Im Kanton Luzern werden händeringend neue Pflegeeltern gesucht. Die Familie Meier ist mehrere Schritte weiter: Das Ehepaar hat neben zwei leiblichen Söhnen auch seit über zehn Jahren ein Pflegekind. Ein Besuch.
Die kleine Marissa sitzt in ihrem Zimmer im Kinderheim. Bald lernt sie Ilen und Gabor Meier kennen, 38 und 42 Jahre. Die beiden freuen sich auf das Treffen und auch Marissa zeigt sich offen und neugierig. Bereits wenige Tage später besucht Marissa die künftigen Pflegeeltern in ihrem Zuhause. Sie gehen an einem Bach spazieren. Die Sechsjährige ist begeistert: Sie darf ihr Kickboard mitnehmen. Bald darauf landet sie völlig überraschend im Wasser.
Noch heute müssen alle über diese Erinnerung schmunzeln. Mittlerweile ist Marissa 19 Jahre alt. Sie sitzt auf einem Stuhl im Haus ihrer Pflegeeltern im Raum Sursee. Dass Marissa beim Gespräch dabei ist, ist für Ilen Meier selbstverständlich. Marissa sei fester Teil der Familie und heute gehe es auch um ihre Geschichte. Dann gesellen sich die beiden Söhne Gavin (13) und Gerardo (12) dazu. Gabor, der Pflegevater, kommt etwas später nach Hause. Eigentlich heissen sie anders. Um ihre Pflegetochter zu schützen, verwenden wir in diesem Text anonyme Namen.
Plötzlich geht alles schnell
Die Familie Meier ist in vielerlei Hinsicht eine besondere Familie. Ilen und Gabor werden erst spät Eltern. Während sie als Sozialpädagogin an einer Sonderschule immer wieder Kontakt mit der Fachstelle Kinderbetreuung Luzern hat, merkt Ilen, dass auch in ihr der Wunsch aufkommt, sich noch stärker in der Betreuung von Kindern zu engagieren. Nach Gesprächen mit ihrem Mann bewerben sie sich als Pflegeeltern. Beziehungsfähigkeit und sich in Gefühl und Denken von anderen hineinversetzen zu können, sind nur einige der Kompetenzen, die im Bewerbungsverfahren geprüft werden. Anschliessend besucht das Paar den Ausbildungskurs der Fachstelle Kinderbetreuung Luzern. Zu diesem Zeitpunkt ist Ilen bereits schwanger.
Dann geht plötzlich alles schnell. Kurz vor der Geburt des ersten Sohnes erhalten sie einen Anruf der Fachstelle Kinderbetreuung Luzern. Sie berichten von einem sechsjährigen Mädchen, das bei drogensüchtigen Eltern keine Zukunft habe. Die Familie Meier lernt das Mädchen kennen und nimmt Marissa schliesslich bei sich auf. «Die Reaktionen aus dem Umfeld waren durchaus positiv, teils etwas verwundert, dass wir eine solche Aufgabe auf uns nehmen», erklärt Gabor. Und Ilen ergänzt: «Marissa gehörte von Anfang an dazu – egal, ob Einladungen bei Freunden und Verwandten, Ausflügen oder Ferien.»
Die Anzahl Pflegekinder ist unklar
Leibliche Eltern, die sich weigern, ihr Kind wegzugeben, der Papierkrieg, die finanzielle Belastung: Leicht war es nie, ein Kind zur Betreuung aufzunehmen. Doch mittlerweile schlagen die Fachstellen Alarm. Auch im Kanton Luzern gibt es gemäss Experten deutlich zu wenige Familien (zentralplus berichtete). Als Gründe genannt werden der gesellschaftliche Wandel, der zunehmende Individualismus und die Kurzlebigkeit der heutigen Welt.
Auch der Fall von Marissa zeigt: Die letzten dreizehn Jahre waren nicht immer leicht. An ihre Grenzen ist die Pflegefamilie laut eigener Aussage zwar nicht gekommen, dennoch sei es nicht immer leicht gewesen, vor allem, als Marissa in der Pubertät war, erzählen sie mit ruhiger Stimme am Holztisch ihres Wohnzimmers. Und auch, als in Marissa immer mehr der Wunsch aufkam, bei ihren leiblichen Eltern zu wohnen, sich zu lösen.
Jedes Kind ist anders
Doch eben, es braucht mehr Pflegefamilien im Land. Die Fachstelle Kinderbetreuung Luzern nimmt primär Kinder im Alter von null bis zwölf Jahren in Pflegefamilien auf. «Diese haben gute Möglichkeiten, sich in eine zweite Familie zu integrieren und den Kontakt zu ihren Eltern weiterzupflegen. Anfragen für ältere Kinder prüfe man individuell. Denn diese seien oft in der Ablösephase und Pubertät. «Da würden wir gegen die eigene innere Energie der Jugendlichen arbeiten, wenn sie sich nochmals in familiären Strukturen eingeben sollen. Manchmal wünschen sich dies Jugendliche, dann gehen wir mit ihnen den Prozess», erklärt Franziska Beer, Geschäftsleiterin der Fachstelle Kinderbetreuung Luzern.
So vielfältig wie die Kinder sind, welche in einer Pflegefamilie aufgenommen werden, so vielfältig sind auch die Pflegeeltern. Diese Vielfalt ist auch von der Fachstelle gewünscht. Um nach dem individuellen Bedarf der Kinder eine passende Pflegefamilie zu finden, sei eine breite Auswahl an Pflegefamilien ideal. Der Fokus liege darin, ein gelingendes Pflegeverhältnis zu ermöglichen.
Über zwei Jahre in der Fremde
Zweieinhalb Jahre lang war Marissa insgesamt weg von der Pflegefamilie. Von heute auf morgen war keine ältere Schwester mehr da. Das war auch für die beiden Buben nicht einfach zu verstehen. Sie können sich eine Familie ohne ihre ältere Schwester nicht mehr vorstellen, erklären die Eltern. Die Familie war froh, Unterstützung von der pädagogischen Leitung der Fachstelle Kinderbetreuung Luzern zu erhalten. «Wir konnten sie immer anrufen, wenn wir ein Problem hatten», sagt Gabor.
Das war vor allem gefordert, als Marissa bei ihrer leiblichen Mutter oder ihrem Vater war. «Jedes Mal war sie wie ein umgedrehter Handschuh.» Der Wunsch, bei der süchtigen Mutter in sicheren Händen zu sein, hat die 19-Jährige bis heute. Ihr ist bewusst, dass dies unter diesen Bedingungen nicht möglich ist. Die Pflegefamilie versteht es, dass dieser Wunsch sie ab und zu aus der Bahn wirft. Alle Pflegekinder würden einen mehr oder weniger grossen Rucksack an Belastungen mitbringen. Oft müssten sie auch lernen, mit traumatischen Erlebnissen umzugehen.
Marissa hat sich gemäss den Eltern zu einer offenen, hilfsbereiten und starken Person entwickelt. Trotzdem sei es für sie in belastenden Situationen heute noch herausfordernd, ganz bei sich zu bleiben und den Fokus auf ihre Zukunft zu lenken. Was sie in diesen Momenten besonders brauche, sei Vertrauen, Geborgenheit und ein offenes Ohr. Das alles findet Marissa in den Beziehungen zu ihrer Pflegefamilie, zu Nachbarn und Freunden.
Für die Pflegeeltern war es auch nach ihrem kurzzeitigen Weggang klar, dass sie Marissa wieder bei sich aufnehmen, wenn sie diesen Wunsch äussert. «Marissa gehört genauso zu unserer Familie wie unsere eigenen Kinder», sagt Ilen Meier. Seit einigen Monaten wohnt Marissa wieder bei den Pflegeeltern und den beiden Söhnen.
Für die Familie Meier ist es eine Herzensaufgabe
Marissa nennt ihre leibliche Mutter Mama, ihre Pflegemutter Ilen. Die Familie Meier hat ihre Entscheidung nie bereut. Ein Pflegekind aufzunehmen sei eine bereichernde und anspruchsvolle Aufgabe. Eine Aufgabe, für die man auch finanziell entschädigt wird. «Die Kosten für das Pflegekind sind gedeckt. Der Lohn für die Betreuung ist im Sinne eines Nebenerwerbs zu sehen, erfordert aber natürlich viel mehr Präsenzzeit», erklärt Ilen Meier. Aber sie würden die Aufgabe nicht aus finanziellen Überlegungen machen. Pflegefamilien haben noch Einkommen aus anderen Tätigkeiten. Gabor arbeitet heute 90 Prozent als Berufsabklärer, Ilen in einem 60-Prozent-Pensum als Lehrerin.
Pflegeeltern werden, sein und bleiben ist wie ein Marathonlauf. Es ist eine starke Beziehungsaufgabe, die Ausdauer und Kraft braucht. Die Meiers sehen es als Herzensaufgabe, für Kinder da zu sein, die nicht die besten Karten für dieses Leben erhalten haben. Gabor erinnert sich zurück an eine Anekdote während des Ausbildungskurses, als es hiess: «Deine eigenen Kinder trägst du im Herzen, Pflegekinder am Herzen.»
Doktorandin an der Universität Luzern mit besonderem Interesse für Themen der Ungleichheits- und Geschlechterforschung. Schreibt seit 2018 als freie Journalistin für zentralplus und begeistert sich vor allem für gesellschaftliche und sportliche Themen. Liebt Fussball, seit sie denken kann. Ist Mutter von zwei Mädchen.