Was macht eigentlich …?

Nacktkünstlerin Milo Moiré: «Es ging mir nie um Skandale»

Milo Moiré vor ihren nackten Selfies. (Bild: ida)

Ihre Kunst schockierte, begeisterte – und polarisierte. Milo Moiré, gebürtige Luzernerin, spricht über Nacktheit, digitale Unsterblichkeit und darüber, warum Provokation nie ihr Ziel war.

London, Trafalgar Square, 2016. Eine Frau mit markantem Bob spricht in ein Megafon. «Ich stehe hier für die Frauenrechte und die sexuelle Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau. Wir entscheiden selbst, wann wir berührt werden wollen und wann nicht.»

Durch das Top schimmern ihre Nippel, um die Hüften trägt sie eine grosse, mit Spiegeln bedeckte Box. Vor ihrem Intimbereich: eine Öffnung, verdeckt mit roten Samtvorhängen. Milo Moiré, so heisst die Frau, ist Performancekünstlerin, die an diesem Tag Passanten dazu auffordert, sie 30 Sekunden lang zu berühren. «Fühlt euch frei!»

Die Aktion sorgt für Aufsehen. Die Luzernerin führte die «Mirror Box»-Performance in mehreren Städten durch – London, Düsseldorf, Amsterdam. In London wird sie von Polizisten abgeführt, fast 24 Stunden lang festgehalten. Die Strafe: 750 Pfund.

Mut vergeht nicht – er verändert sich

Heute, fast zehn Jahre später: Bern, Galerie Glaab, vor einer Vernissage. Milo Moiré lächelt, wirkt ruhig. «Manchmal denke ich selbst: ‹Wow, das war so mutig, was ich da gemacht habe›», sagt sie rückblickend. Ruhiger ist sie geworden, so scheint es zumindest – aber nicht zahmer, wie sie betont. «Ich will mich weiterentwickeln. Vielleicht bin ich reifer geworden.»

Moiré sieht sich nicht nur als Performerin, sondern auch als Konzeptkünstlerin. Der Schritt auf die Strasse war nie spontan, sondern vorbereitet. Seit einigen Jahren führte sie keine Performances mehr durch. Vielleicht, weil sie früher 17 Jahre lang mit einem Partner zusammen war, der sie dabei unterstützt habe. «Danach habe ich ein paar Jahre gebraucht, um mich neu zu orientieren.»

Nackt, laut, unbequem

Auch wollte sie nie Dinge tun, nur um Erwartungen anderer zu erfüllen. «Ich weiss noch, wie ich nach der ‹Mirror Box› immer wieder von Medien gefragt wurde, was als Nächstes kommt. Diesem Druck wollte ich mich nicht unterwerfen. Es ging mir nie um Skandale – sondern darum, Inhalte zu setzen, die mir wichtig sind.»

«Was macht eigentlich …?»

Sie waren erfolgreich, engagiert, bekannt, begehrt, beliebt oder sie polarisierten. zentralplus fragt bei Personen nach, die aus dem grossen Rampenlicht verschwunden, im Ruhestand sind oder umgesattelt haben. In einer losen Serie geht zentralplus der Frage nach: «Was macht eigentlich …?»

Die Inhalte waren klar: Es ging ihr um Frauen, um Selbstbestimmung, sexuelle Freiheit, um den Protest gegen sexuelle Gewalt. Moiré forderte die Gesellschaft auf, über das zu sprechen, was viele lieber verdrängen.

Ein Beispiel: die Silvesternacht 2015/2016 in Köln. Als Frauen dort von Männern umzingelt und sexuell belästigt wurden, geht Moiré nackt auf die Strassen Kölns. «Respektiert uns! Wir sind kein Freiwild, selbst wenn wir nackt sind!!!», steht auf ihrem Schild.

Moiré blickt mit Stolz auf diese Zeit zurück. «Das, was ich gemacht habe, hat viel in den Menschen bewegt und ausgelöst. Einerseits ging ich auf Ängste ein – auch meine eigenen: Nacktheit, Sexualität, sich der Öffentlichkeit auszusetzen, ohne zu wissen, was passiert.»

Milo Moiré lebt heute in Düsseldorf. (Bild: Milo Moiré)

Nicht Hülle, sondern Haltung

Wer nackt in die Öffentlichkeit geht – und andere auffordert, sie anzufassen, provoziert. Kritikerinnen bemängelten, dass sie sich und andere Frauen auf ihren Körper reduziere. Andere wiederum feierten sie als eine Pionierin, die Diskussionen anstiess, gesellschaftliche Tabus hinterfragte und unbequeme Themen sichtbar machte.

«All die bewegten Meinungen haben mir gezeigt, dass die Leute verstanden haben, worum er mir geht.»

«All die bewegten Meinungen haben mir gezeigt, dass die Leute verstanden haben, worum es mir geht», sagt Milo Moiré. Sie sieht ihren Körper nicht als Objekt, sondern als Medium. «Ich kann mit meinem Körper kommunizieren.» Dass dieser und das Thema Selbstbestimmung zum Zentrum ihrer Kunst werden würden, war ihr anfangs nicht bewusst.

Schon als Kind habe sie gemerkt, dass ihr Körper leistungsfähig sei. Sie sei eher ruhig und schüchtern gewesen, machte viel Sport. Durch ihren Körper habe sie das Gefühl gehabt, etwas erreichen zu können. Später realisierte sie: «Sobald eine Frau nackt ist und etwas tut, das der Gesellschaft nicht passt, wird sie schnell degradiert.»

Die meisten nennen sie Milo – die Familie Sue

Ihr bürgerlicher Name ist Sue, aber auch Freundinnen nennen sie mittlerweile Milo. Privat sei sie loyal, ehrlich, konfrontativ. «Ich schaue hin – das wünsche ich mir auch von einem Partner.» Ein Beispiel: Bei einem Event sah Moiré, wie ein Mann eine Frau schubste. Sie spricht ihn direkt an: «Das geht nicht – egal, was vorher war.»

Ihr Weg zur Kunst war nicht gradlinig: Moiré hat das Lehrerseminar in Luzern gemacht, in einem Kinderhort und als stellvertretende Lehrerin gearbeitet. 2011 hat sie an der Uni Bern den Master in Psychologie abgeschlossen.

Heute lebt sie mit ihrem Partner und ihren beiden Siamkatzen Filou und Coco in Düsseldorf. Sie arbeitet als Creative Director bei Mack One in Deutschland, entwickelt VR-Welten, in denen sie eine Art Göttin verkörpert. Sie ist Unternehmerin, Künstlerin – und sie macht auch Onlyfans.

Ihre Wurzeln hat sie nicht vergessen. In Luzern sind ihre Eltern und ihre Schwester zu Hause. Die Familie besitze ein Boot auf dem Vierwaldstättersee, Moiré liebt es, hier zu schwimmen, geniesst das Panorama, die Ruhe. «Immer, wenn ich in der Schweiz bin, höre ich ein Ticktack. Wie eine Uhr. Es fliesst alles in einem gewissen, schönen Tempo.»

Zwischen Kunst und Pornografie

In der Berner Galerie Glaab werden zum ersten Mal Kunstwerke von Moiré gezeigt – die «Naked Selfies», sechs Werke aus der «PlopEgg»-Serie und zwei «Playboy»-Strips können hier gekauft werden. «Moiré positioniert sich bewusst an der Schnittstelle zwischen Kunst und Pornografie, die nackte Aufführung ihrer Werke laden Medien zur Zensur ein», schreibt Galeristin Jasmin Glaab – eine gebürtige Zugerin – im Werkkatalog der Galerie. Diese handelt mit zeitgenössischer und feministischer Kunst nach 1945.

Moiré würde sich freuen, ihre Kunst auch einmal in Luzern zu zeigen – etwa im KKL.

Sie ist sich «nicht zu schade» für erotische Filme

Eine Welt ohne Tabus, in der jeder frei ist, sich selbst auszuprobieren – das ist Milo Moirées Ideal. Geprägt von Verführung, Sinnlichkeit und Lust. «Und einfach Spass zu haben, an dem wunderschönen Thema, das uns alle auf die Welt gebracht hat.» Deshalb schätzt sie den Austausch mit Männern auf Onlyfans. Inzwischen beschäftigt sie dafür sogar Mitarbeitende.

Sexualität sei irrational, paradox – und in der Kunst noch immer tabuisiert. «Dabei ist sie existenziell. Ich will dorthin, wo andere nicht hingehen. Ich bin mir auch nicht zu schade für einen erotischen Film.»

Milo heisst eigentlich Sue. (Bild: Milo Moiré)

Der digitale Zwilling von Milo Moiré

Sex, Kunst, Künstliche Intelligenz – das ist ihr Kosmos. Vor allem psychologische Themen beschäftigen sie: Warum flüchten Menschen lieber in Fantasien als in echte Nähe? Wo verlaufen die Grenzen? Darum produziert sie Inhalte für soziale Medien und Onlyfans – sitzt aber genauso am Schreibtisch, liest, recherchiert, denkt.

Sie will sich besonders im digitalen Bereich weiterentwickeln. «Ich habe einen digitalen Zwilling von mir», verrät Moiré. «Für immer eingefroren und unsterblich zu sein – dass Leute mit mir reden können, wenn ich tot bin, das fasziniert mich sehr.»

In einem Berliner Studio wurde sie mit 98 Kameras gescannt, Mimiken und Sätze wurden eingespeist. Gemeinsam mit Masterstudierenden einer Hochschule möchte sie mit diesem digitalen Zwilling Kunstwerke erstellen. Ziel: die reale und digitale Moiré zusammenbringen – etwa in einer Gaming-Situation.

Jedes Bild war eine Geburt

Moiré blättert durch den Werkkatalog der Galerie Glaab vor ihr und tippt auf ein Foto, das im Rahmen der Serie «Naked Selfies» (2015) entstanden ist.

Das Bild zeigt eine ältere Frau – sie im mintfarbenen Trenchcoat, lächelnd, die Augen geschlossen, Moiré ist nackt – beide legen den Arm umeinander. «Das ist eines meiner Lieblingsbilder. Die Frau war so süss», sagt Moiré.

Ein weiteres Beispiel für die Serie stammt aus Paris, aufgenommen beim Eiffelturm auf dem Trocadéro-Platz. Zwei Passanten halten ihre Glacés vor Moirés Brust.

Ihre Aktion fand in Paris jedoch ein abruptes Ende. Moiré musste ihre Selfieaktion abbrechen und der Polizei aufs Revier folgen. «Von einem Moment auf den anderen auf den anderen Moment war ich eine Kriminelle – und musste die Nacht in der Zelle verbringen.»

Ganz anders in Berlin. Auf dem Alexanderplatz wollten Polizisten von Moiré wissen, was sie da mache – und ob sie wisse, dass das gefährlich sei. «Schliesslich fragten sie mich, wie lange ich noch hierbleibe – und dass sie währenddessen in der Nähe bleiben und auf mich achten.»

Moral ist ein Konstrukt

Ihre Performances, die in verschiedenen Städten so unterschiedliche Reaktionen auslösten, zeigen für Moiré eines klar: Moral ist relativ. «Und wir sollten uns nicht zu sehr daran festklammern.»

Unvergessen bleiben auch Ihre Werke aus dem «PlopEgg Painting» (2014), bei denen sie mit Farbe gefüllte Eier aus ihrer Vagina herauspresste, die auf den Boden fielen und beim Zerbrechen Bilder erzeugten. Das Bild, das vor der Art Cologne entstand, hat einen besonderen Wert für Moiré. «Es ging damals um die Welt. Wer weiss, vielleicht wird es ja mal historisch», sagt sie. Und lächelt verschmitzt.

«PloggEgg» von Milo Moiré – entstanden vor der Art Cologne. (Bild: Milo Moiré)
Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Milo Moiré
  • Instagram-Account von Milo Moiré
  • Werkkatalog der Galerie Glaab in Bern
  • diverse frühere Medienberichte
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