«Manchmal muss ich meinem Kind die Augen zuhalten»
Crack-Pfeifen werden im Babel-Quartier des Öfteren auf offener Strasse gesehen. (Bild: Archivbild: ida)
Das Babel-Quartier in Luzern steht im Zeichen des offenen Drogenkonsums – direkt vor der Haustür von Familien. Zwischen Spielplatz und Schulweg werden Kinder mit Szenen konfrontiert, die Eltern besorgen.
«Für mein sechsjähriges Kind ist das fast normal. Es ist im Babel-Quartier aufgewachsen. Es kennt es nicht anders.»
Das sagt eine Mutter, die seit sechs Jahren mit ihrer Familie in dem Stadtluzerner Quartier wohnt. Seit Sommer 2023 werde wieder viel mehr und sichtbarer auf offener Strasse mit Drogen gedealt und konsumiert. Gerade beim Lädeliplatz oder auf dem Spielplatz Dammgärtli sieht sie oft, wie Abhängige einen Zug ihrer Crack- oder Freebase-Pfeife nehmen.
Kokain rauchen, das ist in Luzern seit über 15 Jahren ein Thema, hielt Adrian Klaus, Betriebsleiter der «Gassechuchi – Kontakt- und Anlaufstelle (kurz K+A)», gegenüber zentralplus fest. Seit etwa drei Jahren seien vermehrt Cracksteine im Umlauf. Bei diesen entfällt das mühsame Aufkochprozedere: Die Steine sind günstig und können schnell geraucht werden.
Vor der Tür: der Dealer
«Es ist beängstigend», so die Mutter, die anonym bleiben möchte, weiter. Vor ihrem Haus werde Drogenhandel betrieben. Und auf dem Weg zur Schule oder zum Spielplatz begegnen sie regelmässig Drogenabhängigen oder finden Spuren wie aufgeschnittene Aludosen. «Sie sind heute viel hektischer und aggressiver als früher. Gerade dann, wenn sie auf der Suche nach Stoff sind.» Es sei aber von Tag zu Tag verschieden – manchmal seien die Drogen arg präsent, an anderen Tagen praktisch kaum zu sehen.
Die Mutter erzählt von wüsten Szenen. Wie etwa Leute Blumentöpfe auf den Boden warfen, Gläser von den Balkonen schossen und dabei geschrien haben. Auch schon sei sie mit ihren Kindern direkt in eine Situation gelaufen, in der jemand den Stoff zubereitet oder an der Crackpfeife gezogen hat. «Manchmal muss ich meinem sechsjährigen Kind die Augen zuhalten», so die Mutter. Manchmal hat sie Angst, dass ihren Kindern der Stoff ins Gesicht bläst und sie passiv den Rauch einatmen.
Kind (6) kann Szenen noch nicht einordnen
Das Kindergartenkind ist noch zu jung, um zu verstehen, was mit diesen Leuten los ist. Es kann es noch nicht einordnen. Sie erkläre, dass diese Leute krank seien. Suchtkrank – aber was das genau ist, versteht ihr Jüngstes noch nicht. Manchmal habe es Angst. Die älteren beiden Kinder, die im Teeniealter sind, wissen, dass diese Leute Drogen nehmen und sie abhängig sind. Die Mutter spricht offen mit ihnen darüber.
«Die Drogenproblematik ist ein grosses Thema bei uns – weil wir ständig damit konfrontiert sind.» Ein Teenager reagiere eher mit Angst, der andere zeige Mitleid und hat schon einmal «bitzli Münz» abgegeben.
Für die Mutter ist besonders etwas herausfordernd: Einerseits möchte sie ihren Kindern dazu verhelfen, selbstständiger zu werden – damit sie etwa alleine den Schulweg meistern. Zugleich fürchtet sie sich davor, ihr jüngstes Kind alleine zur Schule zu schicken. Hinzu kommen die Gefahren des Strassenverkehrs, die gerade in der Baselstrasse nicht zu unterschätzen seien. «Auch meine beiden älteren Kinder habe ich länger zum Spielplatz begleitet, als es wohl die meisten Eltern in anderen Stadtluzerner Quartieren tun.»
Die Mutter hofft, dass der präsente Drogenkonsum im Quartier die Kinder abschreckt und sie die Finger davon lassen. Das ist auch der Fall. Falls Kindern aber ein stabiles Umfeld fehle, könnten sie schneller an Drogen gelangen, fürchtet sie. «Ich weiss von Jugendlichen im Quartier, die in der 2. Oberstufe Kokain genommen haben – ob sie es geschnupft oder geraucht haben, weiss ich nicht. Aber beim Ausprobieren blieb es nicht.»
Drogen seit Jahrzehnten ein Problem
Die Drogen gehören seit jeher zum Babel-Quartier: Die Problematik reicht bis in die 1980er-Jahre zurück: Laut einem Stadtbericht setzte damals eine «Abwärtsspirale» ein, geprägt von mehr Armut, vernachlässigtem Unterhalt und steigender Drogenkriminalität.
So war auch der Dammgärtli-Spielplatz schon anfangs der 2000er-Jahre vor allem als Platz für Drogenkonsum und Prostitution bekannt.
Auch der Quartiervereinigung Babel bereitet der zunehmende und sichtbare Drogenkonsum Sorgen. Das Babel-Quartier soll nicht mehr das «Auffangbecken von Suchtbetroffenen der ganzen Stadt» sein, sagte Julia Rettenmund vom Verein Babel kürzlich gegenüber zentralplus.
Stille Aufruhr
Die Mutter sieht das gleich. Letztens habe sie mit einer Mutter gesprochen, deren Kind am anderen Stadtende zur Schule geht. Diese habe ungläubig den Kopf geschüttelt, als sie von den Zuständen im Babel-Quartier erzählt habe. Sie – wie auch andere Anwohner – sind überzeugt, dass in anderen Stadtluzerner Quartieren der Aufschrei viel grösser wäre und die Stadt schon längst aktiver geworden wäre.
«Viele im Babel-Quartier wehren sich nicht. Weil sie schlicht nicht wissen, wo sie sich hinwenden können – oder sie sich nicht getrauen.» Das Quartier gilt als multikulti, viele Bewohnerinnen haben einen Migrationshintergrund. Andere fürchten, die Wohnung zu verlieren, wenn sie auf Probleme aufmerksam machen. «Ich weiss aber von vielen anderen Familien und Anwohnenden des Quartiers, dass auch ihnen der zunehmend offene Drogenkonsum und -handel Sorgen bereitet.»
Braucht es einen zweiten Drogenkonsumraum?
Die Stadt und der Kanton reagieren auf den Crackkonsum an öffentlichen Brennpunkten. Seit September ist die Gassechuchi – K+A bis 19 Uhr geöffnet, damit Suchtkranke in geschütztem Rahmen konsumieren können. So soll der Konsum für eine längere Zeit von der Strasse ferngehalten werden (zentralplus berichtete).
Weiter haben Stadt und Kanton die SIP – die eine Brückenfunktion zwischen sozialer Arbeit und Ordnungsdiensten wahrnimmt – aufgestockt. Und die Polizei ist an Brennpunkten weiterhin «sehr präsent» (zentralplus berichtete).
Auch die Politik wurde auf den Plan gerufen. Politikerinnen haben mehrere Vorstösse zum Thema Crack eingereicht – einen spezifisch auf das Babel-Quartier bezogen. Grüne-Grossstadträte fordern vom Luzerner Stadtrat, Kinder besser vor Drogen zu schützen, sie über die Folgen aufzuklären sowie suchtgefährdete Jugendliche aufzufangen. Dazu soll ein umfassendes Konzept her (zentralplus berichtete). Wie die Stadt dazu steht, wird sich zeigen. Aufgrund des hängigen Vorstosses kann sie sich momentan noch nicht dazu äussern.
Die Mutter ist froh, dass sich was tut. Sie wünscht sich aber, dass die Polizei gerade zu Zeiten, in denen Kinder zur Schule oder wieder nach Hause laufen, noch mehr Präsenz markiere. Und dass ein zusätzlicher Platz oder Raum bestimmt wird, wo Süchtige konsumieren dürfen.
«Die Gassechuchi – K+A ist am anderen Ende der Stadt», so die Mutter. «Viele scheinen ihre Drogen hier im Babel-Quartier zu besorgen und sie dann gleich hier konsumieren zu wollen.» Allenfalls würde ein zweiter Konsumraum im Babel-Quartier Abhilfe schaffen.
Das Babel-Quartier – das Zuhause vieler Familien
Ob sie sich schon mal überlegt hat, mit ihrer Familie in ein anderes Quartier zu ziehen, wo Drogen aus dem Sichtfeld der Kinder sind? Ja, erwidert die Mutter. Aber dass Familien aus dem kinderreichen Quartier wegziehen, könne nicht die Lösung sein. Ihre Kinder würden sich im Babel-Quartier sehr wohl fühlen. Sie seien fröhlich, pflegen tolle Freundschaften und besuchen den Sentitreff.
«Abgesehen von der Drogenproblematik fühlen wir uns hier sehr wohl. Wir mögen das Multikulti, die Menschen, die Offenheit sowie die Stimmung. Auch mit der Wohnung hatten wir enorm Glück. Wir wollen bleiben. Aber dafür muss sich etwas tun. Ansonsten weitet sich das Problem nur weiter aus – auch in anderen Strassen.»
Isabelle Dahinden schreibt über Menschen, Beziehungen und das Leben. Nach ihrem Studium in Gesellschafts- und Kommunikationswissenschaften schreibt sie seit Dezember 2017 als Gesellschaftsredaktorin für zentralplus. 2021 hat sie die MAZ-Diplomausbildung absolviert, seit August 2023 ist sie stellvertretende Redaktionsleiterin.