Gassenarbeit im Rotlichtmillieu

Mit einer Zuger Schwester unterwegs an der Langstrasse

Schwester Ariane und Pfarrer Karl Wolf setzen sich seit Jahren für Menschen in der Not ein. (Bild: zvg)

Schwester Ariane Stocklin setzt sich seit Jahren für Gassenarbeit ein. zentralplus hat sie und eine Gruppe Freiwilliger bei einem Einsatz an der Langstrasse in Zürich begleitet, wo Hunger, Armut und Prostitution an der Tagesordnung sind.

Zum ersten Mal ist mir Schwester Ariane Stocklin an der Closing Night des diesjährigen «Genuss Film Festival» in Zug begegnet. Festivalleiter Matthias Luchsinger übergab ihr für ihren Verein Incontro eine Spende über 2000 Franken (zentralplus berichtete).

Incontro hat es sich zur Aufgabe gemacht, Tag für Tag auf die Gasse im Zürcher Langstrassen-Quartier zu gehen, um Bedürftigen zu helfen. Schwester Ariane erzählte mit ruhiger Stimme vom Leid der Obdachlosen, Süchtigen und Flüchtlinge. Und von Frauen aus dem Milieu.

Der Verein hat eine Mensa ins Leben gerufen, wo jeden Abend kostenlose Mahlzeiten an Bedürftige abgegeben werden. Die Nachfrage danach ist gross und wächst seit dem Krieg in der Ukraine stetig. Ich beschloss, dass ich mehr darüber wissen will.

Schwester Ariane erhielt am «Genuss Film Festival» in Zug eine Spende für ihr Gassenarbeitprojekt. (Bild: cbu)

Zu Besuch im «Primero»

Einige Tage später schreibe ich Schwester Ariane eine Mail, frage, ob ich sie im Rahmen einer Reportage für einen Tag auf der Gasse begleiten darf. Sie sagt zu, also mache ich mich an einem tristen Novembertag auf den Weg nach Zürich. An die Langstrasse.

Im Begegnungslokal Primero an der Rotwandstrasse treffen wir uns wieder. Schwester Arianne (49) trägt einen weissen Habit, darüber einen weiten Kapuzenpulli mit dem Logo ihres Vereins Incontro und der weltweiten Gemeinschaft Sant’ Egidio. Mit dieser sind Schwester Ariane und Pfarrer Karl Wolf (67), der mit ihr den Verein führt, stark verbunden. Schwester Ariane führt uns herum. An einem Tisch in der Mitte des Raumes sitzen vier Menschen, plaudern, tauschen sich aus.

Deutsch lernen dank Hollywood

Im Nebenzimmer schaut ein Mann hochkonzentriert in einen Laptop. «Ein Stammgast», erklärt uns Schwester Ariane. Der Mann liebt Filme und nutzt die DVD-Sammlung des Lokals, um mit den Untertiteln Deutsch zu lernen. Ich störe ihn nicht dabei und unterhalte mich stattdessen kurz mit zwei Menschen, die am Tisch in ein Gespräch vertieft sind.

Stefan* kommt oft ins «Primero», schätzt die Gespräche und die Atmosphäre hier. Irène*, eine ältere Frau, erzählt uns, dass sie lange in Luzern gelebt habe, jetzt aber hier sei. «Was Schwester Ariane und ihr Team hier machen, ist toll. Und ganz wichtig», sagt sie und greift liebevoll nach meinem Arm, zieht mich näher zu sich hin und flüstert augenzwinkernd: «Sie missionieren nicht, das finde ich gut. Hier geht es einfach um die Menschen.»

Ein Begegnungsort für alle

In einem weiteren Zimmer befindet sich der «Raum der Stille». Hier steht zwar ein Kreuz, beten und meditieren tun hier aber Menschen aller Glaubensrichtungen. «Man kann alles verlieren, aber was für viele bleibt, ist Gott», erklärt Schwester Ariane. So beten hier Christen, Buddhisten und Muslime Seite an Seite. Auch an christlichen Festen wie Weihnachten.

Ariane Stocklin ist Zuger Kooperationsbürgerin, ist aber in Zürich im Kreis 1 aufgewachsen. In Zeiten der Krawalle und der offenen Drogenszene am Platzspitz und Letten. «Mein Bruder lebte auf der Gasse, darum hatte ich früh einen natürlichen Zugang zu den Menschen auf der Gasse», erzählt sie. Ihre Eltern leben mittlerweile wieder im Kanton Zug, zu dem sie immer noch eine enge Bindung hegt. «Ich hab grosse Teile meiner Freizeit in Zug verbracht, bin oft auf den Zugerberg hochgelaufen oder im Ägerisee schwimmen gegangen.»

An die Ränder der Gesellschaft gezogen

Mit Religion kam sie zwar schon im Kindesalter in Kontakt, sie sagt aber von sich selbst: «Ich bin nicht besonders religiös aufgewachsen. Die Glaubenspraxis, wie ich sie zu Hause erfahren habe, gab mir nicht viel.» Im Teenageralter findet sie dann ihren eigenen Zugang zum Glauben. «Da habe ich gespürt, dass Gott mir nahe ist. Der Glaube ist in mir gewachsen.» Später studierte sie Theologie an der Universität Luzern, leistete humanitäre Einsätze in Russland und der Ukraine. «Mich hat es an die Ränder der Gesellschaft gezogen.»

«Uns stellte sich die Frage: Machen wir auch zu oder helfen wir den Menschen in der Not?»

Pfarrer Karl Wolf

2001 gründet sie im Alter von 27 Jahren den Verein Incontro, ein überpfarreiliches Projekt, mit dem sie sich vorerst für Kinder und Jugendliche in der Not eingesetzt hat. Seit fünf Jahren trägt und prägt sie mit Pfarrer Karl Wolf die Gassenarbeit im Langstrassenquartier. Viele Freiwilligen engagieren sich tagtäglich für diese Arbeit. 

Der Verein unterhält das Begegnungslokal Primero, bietet aber auch Deutschkurse, eine Schreibstube, medizinische Beratungen und Sprungbrett-Wohnungen an, die für Leute gedacht sind, die aus dem Milieu oder der Obdachlosigkeit aussteigen und in der Arbeitswelt Fuss fassen möchten. Finanziert wird alles durch Spenden.

Es geht auf die Gasse an der Langstrasse

Es wird Zeit, das «Primero» zu verlassen und die heutige Mensa unter freiem Himmel vorzubereiten. Seit 2017 verteilen Schwester Ariane und Pfarrer Karl Wolf zusammen mit Freiwilligen warme Mahlzeiten, Lebensmittel, Hygieneprodukte und Lebensmittelpakete auf der Gasse. Begonnen hat alles mit 200 selbstgestrichenen Sandwiches, die sie jeweils am Samstagabend auf die Gasse und in die Bordelle brachten.

«Die Restaurants und Läden waren während der Pandemie alle geschlossen. Viele Menschen blieben daheim, trauten sich kaum raus», sagt Schwester Ariane. Die Obdachlosen aber, die Suchtkranken und die Prostituierten, die blieben auf der Strasse, in der Kälte, im Regen. «Uns stellte sich die Frage: Machen wir auch zu oder helfen wir den Menschen in der Not?», erzählt Pfarrer Karl Wolf. Sie entschieden sich für Zweiteres.

Bevor sich der Standort beim Kino Kosmos herauskristallisiert hat, fand die Essensabgabe dezentral statt. (Bild: Incontro)

Schnell haben die Leute auf der Gasse gemerkt, dass ihnen Hilfe angeboten wird. Immer mehr kristallisierte sich ein Durchgang in Gleisnähe beim Kino Kosmos als Treffpunkt heraus. Schliesslich entsteht hier die Mensa unter freiem Himmel. «Alle Angebote entwickeln wir über das Hören auf die Menschen, die uns auf der Gasse begegnen. Sie gehen auf ihre Wünsche und Bedürfnisse zurück», so Schwester Ariane.

Jeden Tag kochen verschiedene Restaurants warme Mahlzeiten zum Selbstkostenpreis und überlassen sie dem Verein. Zudem erhalten sie Lebensmittel und Hygieneprodukte von Restaurants, Bäckereien und Geschäften geschenkt. In zwei Lagerräumen bereiten sie jeden Abend den Einsatz vor, beladen Wägelchen und ziehen damit los.

Mit diesen Wägelchen ziehen wir zur Mensa, um die Waren zu verteilen. (Bild: Incontro)

Die Mensa wird aufgebaut

Unser Team ist heute Abend dreizehn Köpfe stark und bunt gemischt. Sowohl vom Alter als auch vom beruflichen Hintergrund her. Bevor wir zum Standort der täglichen Essensabgabe gehen, gibt es ein kurzes Briefing, in dem die Aufgaben verteilt werden und in dem auch auf mögliche Auseinandersetzungen eingegangen wird. Schwester Ariane erklärt, dass wir im Falle einer aggressiven Begegnung auf der Gassentour nicht auf Konfrontation gehen sollen. «Nicht in die Augen schauen, sondern aus der Situation herausgehen und im Notfall die Polizei rufen.»

In einer Kolonne bewegen wir uns zum Robert-Stephenson-Weg in der Nähe des Kino Kosmos und hinter dem «25hours»-Hotel direkt am Gleis. Bei unserer Ankunft warten bereits einige Menschen geduldig in einer Schlange. Während wir die «Fassstrasse» mit einzelnen Ständen – an denen es Getränkedosen, Q-Tips, Kleider und auch Müsli-Riegel gibt – aufbauen, wird die Schlange immer länger.

Die Mensa unter freiem Himmel befindet sich hinter einem Hotel und neben einem Kino an den Gleisen. (Bild: Incontro)

Zu dritt stellen Schwester Ariane, eine weitere Freiwillige und ich am Ende der Mensa den Tisch für die Essensausgabe auf. Hinter uns sind kistenweise warme Mahlzeiten. Ein laminiertes Infoblatt hilft uns dabei, die Menüs auf Russisch erklären zu können. Schwester Ariane hat während ihren humanitären Einsätzen Russisch gelernt und unterhält sich mit den Leuten fast fliessend.

Viele Menschen aus der Ukraine

Über zwei Stunden lang verteilen wir rund 400 Mahlzeiten an Bedürftige. Viele der Menschen in der Warteschlange sind wegen des Ukraine-Kriegs in die Schweiz geflüchtet. Frauen, ältere Paare, Mütter mit ihren Kindern. Aber auch Frauen und Männer aus dem Milieu, Suchtkranke, Wanderarbeiter, bedürftige Familien und Menschen in der Armut holen sich hier ihr Znacht. Obwohl es kalt ist und zeitweise sogar leicht nieselt, warten sie geduldig. Die Stimmung ist ruhig, einige der Menschen sind gar zu kleinen Scherzen aufgelegt.

Der Bedarf nach warmen Mahlzeiten bei der Mensa wird immer grösser. (Bild: Incontro)

Schwester Ariane kennt viele der Leute, fragt sie, wie es geht und wird oft umarmt. Ich selbst komme mit den Menschen kaum ins Gespräch, weil ich zu beschäftigt bin, ihre Bestellungen auszuführen. Ich will schnell sein, die Leute nicht warten lassen. Je nachdem, wie sich der Andrang in der Warteschlange entwickelt, geben wir zwei oder drei Menüs pro Person ab.

«Ich sage lieber einmal nein, damit sicher alle etwas kriegen.»

Schwester Ariane

Eine einzelne Frau bestellt je einmal «Kartoschka» mit «Miassa» und «Vermischell» mit «Griby» – also Kartoffeln mit Fleisch und Pasta mit Pilzen. Ich husche zu den Boxen, zähle ab. «Gib ihr je zwei», flüstert mir Schwester Ariane ins Ohr. «Sie hat Kinder zu Hause.»

Bei einer anderen Person ist sie strikt, als sie nach mehr Mahlzeiten fragt. «Du kannst drei haben. Nicht vier», sagt sie. Der Mann wirkt etwas enttäuscht, bedankt sich dennoch für das Essen und geht davon. «Ich sage lieber einmal nein, damit sicher alle etwas kriegen», sagt Schwester Ariane, als ich sie später auf die Begegnung anspreche. «Ausserdem gibt es morgen ja wieder Essen.»

Ein Besuch von «Samichlaus»

In der Schlange steht auch ein stämmiger und gut gelaunter Mann, den alle «Samichlaus» nennen. Unter der Mundmaske spriesst ein buschiger, weisser Bart hervor. Schwester Ariane und er begrüssen sich herzlich. Sie hat mir auf dem Weg hierher von «Samichlaus» erzählt.

Jeden Tag reinigt er auf eigenen Antrieb hin den Weg neben den Gleisen. Die SBB haben ihm daraufhin einen Greifer und Handschuhe geschenkt. Den Greifer zeigt er uns stolz, während er dankbar ein Menü entgegennimmt. «Das Kino Kosmos hat mir als Dankeschön sogar zwei Kinogutscheine gegeben», sagt er uns lachend. «Das glaubst du nicht!»

Schwester Ariane führt viele Gespräche mit Bedürftigen. (Bild: Incontro)

Zum Schluss ins Rotlichtmilieu

Die Warteschlange hat sich aufgelöst, das Team räumt zusammen. Innert wenigen Minuten ist von unserer Mensa nichts mehr zu sehen. Es ist jetzt kurz nach acht Uhr abends. Der Einsatz ist aber noch nicht zu Ende. Übriggebliebene Mahlzeiten werden jetzt noch «auf der Gasse» verteilt. Schwester Ariane, zwei junge Firmlinge und ich ziehen mit zwei Ziehwagen los. Ziel: das Rotlichtmilieu. Wir werden an diversen Kontaktbars bereits erwartet.

Bei der ersten treffen wir vor der Türe auf Maria*. Die hochgewachsene Frau trägt einen langen Mantel, schwarze Stiefel und eine Brille, die etwas schief im Gesicht hängt. Ein zweiter Blick zeigt: Dem Brillengestell fehlt ein Bügel. Maria erzählt uns, warum das so ist.

«Die Gewalt hat in den letzten Jahren zugenommen»

Schwester Ariane

Vor wenigen Tagen ist sie am frühen Abend von einem Mann überfallen worden. Dieser habe ihr mit einem Schlüsselbund mehrmals ins Gesicht geschlagen. Dabei ging die Brille zu Bruch. Maria war aber keineswegs ein hilfloses Opfer. Zusammen mit anderen Frauen aus der Bar seien sie dem Mann hinterher, haben ihn überwältigt und so lange festgehalten, bis die Polizei eingetroffen sei.

In den Nächten an der Langstrasse gibt es viel Gewalt

Geschichten wie die von Maria sind hier an der Tagesordnung. «Die Gewalt hat in den letzten Jahren zugenommen», erklärt uns Schwester Ariane. «Die Nächte sind voller Aggressionen», sagen die Frauen aus dem Langstrassen-Milieu gegenüber der Schwester. Sie selbst und Pfarrer Wolf sind selbst vor einigen Wochen Opfer eines Überfalls geworden. Was löst das in einem aus? «Angst habe ich keine», sagt uns Karl Wolf später. «Erlebnisse wie diese machen mich einfach wachsamer.»

Die Gewalt an der Langstrasse nimmt zu. Sie richtet sich oft auch gegen Frauen aus dem Milieu. (Bild: Incontro)

Das Leben im Milieu ist zunehmend härter geworden – auch wegen der Pandemie (zentralplus berichtete). Viele Frauen bieten ihre Dienste zu Dumpingtarifen an, um überhaupt noch Kunden zu bekommen. Sie müssen Dinge über sich ergehen lassen, die sie nicht möchten.

Die Frauen kommen aus Lateinamerika, Osteuropa und Afrika. «Viele sind Mütter und verdienen hier Geld, das sie ihren Familien nach Hause schicken.» Vieles, was hier passiert, ist illegal und wird darum kaum angegangen. In der Langstrasse – so könnte man sagen – lebt eine Gesellschaft mit eigenen Regeln. Darunter leiden vor allem die Frauen im Milieu. 

Mein Einsatz geht zu Ende

Schwester Ariane bewegt sich unerschrocken durch die Strassen, betritt zielsicher Kontaktbars, verteilt die übrigen Mahlzeiten, Energydrinks und Müesliriegel. Unterwegs wird sie oft schon von Weitem angesprochen und gegrüsst. Mit vielen Leuten hält sie einen kurzen Schwatz.

Eine Nonne im Rotlichtmillieu. Was wie der Anfang eines schlechten Witzes klingt, ist ein Bild, das sich mir einprägt. Ich empfinde grossen Respekt vor dieser Frau, ihrer Lebensweise und ihrer Arbeit. Nach drei Kontaktbars sind unsere verbliebenen Vorräte erschöpft. Wir bringen die Wagen zurück ins Lager.

Ruhe und Stille ist nötig

Für mich geht der Abend und damit der Einsatz an der Langstrasse zu Ende. Ich bin zugegebenermassen ziemlich erschöpft, bis die Eindrücke und Gespräche verdaut sind, wird es wohl noch einige Tage dauern. Für Schwester Ariane war das «nur» ein weiterer Tag an der Langstrasse. Nach einer kurzen Nacht – vor Mitternacht kommt sie selten ins Bett – geht es für sie morgen früh wieder los.

Ob sie denn überhaupt einmal abschalten kann, sich eine Pause gönnt, frage ich. Ferien nehme sie kaum. Auch freie Tage gönnt sie sich sehr selten. Aber: «Jeden Morgen beginne ich mit Stille. Ich meditiere zwei Stunden.» Das sei nötig, wenn man den ganzen Tag so viele Begegnungen habe.

Das glaube ich ihr sofort.

* Name bekannt.

Verwendete Quellen
  • Freiwilligendienst an der Langstrasse
  • Persönliches Gespräch mit Schwester Ariane und Pfarrer Karl Wolf
  • Website Verein Incontro
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1 Kommentar
  • Profilfoto von Heinz
    Heinz, 21.11.2022, 09:30 Uhr

    Wertvoller, tiefgründiger Bericht über die „Welt auf der anderen Seite“ – gut recherchiert!

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