Buch erhält Aktualität durch Ukraine-Krieg

Luzerner Theologe erklärt, wann Helfen missbräuchlich ist

Der Theologe Lukas Fries-Schmid erklärt, wieso Hilfe aus den falschen Gründen missbräuchlich ist. (Bild: Unsplash: Rémi Walle/zvg)

Die Schweiz demonstriert derzeit ihre riesige Hilfsbereitschaft. Ein Luzerner Theologe warnt jedoch: Hilfe aus den falschen Gründen kann missbräuchlich sein. zentralplus hat mit Lukas Fries-Schmid über «richtiges» Helfen, Ohnmachtsgefühle und den Ukraine-Krieg gesprochen.

Das Leid der ukrainischen Bevölkerung bewegt die Schweiz. Viele Zugerinnen und Luzerner versuchen aktiv, Gutes zu tun. Sei es durch Hilfsgüter, Geldspenden oder die private Aufnahme von Geflüchteten (zentralplus berichtete). Die Hilfsbereitschaft ist enorm. Deshalb liess der Buchtitel des soeben erschienenen Werkes eines Luzerner Theologen aufhorchen: «Hör auf zu helfen».

Ist Helfen nicht gerade im christlichen Glauben eine Tugend? zentralplus hat beim Autor Lukas Fries-Schmid nachgehakt.

zentralplus: Lukas Fries-Schmid, als Buchautor sind Sie bisher noch unbekannt. Wer sind Sie?

Lukas Fries-Schmid: Von Beruf bin ich Theologe, ich habe Theologie und Pastoralpsychologie studiert. Ich bin verheiratet und Vater von Zwillingen. Mit meiner Familie lebe ich seit 2009 auf dem Sonnenhügel. Das ist das ehemalige Kapuzinerkloster in Schüpfheim. Dort leben wir in einer Gemeinschaft mit derzeit zwei weiteren Personen. Wir beherbergen bei uns Gäste, die eine strukturierte Auszeit machen wollen. Oder sich in einer akuten Krisensituation befinden, zum Beispiel durch psychische Belastungen oder Krankheiten. Wir gestalten zusammen mit ihnen den Alltag, essen alle gemeinsam am Tisch und arbeiten zusammen. So schaffen wir ihnen eine Tagesstruktur mit sinnvoller Arbeit.

Das ehemalige Kapuzinerkloster auf dem Sonnenhügel bietet viel Platz.
Das ehemalige Kapuzinerkloster auf dem Sonnenhügel bietet viel Platz.

zentralplus: Mit Helfen scheinen Sie sich auszukennen. Ihr Buch trägt aber den provokativen Titel «Hör auf zu helfen». Warum sollten Personen aufhören zu helfen?

Fries-Schmid: Der Titel bezieht sich auf Situationen, in denen wir erkennen müssen, dass wir gar nichts tun können. Als Seelsorger oder auch in anderen helfenden Berufen kommt man immer wieder in Situationen, in der das Gegenüber Hilfe sucht und man selbst nicht viel verändern kann. Das führt zu einem Ohnmachtsgefühl. Weil das unangenehm ist, versucht man das irgendwie zu umgehen und etwas dagegen zu tun. Wenn ich dann einer Person helfe, helfe ich aber nicht ihretwegen, sondern um mich selbst besser zu fühlen. Das ist missbräuchlich gegenüber der Hilfe suchenden Person.

zentralplus: Was wäre denn die «richtige» Art zu helfen?

Fries-Schmid: Das Ohnmachtsgefühl anzunehmen und zusammen auszuhalten. Während einer Krise stellen sich Personen häufig existenzielle Fragen nach dem Warum oder Gerechtigkeit. Doch diese Fragen kann schlicht niemand beantworten. Statt ständig daran herumzugrübeln oder krampfhaft eine Antwort zu suchen, sollte man viel mehr versuchen sich damit zu versöhnen und diese Fragen bewusst offen zu halten. Dabei können wir Hilfesuchende unterstützen und begleiten. Das kann man gemeinsam üben, denn in der Gemeinschaft gelingt das besser.

zentralplus: Ist das nicht fatalistisch zu sagen, wir können und sollen quasi nichts tun?

Fries-Schmid: Das ist keinesfalls fatalistisch. Ein Kapitel meines Buches lautet: Aushalten ist nicht Warten. Damit meine ich: Ohnmacht aushalten ist etwas sehr Aktives. Es ist am ehesten vergleichbar mit Meditation. Dabei versuche ich aktiv an nichts zu denken, das Geschehene loszulassen und die Gegenwart hinzunehmen. Das erlebe ich oft mit meinen Mitbewohnern auf dem Sonnenhügel. Einerseits erleben sie eine äussere Krise – zum Beispiel Arbeitslosigkeit oder ein Beziehungsende – andererseits liegen dahinter meist tiefere, existenzielle Fragen. Und diese berühren auch mich als Aussenstehender.

«Ich finde es irritierend, dass andere Konflikte, die genauso grausam sind, kaum Solidarität ausgelöst haben.»

Um ein Beispiel zu nennen: Eine Frau, die gelegentlich als Gast zu uns kommt, hat eine psychische Erkrankung, die es ihr verunmöglicht, dauerhafte Beziehungen zu anderen Menschen zu pflegen. Niemand hält es auf Dauer mit ihr aus. Darum wechselt sie alle paar Jahre ihren Wohnort und leidet sehr unter Einsamkeit. Da kommen doch Fragen nach dem Sinn dahinter auf! Und diese Fragen stelle ich mir in solchen Momenten auch. Auch ich werde wütend auf Gott, wenn ich das Schicksal dieser Frau miterlebe. Denn letztlich suchen wir – ob jetzt glücklich oder nicht – das Gleiche: Zufriedenheit, Geborgenheit und aus einer theologisch-spirituellen Perspektive Gott. Dann einfach loszulassen und auf die Gegenwart Gottes zu vertrauen, braucht Übung.

zentralplus: Mit der derzeitigen Solidaritätswelle zum Ukraine-Krieg wird Ihr Buch aktueller denn je. Wie schätzen Sie die grosse Hilfsbereitschaft ein?

Fries-Schmid: Zum einen finde ich es super, dass die Menschen sich von dieser Grausamkeit bewegen lassen und etwas verändern oder helfen wollen. Dabei finde ich es aber irritierend, dass andere Konflikte, die genauso grausam sind, kaum Solidarität ausgelöst haben. Seit Jahren ertrinken tausende Menschen im Mittelmeer, immer noch leiden viele Hunger. Aber natürlich kann man Grausamkeiten nicht einfach miteinander vergleichen.

Die Gäste vom Sonnenhügel kommen in schlichten Zimmern unter. Lukas Fries-Schmid ist auch in Kontakt, um ukrainische Flüchtlinge aufzunehmen.

zentralplus: Und wie schätzen Sie die Auswirkungen auf uns ein?

Fries-Schmid: Wir erleben eine ungeheure Ohnmacht. Der Krieg ist nah und wir fühlen uns bedroht. Zudem sehen wir mit den Flüchtlingen unmittelbar, was der Krieg für Auswirkungen hat. Gleichzeitig müssen wir uns eingestehen, dass wir als Gesellschaft nicht alles getan haben, um das zu verhindern. Die Schweiz hat eine grosse Rüstungsindustrie, unsere Banken investieren in russische Anlagen und wir kaufen Öl und Gas von Putin.

Auch auf der Ebene der Einzelpersonen fühlen viele, als könnten sie wenig ausrichten. Aber es bräuchte jetzt, dass jeder Einzelne etwas tut. Derzeit ist es wichtig, den Flüchtlingen in ihrer akuten Notlage zu helfen. Das ist aber nur Pflästerlipolitik. Längerfristig müssen wir Abstriche auf dem eigenen Teller machen und beispielsweise unsere Mobilität und unseren Ressourcenverbrauch überdenken. Das wäre für mich die logische Konsequenz daraus.

zentralplus: Sie sprechen die Hilfe von Flüchtlingen an. Wie müssen wir den geflüchteten Personen begegnen, damit unsere Hilfe nicht missbräuchlich ist?

Fries-Schmid: Zuerst braucht es jetzt äussere Mittel: Bett und Brot, einen Ort, wo sie in Sicherheit sind und wo sie sich untereinander vernetzen können. Sie sollen spüren, dass sie nicht allein sind. Der nächste Schritt ist hingegen schwieriger: Aushalten, dass man darüber hinaus nicht viel tun kann. Und wir keine Ahnung haben, wie sich die Lage entwickelt. Zwar hegen viele die Hoffnung, dass die ukrainischen Familien in den nächsten drei Monaten wieder zurückkönnen. Wissen tun wir das aber nicht. Und wir können sie nicht einfach abschieben, wenn es länger dauern sollte.

«Man kann tagsüber Ausflüge machen, aber am Abend im Bett sind sie allein. Es braucht auch tagsüber Momente, in denen ihr Elend in den Vordergrund treten darf.»

Und selbst wenn sie zurückgehen, was bleibt ihnen da? Viele Häuser sind kaputt, Verwandte sind verschollen oder tot. Dieses Leid wird noch viele weitere Generationen prägen. Wir dürfen uns vor diesem Elend jetzt nicht verschliessen. Den besten Trost, den wir ihnen bieten können, ist, sie spüren zu lassen, dass man da ist. Indem man ihnen zuhört, mit ihnen schweigt und mit ihnen weint.

zentralplus: Sie leben seit mehr als zehn Jahren mit Personen in Krisensituationen zusammen. Was für Tipps können Sie zum Zusammenleben mit traumatisierten Personen geben?

Fries-Schmid: Man sollte versuchen, einen möglichst normalen Alltag mit einer gemeinsamen Tagesstruktur zu schaffen. Bei uns beispielsweise jäten wir zusammen, backen Brot, kochen und essen zu fixen Zeiten an einem Tisch. Gerade das gemeinsame Kochen schafft grosse Verbundenheit. Sie können sich beim Kochen selbst einbringen und ihre Kultur zeigen.

Es ist aber wichtig, nicht nur eine Struktur zur Ablenkung zu schaffen, sondern auch für Leere und Ungewissheit. Man kann tagsüber Ausflüge machen und all sowas, aber am Abend im Bett sind sie allein. Es braucht auch tagsüber Momente, in denen ihr Elend in den Vordergrund treten darf. Etwa, indem wir bewusst eine Kerze anzünden. Denn nur wenn man diese Gefühle aktiv durchmacht, können sie heilen. Wichtig ist, dass wir dabei den Mut haben, das als Gegenüber auszuhalten.

Was bei uns im Sonnenhügel noch speziell dazukommt, sind regelmässige stille Zeiten, sei es für Gebete oder Meditation. Die sind zwar nicht zwingend, aber Unterbrüche sind für mich wichtig. Oft hat man das Gefühl, alles selbst machen und alles allein schaffen zu müssen. Aus diesem Hamsterrad gilt es auszubrechen.

zentralplus: Stossen Sie dabei manchmal auch an Ihre Grenzen?

Fries-Schmid: Auf jeden Fall. Zwar ist ein Alltag gestalten im Grunde genommen einfach. Doch bei manchen Gästen frage auch ich mich, wie es sein kann, dass eine einzelne Person so viel ertragen muss. Dann kommen mir die Zweifel und ich bekomme das Gefühl, als wäre das, was wir machen, nur ein Tropfen auf den heissen Stein.

So erlebe auch ich oft Ohnmacht, dass es zum Verzweifeln ist. Aber, und das trägt mich: Ich erfahre auch, dass sich manchmal eine unerwartete Tür öffnet, wenn wir es wagen, durch dieses Gefühl der Ohnmacht hindurchzugehen.

«Hör auf zu helfen»

Der Titel des Buches macht stutzig: Soll Helfen etwa keine Tugend sein? In der Tat: Helfen dient bisweilen auch dazu, unsere eigene Ohnmacht zu überdecken, an die uns der Hilfesuchende erinnert. Dann ist unsere Hilfe aber missbräuchlich. Wir missbrauchen das Gegenüber, wenn unsere Hilfe dazu dient, uns selbst vor unangenehmen Gefühlen zu schützen. Das Buch postuliert eine andere Art von Hilfe: Eine Hilfe, die unsere Grenzen miteinbezieht. Dies führt zu einem Leben mit dem anderen, statt für den anderen – gerade so wie es die Gemeinschaft auf dem Sonnenhügel seit bald 30 Jahren praktiziert.

In seinem Buch, das am Montag erscheint, erzählt Co-Leiter und Theologe Lukas Fries-Schmid (*1973) mit zahlreichen Beispielen aus seiner Praxis, wie wir mit Ohnmacht ob der Hilflosigkeit umgehen können. Das 160-seitige Buch ist im deutschen Echter-Verlag erschienen und im Handel für rund 21 Franken erhältlich. Am Freitag, 8. April, findet um 20 Uhr in der Klosterkirche Schüpfheim die Buchvernissage statt.

Verwendete Quellen
  • Telefonat mit Lukas Fries-Schmid
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1 Kommentar
  • Profilfoto von Familie Fasel
    Familie Fasel, 19.03.2022, 17:37 Uhr

    Wieviele spirituelle Ratgeber soll es noch geben? Es gibt ja schon Bibliotheken voll ……..

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