Jugendbewegung mit Luzerner Wurzeln

«Mass-Voll ist eine Einstiegsdroge, die zum Realitätsverlust führt»

Mass-Voll in Liestal: Im Vordergrund die beiden Co-Präsidenten Nicolas A. Rimoldi (rote Jacke) und Carla Wicki (blaue Jacke). (Bild: zvg)

Mass-Voll ist nicht ungefährlich: Wer sich der Jugendbewegung anschliesst, wird mit grosser Wahrscheinlichkeit auch mit rechtspopulistischem und verschwörerischem Gedankengut in Kontakt geraten. Eine Einschätzung von Dario Veréb und Raimond Lüppken.

In nur wenigen Wochen entstand viel Trubel um die Jugendbewegung Mass-Voll. Kritische und unkritische Berichte in verschiedensten Schweizer Medien porträtierten den Luzerner Co-Präsidenten Nicolas A. Rimoldi (FDP) und seine Amtskollegin Carla Wicki – und thematisierten die polarisierenden Aussagen einzelner Protagonisten.

Die auf den 10. April angekündigte Corona-Kundgebung in Altdorf wäre für Mass-Voll ein wichtiger Termin. Dass sie nun abgesagt wurde, ist für die Teammitglieder doppelt ärgerlich: Einerseits wollte man sich als vereinte Front mit Fahnen und Flyern präsentieren, zum Anderen war Rimoldi als Redner geladen. Beides hätte der Bewegung neue Mitglieder beschert.

Der Bewegung die Bühne genommen

In seinem Frust über die Absage fabuliert Rimoldi von einem «diktatorischen und gefährlichen Akt!». Dass die Schweiz eine Diktatur sei, ist ein klassisch verschwörungsideologisches Narrativ der Szene. Laut Rimoldi grenzt er und Mass-Voll sich «klar von Verschwörungstheorien und Extremismus» ab – ein Widerspruch.

Die Schweiz ist keine Diktatur: Demonstrieren kann man sehr wohl, solange man sich an Regeln hält. Gefährlich sind vielmehr die Veranstaltungen, die Mass-Voll propagiert, da sie zur Verbreitung des Coronavirus beitragen.

Eine weitere Gefahr stellen die Angriffe auf Gegenprotestler und Journalisten dar, wie sie in Liestal geschahen. Man könnte die Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Kundgebung in Altdorf zwar besser überprüfen, weil sich diese auf Privatgrund versammeln sollen, eine wirkliche Umsetzung wird von der Bewilligungsbehörde aber bezweifelt. Auch bei den bisherigen Veranstaltungen der Szene wurde zum Maskentragen aufgerufen – von Veranstaltern und Behörden. Darauf reagierte die Mehrheit der Anwesenden nur mit Gelächter und Buhrufen.

Gefährliche Rhetorik

Nachdem bekannt wurde, dass die Kundgebung nicht stattfinden würde, machten Anhänger der Bewegung im Telegram-Chat klar, dass sie trotz Verbotes nach Altdorf reisen wollten. Ersatzweise würde man in Zürich protestieren. «Sollen sie Tränengas gegen Familien mit Kindern einsetzen», meinte jemand. Die Schweiz möge derzeit eine Diktatur sein, doch im Ernstfall würden die Mächtigen «nicht die Eier» dafür haben.

Obwohl einige Mitglieder des Kernteams selbst radikale Aussagen machen, reagierten sie in diesem Fall auf die ausartende Diskussion und löschten einige extreme Beiträge. Populistische und extreme Äusserungen sind ein Markenzeichen der Bewegung, werden aber nur von wenigen in tragenden Rollen genutzt. Wenn Chat-Mitglieder sich dieser Rhetorik bedienen, werden sie zensiert. In diesem Fall funktioniert die Distanzierung von Verschwörungstheorien und Extremismus.

Wochenendrebellin und #FrontlineFace

Die Jugendbewegung Mass-Voll schürt surreale Ängste und gefährdet die Gesundheit ihrer Mitmenschen. Letzteres gilt besonders für ein Mitglied des Kernteams, das sich schon einmal im Rampenlicht wiederfand – damals aber im Rahmen einer Fernsehshow.

Statt Popularität setzt sie nun auf Gegenöffentlichkeit. Am Wochenende besucht sie, wie das gesamte Mass-Voll-Team, Demonstrationen ohne Maske und setzt sich einem erhöhten Ansteckungsrisiko aus. Unter der Woche arbeitet sie in einem Luzerner Altersheim.

In einem ihrer Social Media Accounts zeigt sie sich mit zwei Kolleginnen unter dem Hashtag «Frontline Faces», womit sich die in medizinischen Berufen tätigen in aller Welt im Kampf gegen die Coronapandemie bestärken und um Solidarität werben.

Während sie von Montag bis Freitag mit Maske ihrem Beruf nachgehen kann, inszeniert sie sich gemeinsam mit über einem Dutzend Jugendlicher am Wochenende als so schwer krank, dass sie keine Maske tragen kann. Absurdität und Widersprüchlichkeit scheinen eine wohlüberlegte Strategie der Bewegung zu sein. Sie hilft, ein Credo des Widerstandes zu kreieren, mit dem man möglichst viele über einem gemeinsamen Nenner vereinen kann.

Eine Gefahr für junge Menschen

Das Umfeld von Mass-Voll ist ein Potpourri aus Parteien und Organisationen. Durch die Mitgliedschaft besteht die Gefahr, dass junge Menschen in konservative, rechtspopulistische Gruppierungen abdriften – auch wenn Mass-Voll selbst keine solche ist. Die Wege zum Verschwörungsdenken werden kürzer, jene zur breiten Gesellschaft länger. Mass-Voll ist eine Einstiegsdroge, die zum Realitätsverlust führt.

Olivier Chanson, auch Mitglied der Jungen SVP, beispielsweise sprach vom «demografischen Wandel (auch Bevölkerungsaustausch genannt)». Dieser Begriff aus der Neuen Rechten schürt die Angst vor geheimen Plänen, die weisse Mehrheitsgesellschaft durch vermeintlich unkontrollierte Migrationsbewegungen zur Minderheit werden und letztlich aussterben zu lassen. Der Attentäter von Christchurch nannte sein Manifest «The Great Replacement» und bezog sich damit ebenfalls auf diese Verschwörungstheorie.

Mass-Voll in Liestal. (Bild: zvg)

Einen weiteren Mythos greift Joyce Küng auf: Sie glaubt in den Reden der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel von 2019 und einer von Altbundesrätin Doris Leuthard von 2018 Beweise für die «neue Weltordnung» gefunden zu haben. Solche Verschwörungen sind nicht immer aus der Luft gegriffen. Das beweist Mass-Voll durch eigenes Handeln.

Eines der wichtigsten Narrative der Massnahmengegner sind die vom Staat und Interessengruppen gesteuerten Medien. Regierung, Grosskonzerne oder jüdische Eliten seien dafür verantwortlich. In Tat und Wahrheit scheint die Steuerung aber vielmehr aus den eigenen Reihen zu kommen, wie Mass-Voll und Nau vermuten lassen.

Gesteuerte Berichterstattung

Trotz verschiedener Wissens- oder Glaubensansätze verfolgt das Kernteam der Bewegung ein klares Ziel: «den Kampf für eine vergessene Generation». Sie inszeniert sich als Retter in der Not für junge Menschen, die grosse Zukunftsängste haben und unter Einsamkeit und Perspektivlosigkeit leiden.

Kritisiert man ihre Forderungen oder die Aussagen einzelner Mitglieder, hat das auf Twitter und Telegram in vielen Fällen die sofortige Blockierung zur Folge. Aber nicht nur in den sozialen Netzwerken wird gelöscht: Auch auf die Nau-Redaktion hat die Jugendbewegung scheinbar grossen Einfluss.

Der kritische Beitrag des langjährigen Nau-Kolumnisten Reda El-Arbi, der Mass-Voll als «antidemokratische, in Verschwörungstheorien verfangene Rattenfängerbande» bezeichnete, wurde gelöscht. Nau begründet das auf Anfrage von Persönlich.com mit «juristischen Gründen». El-Arbi ist für seinen angriffigen Stil bekannt. Dass plötzlich eine seiner Kolumnen gelöscht wird, verwundert.

Leserumfrage umgehend gelöscht

Wie schnell die Bewegung Einfluss übt, zeigte sich, als die Redaktion eine Leserumfrage aus dem Gastbeitrag der Mass-Voll-Co-Präsidentin Carla Wicki löschte, keine Stunde nachdem deren schlechtes Resultat im Mass-Voll-Telegram-Chat bemängelt wurde. Auf Anfrage heisst es, man habe sich zur Entfernung entschieden, weil diese verfälscht worden sein könnte. Beweise liegen dafür keine vor.*

Dass Mass-Voll selbst aber Einfluss auf Votings ausübt, zeigt ein Aufruf in ihrem Telegram-Chat: «Geht doch bitte mal auf folgende Seite und macht ein paar Klicks, da muss ein Zeichen gesetzt werden.» Darauffolgend ein Link zum Blick-Artikel über die Demo in Altdorf die nicht bewilligt wurde.

Der Gegner wird diffamiert

Der stille Protest in Liestal am 20. März löste ein grosses, kritisches Medienecho aus. Auf dieses reagierte der Co-Präsident Nicolas A. Rimoldi (FDP) in einem Artikel von Nau mit Anschuldigungen gegenüber der Juso: «Juso-Mitglieder haben in Wohlen wie auch in Liestal vermummt ältere Menschen hinterrücks angegriffen.»

Beweise dafür wurden nicht genannt. Auf Nachfrage teilte Nau mit, Rimoldis Aussage sei nicht überprüft worden. Bei einer derartigen Behauptung wäre es die Pflicht einer Redaktion, dem Vorwurf nachzugehen.

Die zuständigen Polizeibehörden haben keine Kenntnis von Angriffen dieser Art und auch Rimoldi kann auf Anfrage keine Belege vorbringen. Trotzdem hält er an seinen Schilderungen fest. Seine schwerwiegende Anschuldigung bleibt unbewiesen und zeigt seine tiefsitzende Abneigung gegen die gesellschaftliche und politische Linke.

*Nau legt Wert auf die Feststellung, dass die Leserumfrage nachweislich manipuliert und deswegen entfernt worden sei. Es gäbe keinen Zusammenhang mit einem «schlechten Resultat» aus der Perspektive von Mass-Voll. 

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