Engpass bei Heroin-Ersatz – auch in Luzern

Methadon-Patient hat «Angst, Heroin auftreiben zu müssen»

Marco holt sich einmal in der Woche seine Ketalgin-Tabletten im Drop-in – der Drogenabgabestelle – in Luzern ab. (Bild: Gestellte Szene: ida)

Das Methadon wird in der Schweiz rar: Für Heroinabhängige ist das fatal. Wir haben mit einem Luzerner gesprochen, der seit Jahrzehnten im Methadon-Programm ist. Er hat Angst, rückfällig zu werden. Doch es gibt Hoffnung, den Engpass zu umschiffen.

Immer wieder wippt Marco* ein wenig nervös mit seinem rechten Bein. Wir sitzen mit ihm in einem Zimmer beim Luzerner Drop-in, der ambulanten Behandlungs- und Abklärungsstelle für opioid- oder mehrfachabhängige Menschen. Nach einer Weile lehnt sich der ganz in Schwarz gekleidete Mann nach hinten. Er schlägt die Beine übereinander – und wird ruhiger.

Marco ist 53-jährig. Seit etwa 30 Jahren befindet er sich im Methadon-Programm. Mehr als drei Jahre davon beim Drop-in in der Bruchstrasse in Luzern, einem Angebot der Luzerner Psychiatrie.

Wer süchtig nach Heroin ist, wird in der Schweiz mit einer sogenannten Opioid-Agonisten-Therapie behandelt. Dabei werden Opioide kontrolliert an die Betroffenen abgegeben, damit diese nicht unter Entzugserscheinungen leiden und der Drang nach Heroin gelindert wird. Beim Drop-in sind derzeit über 230 Menschen in einer solchen Behandlung. Einer von ihnen ist Marco.

Aus dem Probieren wurde eine Sucht

Alles fing bei ihm mit dem Kiffen an. Später kam Kokain dazu. Dann Heroin, das er über Folien rauchte oder teilweise spritzte. «Aus Neugierde» habe alles begonnen, erzählt er uns. Schliesslich ging Marco auf dem Platzspitz ein und aus, dealte mit Haschisch, um seinen Lebensunterhalt bestreiten zu können. Beschaffungskriminalität kam hinzu.

Phasenweise arbeitete er als Koch oder auf dem Bau, doch die Drogen gewannen Überhand. «Aus dem Probieren wurde schnell eine Sucht», sagt Marco. «Die Drogen wurden wichtiger als alles andere – alles drehte sich 24 Stunden am Tag nur darum, wie ich an Geld und wie ich an die Drogen komme.»

«Es hilft mir extrem, zu wissen, dass ich durch das Ketalgin nicht auf den Entzug komme.»

Marco, Methadon-Patient

Heute nimmt er täglich als Ersatz für Heroin Ketalgin-Tabletten ein. Diese geben Marco Stabilität und Ruhe, einen geregelten Alltag. «Es hilft mir extrem, zu wissen, dass ich durch das Ketalgin nicht auf den Entzug komme. Ich kann so mein Leben bestreiten.» All der Druck ist seither von Marco gefallen, die Beschaffungskriminalität passé. Er wurde zuverlässiger – und arbeitet heute 50 Prozent.

Engpass: In der Schweiz wird das Methadon knapp

Doch für Marco und rund 9'000 andere Methadon-Patienten schweizweit sind unsichere Zeiten angebrochen. Anfang Januar berichtete SRF, dass das Methadon in der Schweiz knapp wird. Das Problem: Die Amino AG ist die einzige Pharmafirma, die in der Schweiz Methadon-Tabletten im grossen Stil herstellt.

Die Swissmedic hat der Firma Anfang Dezember 2022 die Betriebsbewilligung entzogen. Seither werden im Aargau keine Methadon-Tabletten mehr produziert. Produzieren darf sie erst wieder, wenn sie alle Mängel behoben hat.

Das Drop-in informierte betroffene Klienten darüber, dass ein Versorgungsengpass von Ketalgin-Tabletten herrscht, der wohl einige Wochen bis Monate andauern wird. Schon jetzt ist bei den ersten Apotheken der Ketalgin-Vorrat ausgegangen.

Als Marco vom Engpass gelesen hat, hat ihn das aufgewühlt. «Es war ein rechter Schock. Alles hat sich wie ein Film in meinem Kopf abgespielt. Ich bekam Angst, ob ich das Methadon weiter beziehen kann oder wieder Heroin auftreiben muss …»

Im Methadon-Programm Medikamente wechseln? Warum das heikel ist

Umstellungen auf andere Medikamente sind nicht so einfach. Schon vorletztes Jahr kam es zu massiven Lieferengpässen von Sevre-Long – ebenfalls ein Medikament für Heroinabhängige (zentralplus berichtete). Müssen Patientinnen, die sich in einer Methadon-Behandlung befinden, auf andere Substitutionsmedikamente umgestellt werden, birgt das immer gewisse Risiken.

«Ein Leben ohne Ketalgin zu führen, wäre für mich extrem mühsam.»

Marco

Marco ist beunruhigt. «Ich habe realisiert, wie abhängig ich von diesem ganzen Kreislauf bin. Ich hätte nie gedacht, dass es einmal so weit kommen könnte.» Mit anderen Substitutionsmedikamenten leide er an Schlafproblemen. Auch hat er Angst, dass er wieder Entzugserscheinungen kriegt und er sich auf der Gasse nach Heroin umschauen müsste. «Dabei ist das Heroin heute extrem schwach», sagt Marco. Er müsste den Drogen wieder nachrennen, um nicht an Entzugserscheinungen zu leiden. «Ein Leben ohne Ketalgin zu führen, wäre für mich extrem mühsam.»

Streuli soll nun Methadon-Kapseln «im grossen Stil produzieren»

Einen Hoffnungsschimmer gibt es jedoch. Nur zwei Tage nachdem zentralplus Marco zum Gespräch getroffen hat, berichtete SRF, dass Methadon-Patientinnen aufatmen können: Die Firma Streuli in St. Gallen springe in die Bresche. Sie könne Methadon-Kapseln im grossen Stil herstellen. Derzeit würden die Vorbereitungen für die notfallmässige Produktion «auf Hochtouren laufen». Ziel sei, die Lücke in der Versorgung ab Ende Februar schliessen zu können.

«Ob alle Patientinnen, die bisher Ketalgin eingenommen haben, auf Streuli umgestellt werden können, hängt von der produzierbaren Menge ab.»

Kerstin Gabriel Felleiter, Chefärztin Ambulante Dienste Luzerner Psychiatrie

Was bedeutet diese Nachricht für die Patienten des Drop-in? Wir fragen nach bei Kerstin Gabriel Felleiter. Sie ist die Chefärztin Ambulante Dienste der Luzerner Psychiatrie AG. «Ob alle Patientinnen, die bisher Ketalgin eingenommen haben, auf Streuli umgestellt werden können, hängt von der produzierbaren Menge ab», schreibt sie. «Positiv und beruhigend ist, dass die Produktion von Tabletten auch in höheren Dosierungen geplant ist.»

Die Dosis der Streuli-Kapseln sei gleichwertig zu den Ketalgin-Tabletten. Allerdings könnten laut Gabriel Felleiter individuelle Unsicherheiten auftauchen – da Veränderungen bei den Medikationen bei einzelnen Patienten zu Ängsten führen würden.

Ketalgin ist nicht das einzige Präparat, bei dem ein Engpass drohte. Laut der Chefärztin kam es auch bei Benzodiazepinen wie Valium und Temesta aktuell zu Lieferengpässen. Bei beiden handle es sich um Medikamente, die in der Behandlung eine wichtige Rolle spielen würden. «Einige Situationen sind aufgrund der Abhängigkeit von ausländischen Firmen schwer oder nicht zu verhindern», so Gabriel Felleiter dazu. «Die Situation mit dem Methadonengpass hätte eventuell besser verhindert werden können, da es sich um Schweizer Firmen handelt.»

*Hinweis: Zum Schutz des Betroffenen wurde der Name anonymisiert.

Verwendete Quellen
  • Persönliches Gespräch mit Marco
  • Schriftlicher Austausch mit Kerstin Gabriel Felleiter, Chefärztin Ambulante Dienste Luzerner Psychiatrie AG
  • SRF-Medienbericht
  • Weiterer SRF-Medienbericht
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5 Kommentare
  • Profilfoto von Peter Bitterli
    Peter Bitterli, 12.02.2023, 16:31 Uhr

    Ich weiss eine tolle Alternative für Marco. Er könnte sich einen Entzug gönnen und definitiv vom Gift wegkommen. Ist gesund, billig, stärkt das Selbstbewusstsein, gibt eine unabhängigere Tagesstruktur und ärgert niemanden.

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    • Profilfoto von marsumarsu
      marsumarsu, 12.02.2023, 22:53 Uhr

      Da muss ich Ihnen zustimmen.
      Schwer verständlich, dass Marco dreissig Jahre seines Lebens vom „Staat“ in seinem Suchtverhalten unterstützt wenn nicht sogar gefördert wird.
      Mit einem Minimum an Selbstreflexion, müsste Marco und all den anderen Methadonabhängigen klar sein, dass mit Willen ein Leben ohne Opiaten möglich ist.

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      • Profilfoto von Romano
        Romano, 13.02.2023, 15:47 Uhr

        Liebe Vorkommentatoren,
        Natürlich ist ein suchtmittelfreier, gesunder und nachhaltiger Lebenswandel wünschens- und erstrebenswert. Dementsprechend komme ich ohne Tabak, Alkohol, THC, Fleisch und Nestlé-Produkten aus.
        Ohne im Deatail darauf einzugehen, denn es findet sich genug frei verfügbare Literatur dazu, möchte ich darauf hinweisen, dass eine stabile, niedrige Substitution für viele Patienten einem langwierigen, vollständigen Entzug mit erhöhten Rückfall- und Gesundheitsrisiken vorzuziehen ist. Dabei sind die potenziellen und effektiven Kosten bei einem Entzug für den Staat und die Krankenkasse (und den Patienten) höher als die Kosten eines Substitutionsprogrammes.

        Zudem würde ich Sie bitten, sich über die Wirkung von Substituten zu informieren. Es gibt für die Patienten kein ‚High‘ davon. Aber es lässt sie funktionieren im Alltag.

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        • Profilfoto von marsumarsu
          marsumarsu, 13.02.2023, 18:45 Uhr

          Lieber Vorkommentator
          Das erste mal bin ich 1975 in Amsterdam mit Methadon in Berührung gekommen.
          Schon in den 1980er und 90er Jahren wurde dieses Substitut in Luzern an Süchtige abgegeben.
          Das immer mit dem Ziel, dass die anfängliche Dosierung von 130 und mehr mg über Wochen auf 20-30 mg reduziert wurde.
          Wenn, wie Sie meinen, die Leute seien nicht „geflasht“, so kann ich Ihnen insofern zustimmen, dass dies mit der Minimaldosierung auch nicht möglich war. Es blieb aber spätesten dann die Möglichkeit, aus der Sucht auszusteigen.
          Zitat von Marco:
          „Ein Leben ohne Ketalgin wäre ( ich möchte betonen: WÄRE) extrem Mühsam.“
          Marco macht es sich zu einfach und wird mit dieser Einstellung weiterhin in der Abhängigkeit suhlen.
          Auch würde ich ihm empfehlen:
          Gib dir endlich einen Tritt in den Allerwertesten, es lohnt sich.
          Gilt auch für alle diejenigen, die meinen, sich aufgeben zu müssen

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          • Profilfoto von Romano
            Romano, 16.02.2023, 08:58 Uhr

            Ja, ich gehe auch immer gerne den mühsamen Weg und riskiere dabei, runterzufallen, anstatt auf dem Weg mit dem Sicherheitsseil zu bleiben.

            Suchtgefährdete Menschen brauchen mehr als nur gute Vorsätze, etwas Durchhaltewillen und ein paar Allgemeinplätze. Das ist für Personen ohne diese Veranlagung leider sehr schwierig zu verstehen.

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