Waldbaden: Ein neuer Trend

Luzerner Naturbotschafterin: «Es tut gut, den Wald wie ein Kind zu erforschen»

Susana Garcia Ferreira im Bireggwald Luzern. (Bild: Sandra Marusic)

Susana Garcia Ferreira zeigt Menschen beruflich, wie sie in die Natur eintauchen können. zentralplus traf sie im Bireggwald und liess sich von ihrer Faszination für die Bäume anstecken.

1989. Ein gewöhnlicher Sonntagmorgen im thurgauischen Aadorf. Die zehnjährige Susana Garcia Ferreira verabschiedet sich von ihren Eltern. Gleich beginnt der Sonntags-Gottesdienst, zu welchem sie regelmässig geschickt wird. Doch auf dem Weg zur Kirche biegt die Tochter portugiesischer Einwanderer bald schon rechts ab. Der Wald ist ihr Ziel. Dort verbringt sie fast jeden Sonntagmorgen – wenn die Kirchenglocken nach dem Gottesdienst läuten, macht sie sich auf den Heimweg.

2019. Ein sonniger Donnerstagmorgen im luzernischen Bireggwald. Susana Garcia Ferreira sitzt in Shorts und einem blauweiss-gestreiften Pullover auf dem Holzstamm zwischen Buchen und Eichen. Sie hat sich vor kurzem selbständig gemacht, als Natur-Botschafterin. Die 40-Jährige bietet Kurse an, Workshops, schreibt Kolumnen für Alnatura Bio Super Märke und sie führt Menschen ins Waldbaden ein.

Ohne Ausrüstung, ohne Abo

Waldbaden mit Büchern, Blogs und Kursen – der neue Hype scheint auf einem Höhepunkt angekommen. Dass sich so viele fürs Waldbaden begeistern sei toll, findet Garcia. Doch wenn das Waldbaden zum Sport werde, dann sei das Ziel verfehlt. «Für den Wald gibt es keinen Eintrittspreis, keine Öffnungszeiten.» Und beim Waldbaden gibt es kein richtig oder falsch, sagt Garcia.

Wir ziehen die Schuhe aus, spüren die Tannennadeln, das Moos, die Steine und Blätter unter unseren Fusssohlen. Wir schliessen die Augen, lauschen den Blättern im Wind, atmen die Gerüche des Waldes ein, betrachten die Strukturen von Rinden und Tannzapfen, das Schattenspiel auf Stämmen und Wurzeln.

Studien attestieren dem Waldbaden eine positive Wirkung
Seinen Ursprung hat das Waldbaden unter dem Namen «Shinrin-yoku» in Japan. In Europa ist es erst in den vergangenen Jahren bekannt geworden und scheint nun auf einem Höhepunkt angekommen. Das Zentrale dabei ist, den Wald, die Natur bewusst wahrzunehmen und auf sich wirken zu lassen. Dabei ist es nicht notwendig, sich körperlich anzustrengen, zu wandern oder zu turnen. Bereits ein gemütlicher Spaziergang, Atemübungen oder Entspannen im Wald zählt als Waldbaden. In Japan wird Shinrin-yoku seit den 1980er Jahren staatlich gefördert. Seit 2012 bieten zahlreiche japanischen Universitäten gar eine fachärztliche Spezialisierung dazu an. Die Heilkraft des Waldes ist weltweit unbestritten. Dies einerseits auf der psychologischen Ebene, durch die positiven Gefühle, die der Wald – oft auch mit Kindheitserinnerungen verbunden – auslöst. Andererseits ist die positive Wirkung des Waldes auf das menschliche Immunsystem und den Heilungsprozess von Patienten in diversen Studien belegt worden.

Atemübungen und kleine Rituale gehören für Garcia zum Waldbaden dazu. Es sei aber jedem selbst überlassen, wie sie oder er die Zeit im Wald verbringen wolle. Rituale und Übungen seien vor allem hilfreich, wenn Menschen erstmal an- und zur Ruhe kommen sollen. Rituale, so profan und einfach sie scheinen, wenn man bewusst ausführe, haben sie eine starke Wirkung, so Garcia. Es solle jedoch jede und jeder für sich selbst herausfinden: Was will ich? Was tut mir gerade gut? Dabei plädiert Garcia auch dafür, den Rhythmus der Natur wahrzunehmen und zu nutzen. «Wir sind Teil der Natur. Ihren Rhythmus mitzuleben macht weit mehr Sinn, als sich ihm entgegenzustemmen.»

Von Kindern lernen

Manchmal bereitet Garcia sich bewusst auf den Wald vor, plant ihren Besuch, steigt in die guten Schuhe. Oft jedoch ist der Besuch im Wald, oder am See bei ihrer Lieblingseiche, spontan. «Dann, wenn ich das Gefühl habe, es tue mir gerade gut.» Es gehe vor allem darum, den Kopf zu leeren. «Wir sind andauernd von tausenden Gedanken getrieben: Erwische ich den nächsten Bus, muss ich noch etwas besorgen, wie wird das Meeting ablaufen, bin ich der Mitarbeiterin vorher mit meiner Aussage auf die Füsse getreten? Ständig plappert es in unserem Kopf.» Im Wald könne man einfach sein, den Kopf abschalten. «Es tut gut, etwas zu betrachten, zu bewundern, die Natur wie ein Kind zu erforschen, sich im Moment zu verlieren und Zeit zu vergeuden», sagt Garcia und geht in die Hocke. Sie hebt einen kleinen Ast auf, legt ihn in ihre Handfläche, streicht darüber, sie lächelt, die dunklen Stirnfransen verdecken fast gänzlich die Augen.

Garcias Faszination für Bäume hat etwas Kindliches, Ansteckendes. Wenn sie von den Tricks der Bäume erzählt, davon, wie sie täglich 100 Liter Wasser aus den Wurzeln bis in die Blätter transportieren, unsere Luft reinigen, den Jahreszeiten, Stürmen und Beben trotzen. Garcia erkennt die unterschiedlichen Baumarten von weitem, an der Rinde, den Blättern und Früchten. Das sei nicht nötig, um den Wald zu geniessen. Doch etwas benennen zu können gebe etwas eine Persönlichkeit und einen Wert. «Desto mehr man über die Arten, die Vielfalt und die Lebensweise von Pflanzen weiss – desto demütiger ist man der Natur gegenüber», sagt Garcia. Zudem sei es schlicht und einfach auch spannend.

Ein Bruch mit dem alten Leben

Noch vor wenigen Jahren war Garcia in ihrem Leben an einem ganz anderen Punkt. Als National Sales Manager für die international erfolgreiche Kosmetik-Marke MAC lebte sie in Zürich, war verheiratet und reiste regelmässig in die wichtigen Metropolen zu Meetings. «Dort sass ich plötzlich und fragte mich, was ich hier eigentlich machte.» Sie habe sich wie in einem Hamsterrad gefühlt, als ob sie nach einem Skript lebe.

Die Einladung einer Freundin zu einem Waldheilkunde-Kurs war damals der Türöffner zu ihrem heutigen Weg. «Ich war erst sehr kritisch eingestellt, steckte diese Art von Kursen und Menschen in eine, mir völlig fremde, esoterische Schublade», sagt Garcia, während ihre Hände weiter mit dem kleinen Ast spielen. Heute ist «Bäume umarmen» für sie nichts Seltsames oder Abgehobenes mehr. Dass sie mit den Bäumen spricht, ihnen Charakterzüge zuspricht und Antworten wahrnimmt, gehört für sie zum Besuch im Wald. «Vielleicht begrüsst mich der Baum tatsächlich, vielleicht tut er es nur in meiner Fantasie – das ist für mich nicht wichtig», sagt Garcia, während sie zu den Baumwipfeln hochblickt. Es gebe ihr ein gutes Gefühl und das sei die Hauptsache.

Stadt und Wald

Seit knapp vier Jahren lebt Garcia nun mit ihrem Partner und dem gemeinsamen, bald zweijährigen Sohn in Luzern. Alleine, mit Kunden, oder auch mit ihrem Sohn verbringt sie viel Zeit in den Wäldern rund um die Stadt Luzern herum. Am liebsten hier im Bireggwald, den wir nun langsam spazierend auf dem kurvenreichen Weg wieder verlassen, im etwas düsteren und moorigeren Meggerwald, oder im Sihlwald. Den finde sie besonders beeindruckend, da er seit über 20 Jahren ganz sich selbst überlassen werde – ohne die sogenannte Waldpflege. «Der Wald braucht uns nicht. Der kommt tatsächlich ganz gut alleine klar», sagt Garcia und lacht.

Ihr neuer beruflicher Weg habe ihr viel aufgezeigt – auch für ihre privaten Prioritäten und Ziele. Trotzdem sei sie kein anderer Mensch geworden. «Ich liebe Zürich noch immer, roten Lippenstift und guten Wein», sagt sie und lacht. Sie sei immer noch ähnlich zielstrebig und energisch, fühle sich unter vielen Menschen und auch in der digitalen Welt sehr wohl. Das sei aber definitiv kein Widerspruch. Der Wald gebe ihr nun einfach die Ruhe, die ihr in unserer hektischen Gesellschaft gefehlt habe.

Jana Avanzini

Dieser Beitrag ist zuerst im Magazin «Echt» erschienen.

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1 Kommentar
  • Profilfoto von Elvira Studhalter
    Elvira Studhalter, 12.10.2019, 09:07 Uhr

    Die Menschheit ist wirklich am Verdummen! Waldbaden, und Leute, die Menschen beruflich in den Wald und in die Natur einführen! Manchmal habe ich wirklich den Eindruck, dass wir alle Normalität und Vernunft verloren haben!
    Wald – ein neuer Trend! Zum Fremdschämen!

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