffee, Tee oder eine Dose Bier. Ein Mann breitet sorgfältig ein paar Papiere auf den Tischen aus. Später wird er Walter Frei, den Gassenarbeiter von der Beratungsstelle Punkto Zug, mit seinen Lohnabrechnungen aufsuchen und ihn fragen, warum plötzlich mehr von seinem Lohn abgezogen wird. Nämlich 70 Franken – und das ist viel Geld, wenn man am Existenzminimum oder darunter lebt.
Obdachlose werden vertrieben
Walter Frei schaut hin, wo andere wegschauen. Gerade im reichen Kanton Zug scheint die Obdachlosigkeit unsichtbar zu sein. Da gibt es das Bettelverbot: Auf den Strassen Zugs ist es verboten, um Geld zu betteln. Wer es trotzdem tut, wird gebüsst. Das wird sich aber bald ändern, denn der Kantonsrat hat im vergangenen November einer Lockerung zugestimmt (zentralplus berichtete). In Zug werden Platzverweise ausgesprochen, Obdachlose werden von Polizei und von Sicherheitsdiensten meistens vertrieben.
Auch für Frei, der gelernter Milchtechnologe ist und sich vor zehn Jahren zum Pflegefachmann, Richtung Psychiatrie, umschulte, war die Obdachlosigkeit zu Beginn unsichtbar. Das erzählt er später am Tisch bei einem Espresso. «Aber wenn man genauer hinschaut, sieht man die Details und hört die Not heraus.»
Menschen passen sich an, um nicht aufzufallen
Zug ist relativ klein. Man kennt sich. «Die Menschen achten darauf, dass sie sich ihrem Umfeld anpassen, um nicht aus dem Raster zu fallen», erzählt Gassenarbeiter Frei. «Deshalb bewegen und kleiden sie sich entsprechend. Deswegen sind Obdachlosigkeit und Armut im Kanton Zug auch so unsichtbar.»
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Und tatsächlich: Wer sich im Podium 41 umsieht, sieht ganz normale Menschen. Hier werden diese Menschen nicht vertrieben. Im Gegenteil, hier sind sie gern gesehen. 1982 wurde das damalige Jugendzentrum «Chaotikum» eröffnet – auf die Vergangenheit weist auch ein Bild an der Wand hin, das uns Domenik Eisenring zeigt, der das Podium 41 seit 2019 führt (zentralplus berichtete).
Sie sind dankbar – und manchmal leicht genervt
«Hier ist sicher der Hotspot von Menschen im Kanton Zug, die eher am Rande der Gesellschaft stehen», sagt Walter Frei. Und es sei auch gut so, dass diese Menschen ihre Treffpunkte haben. Auch deshalb, weil der Gassenarbeiter sich mit sucht- und armutsbetroffenen Menschen austauschen kann. «So kann ich jemanden ansprechen, wenn ich sehe, dass es ihm oder ihr schlechter geht, den Menschen etwas zu beschäftigen scheint», sagt der 36-Jährige.
Als Gassenarbeiter setzt er sich zu den Menschen, an denen so mancher vorbeihastet. Viele, die ihm begegnen, grüssen ihn mit einem «Hoi Walti!». «Die meisten sind dankbar und schätzen es, wenn ihnen einfach mal jemand zuhört. Andere sind vielleicht manchmal ein wenig genervt», so Frei. Deswegen fragt er erst, ob er sich zu ihnen setzen darf. Andere wiederum suchen von sich aus das Gespräch mit dem Gassenarbeiter.
Auf dem Yellow-Schiff wird über Putin und Corona geflucht
Der Espresso und der Tee vor uns sind ausgetrunken. Wir brechen auf, ein paar Meter weiter zum Schiff Yellow der Gemeinnützigen Gesellschaft Zug (GGZ). Im Winter dient das Gastschiff als Mittagsbeiz für sozial benachteiligte Menschen. Jährlich werden hier zwischen 5'000 und 6'000 Menüs gekocht und gegessen.
Walter Frei verteilt an diesem Dienstagmittag auch mehrere Gutscheine, mit denen Bedürftige das Essen gratis beziehen können. Letztes Jahr hat er rund 2'600 solcher Bons verteilt.
«Das oberste Ziel ist es, Betroffene dabei zu unterstützen, ein gutes Leben zu führen. Was das auch immer für sie heisst.»
Corona, der Ukraine-Krieg, Putin und Biden – hier wird über die Tische hinweg alles diskutiert. Ein kleiner Hund trippelt auf dem Schiff umher, scheint eine Fährte auf dem Boden aufgenommen zu haben. Es wird gegessen, manchmal geflucht.
Zuhören und unterstützen lautet die Devise
Zum ersten Mal treffen wir auch auf eine Frau. Sie ist jung, scheinbar seit ein paar Wochen obdachlos. Angesehen hätte man auch ihr das nicht. Leise spricht sie Walter an. Sie wird nachher noch in Ruhe mit ihm zusammensitzen.
In seiner Arbeit hört Frei vor allem zu. «Das oberste Ziel ist es, Betroffene dabei zu unterstützen, ein gutes Leben zu führen. Was das denn auch immer für sie heisst.» Denn die Gassenarbeit unterstütze bedürftige Menschen immer dann, wenn sie selbst «in Bewegung kommen». «Sie sollen autonom und selbstbestimmt leben können.»
Etwa acht Menschen leben in Zug auf der Gasse
Frei schätzt, dass derzeit etwa acht Menschen im Kanton Zug kein Dach über dem Kopf haben. Ein paar Dutzend finden Unterschlupf bei Freunden oder in den Notzimmern. Wie kommt es, dass im reichen Kanton Zug Menschen in die Obdachlosigkeit geraten? «Ich glaube, Geld ist gar nicht mal so entscheidend. Es sind die Schicksalsschläge im Leben, die dahinter stehen», sagt Frei.
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Sei das eine Krankheit, ein traumatisierendes Erlebnis wie die Trennung oder der Verlust eines Partners oder der Konkurs mit der eigenen Firma. «Der klassische Süchtige ist in den Hintergrund getreten», sagt Frei. Dieses veraltete Bild des Heroin-abhängigen Menschen aus Platzspitz- und Lettenzeiten entspricht nicht mehr der Realität. «Heute sind die Fälle komplexer, die psychiatrischen Aspekte wiegen schwerer.»
Wenn Bedürftige ihre Wohnung verlieren, wird's kritisch
Neben Finanzen, Formularen oder E-Mails, die Bedürftige nicht verstehen, ist besonders das Wohnen ein grosses Anliegen. Bezahlbare Unterkünfte sind knapp. Walter Frei erzählt von einer Wohnung, die in einem Jahr abgebrochen wird: 150 Bewerbungen habe es auf diese gegeben. Auch die Notzimmer reichen oft nicht aus und Betroffene müssen in die umliegenden Kantone wie Luzern und Zürich ausweichen. «Das löst enormen Stress aus», so Frei.
«Ich bin überzeugt, es kann jedem passieren.»
«Oftmals vermittle ich zwischen unseren Klienten und den Verwaltungen. Das hat eine sehr hohe Priorität. Um möglichst zu verhindern, dass bei finanziellen Problemen unseren Klienten die Wohnung gekündigt wird.» Und er fährt fort: «Denn wenn armuts- oder suchtbetroffene Menschen ihre Wohnung verlieren, finden sie kaum mehr eine neue Wohnung.» Betreibungen, Verlustscheine, ein tiefes Einkommen – alles Gründe, warum die Menschen aus dem Raster fallen.
Durch seine Arbeit als Gassenarbeiter hat er vor allem eines gelernt: «Ich bin überzeugt, es kann jedem passieren. Ein Schicksalsschlag, ein Schnitt im Leben, der dazu führt, das man alles verliert. Keiner ist davor gefeit.»
Wir brechen auf und lassen Walter Frei zurück. Es warten noch ein paar Gespräche auf ihn.
- Persönliches Treffen mit Walter Frei von punkto Zug
- Frühere Medienberichte