Wer nicht Nein sagt, wird zum Spender

Wieso Luzerner Professor gegen neue Organspende-Lösung ist

Peter G. Kirchschläger hält die Widerspruchslösung für ethisch problematisch. (Bild: jal)

Die Schweiz hat zu wenig Spendeorgane. Neu soll deshalb gelten: Wer nicht explizit Nein sagt, wird zum Organspender. Peter G. Kirchschläger von der Universität Luzern beurteilt diese Lösung kritisch. Und verlangt von der Politik kreativere Wege.

1434 Menschen warteten Ende 2021 in der Schweiz auf ein neues Organ. Manche von ihnen seit Monaten, manche seit über einem Jahr. Denn es gibt zu wenige Spender. Letztes Jahr starben 72 Menschen auf der Warteliste.

Mit dem Wechsel auf die sogenannt erweiterte Widerspruchslösung wollen Bundesrat und Parlament dafür sorgen, dass die Wartezeit kürzer wird. Neu gilt als Spenderin, wer sich zu Lebzeiten nicht explizit dagegen ausgesprochen hat. Heute ist es umgekehrt (siehe Video).

Organ soll ein Geschenk bleiben

Peter G. Kirchschläger hält die erweiterte Widerspruchslösung für ethisch problematisch. Der Professor für theologische Ethik an der Universität Luzern engagiert sich im Nein-Komitee der Vorlage, die am 15. Mai an die Urne kommt.

zentralplus: Peter G. Kirchschläger, Organspenden retten Leben. Da kann man schwer etwas dagegen haben?

Kirchschläger: Nein. Organspende ist etwas ethisch Wünschenswertes. Sie kann Leben verlängern und Schmerzen lindern. Organspende ist aber keine ethische Pflicht.

zentralplus: Man darf also auch mit gutem Gewissen Nein sagen.

Kirchschläger: Ja. Jeder und jede soll frei – auch frei von gesellschaftlichem Druck – entscheiden können, was mit dem eigenen Körper passiert. Es soll ja eine Spende bleiben, ein Geschenk.

«Mit der Widerspruchslösung laufen wir Gefahr, dass Menschen automatisch zu Organspendern werden – obwohl sie das gar nicht wollen.»

zentralplus: In der Schweiz gibt es zu wenige solcher Geschenke. Die erweiterte Widerspruchslösung, über die wir am 15. Mai abstimmen, will diesem Problem begegnen. Wieso sind Sie dagegen?

Kirchschläger: Es ist ein Problem, dass Menschen lange auf ein Organ warten müssen. Aber das rechtfertigt nicht alle Wege, um die Spenderate zu erhöhen. Mit der Widerspruchslösung wird man zum Spender, wenn man sich nicht explizit dagegen ausspricht. Damit laufen wir Gefahr, dass Menschen automatisch zu Organspendern werden – obwohl sie das gar nicht wollen. Das widerspricht dem Menschenrecht auf Freiheit und dem Menschenrecht auf körperliche Unversehrtheit.

zentralplus: Das neue Gesetz sieht Mechanismen vor, die das verhindern sollen. Wer seine Organe nicht spenden will, kann Nein sagen.

Kirchschläger: Weder der Bund noch Swisstransplant können garantieren, dass alle Menschen über diese Option informiert sind. Es ist utopisch, dass man alle erreicht. Das haben wir in der Covid-19-Pandemie gesehen. Gemäss einer Studie des BAG stehen 50 Prozent einer Organspende kritisch gegenüber. Es ist also davon auszugehen, dass Menschen gegen ihren Willen zu Spendern werden. Erstaunlich finde ich: Der Paradigmenwechsel ist so gross, dass sich die nationale Ethikkommission ausdrücklich dagegen ausgesprochen hat. Im Parlament wurde das grosszügig überhört.

Der Bund erklärt die Abstimmungsvorlage:

zentralplus: Die Schweiz ist eine direkte Demokratie, in der die Bürger ernst genommen werden: Darf der Staat da nicht vom Einzelnen verlangen, sich zu informieren und zu äussern, wenn er keine Organspende will?

Kirchschläger: Nein. Es gibt zwar eine ethische Pflicht, sich mit der Frage der Organspende zu beschäftigen. Aber jeder ist frei, sich nicht entscheiden zu müssen. Die Widerspruchslösung widerspricht fundamental unserem liberalen Rechtsstaat. Denn plötzlich muss man sich präventiv wehren, damit der Staat nicht in einen sehr persönlichen Bereich eingreift. Es wäre, als wäre Einbruch bei allen erlaubt, die nicht das Schild «Bitte nicht einbrechen» an der Wohnung anbringen.

zentralplus: Wer könnte denn potenziell davon betroffen sein? Sind das vor allem bildungsferne Menschen, die keine Landessprache beherrschen, die der Bund tendenziell nicht erreicht?

Kirchschläger: Bildung, sozioökonomische Situation und Sprache könnten sicherlich Faktoren sein. Es kann aber auch sein, dass sich jemand einfach nicht mit dieser Frage beschäftigen will. Das wäre nicht so überraschend in unserer Gesellschaft, die nicht gerne über Sterben und Tod spricht.

zentralplus: Dass andere nach dem Tod über mich entscheiden, ist heute bereits Realität. Wenn ich unverhofft sterbe und nicht entschieden habe, ob ich kremiert oder beerdigt werde, dann entscheiden Angehörige, was mit meinem Körper passiert – allenfalls gegen meinen Willen.

Kirchschläger: Das trifft zu, aber es besteht aus meiner Sicht ein wichtiger Unterschied. Geht es um die Bestattung, ist der Mensch eindeutig tot. Im Bereich der Organspende haben wir uns zwar rechtlich auf eine Definition für «tot» geeignet, was aus ethischer Sicht sinnvoll ist. Aber die Kriterien sollten im Lichte der wissenschaftlichen Erkenntnisse ständig kritisch überprüft werden, da wir mit dem Mysterium des Sterbeprozesses von Menschen ringen.

«Mich überrascht es zutiefst, dass der Staat und die Politik nicht kreativere Wege suchen.»

zentralplus: Die neue Lösung soll auch Angehörige entlasten. Liegt kein Wille vor, müssen sie innert Kürze und im Schmerz um den Tod ihrer Angehörigen entscheiden, ob ihr Vater oder ihre Schwester die Organe spenden soll. Das ist kein einfacher Moment.

Kirchschläger: An diesem schwierigen Moment ändert sich aber nichts. Wer sich nicht äussert, bei dem sind die Angehörigen in Zukunft genau in derselben Situation. Die neue Lösung ist darüber hinaus auch dahingehend eine Zumutung, dass Organempfänger nicht mit Sicherheit wissen können, ob der Spender das überhaupt wollte.

zentralplus: In der Coronakrise hat der Staat auch in die persönlichen Freiheiten eingegriffen, um Leben zu schützen. Man könnte auch bei der Organspende sagen, die Güterabwägung fällt zugunsten von Lebenretten aus.

Kirchschläger: Es ist nicht überraschend, dass man in der Schweiz in Bezug auf die Covid-Impflicht sehr zurückhaltend war. Jeder Mensch ist in seiner körperlichen Unversehrtheit geschützt. Eine Organentnahme ist nochmals ein viel viel grösserer Eingriff. Man kann diese Güter nicht einfach gegeneinander abwägen. Zudem muss die Güterabwägung zur Einschränkung verhältnismässig sein. Die Juristen sagen aber eindeutig, dass das hier nicht der Fall ist. Auch wenn diese ethischen Argumente abstrakt wirken mögen, sie haben ganz persönliche Konsequenzen für konkrete Menschen in konkreten Lebenssituationen, nämlich dass der Staat in den eigenen Körper eingreift, obwohl man das nicht will.

zentralplus: Blicken wir noch über den Tellerrand: Viele europäische Länder haben die Widerspruchslösung – und mehr Organe.

Kirchschläger: Nun, wenn andere Länder ethische Fehler machen, müssen wir das nicht auch machen. Vor allem aber ist es nicht erwiesen, dass die Widerspruchslösung zu einer höheren Spenderate führt. Wieso müssen wir einen ethisch höchst problematischen Weg wählen, wenn wir nicht mal sicher wissen, ob er etwas bringt?

zentralplus: Die Kausalität ist nicht erwiesen, aber es gibt Hinweise, dass die Widerspruchslösung die Spenderate positiv beeinflusst.

Kirchschläger: Nein, das ist nur eine Hoffnung. Als solche müsste man es auch deklarieren. Wer behauptet, die Spenderate steige dank des neuen Modells, handelt unredlich, weil die Fakten anders sind.

zentralplus: Sie würden es begrüssen, wenn es mehr Spendeorgane gäbe, lehnen aber die Widerspruchslösung ab. Welche Alternativen wären aus Ihrer Sicht besser?

Kirchschläger: Mich überrascht es zutiefst, dass der Staat und die Politik nicht kreativere Wege suchen. Ich selber habe vor drei Jahren mehrere Vorschläge gemacht. Wir alle mussten wahrscheinlich zum Beispiel schon mal im Wartezimmer beim Hausarzt warten: Das wäre der perfekte Ort, um Menschen für das Thema zu sensibilisieren – nicht nur mit Broschüren, sondern auch mit Beratung. Auch die Schule böte diesbezüglich eine riesige Chance. Denn leider kann sich die Frage der Organspende bereits früh im Leben stellen.

zentralplus: Der Bund hat ja in der Vergangenheit bereits einen Aktionsplan umgesetzt. Die Spenderate stieg, aber nicht im erhofften Ausmass. Liegt da wirklich noch mehr drin?

Kirchschläger: Verpasst eine Kampagne den erhofften Effekt, muss man sich doch fragen: Was können wir noch besser machen? Die erwähnten zwei Beispiele zeigen ja: Es ist noch mehr möglich. Die zuständigen Stellen müssen ihre Hausaufgaben richtig machen statt auf ethisch höchst problematische Wege, die mit der Tradition des liberalen Rechtsstaates brechen, umzusteigen.

Organspende: So kannst du deinen Entscheid festhalten

Aktuell gibt es laut Bundesamt für Gesundheit mehrere Möglichkeiten, um den Willen für oder gegen die Spende von Organen oder Geweben nach dem Tod festzuhalten:

  • Die Spendekarte: Diese Karte trägt man auf sich oder man hinterlegt sie an einem Ort, den die Angehörigen kennen. Auf der Spendekarte kannst du angeben, ob du alle oder nur bestimmte Organe spenden möchtest – oder eine Spende generell ablehnst. Die Angaben auf der Spendekarte werden nicht registriert. Die Spendekarte kann man gratis hier bestellen oder selber ausdrucken.
  • Die Patientenverfügung: Welche medizinische Massnahmen würdest du wollen, falls du durch einen Unfall oder eine Krankheit nicht mehr selbst entscheiden könntest? Das kannst in einer Patientenverfügung festhalten. Dort kannst du auch deinen Willen bezüglich Organspende eintragen. Verschiedene Organisationen bieten Patientenverfügungen zusammen mit einer Beratung an.
  • Das Elektronische Patientendossier (EPD). Im EPD kannst du Dokumente mit Informationen rund um deine Gesundheit ablegen und bestimmen, wer darauf zugreifen darf. Auch die Spendekarte kann hier abgelegt werden. Das EPD befindet sich zurzeit allerdings noch im Aufbau – in Zug und Luzern ist es noch nicht verfügbar.
  • Spenderegister: Die Stiftung Swisstransplant führt ein Spenderegister, doch derzeit sind dort keine neuen Einträge möglich. Grund sind Berichte über mangelnden Datenschutz. Laut Swisstransplant konnten zwar zu keinem Zeitpunkt Personendaten eingesehen oder bearbeitet werden. Doch es könne nicht ausgeschlossen werden, dass sich jemand mit gefälschten Angaben im Register einträgt. Deshalb ist die Registration derzeit sistiert.

Sagt die Schweiz am 15. Mai Ja zum Transplantationsgesetz, wird der Bund ein neues Register aufbauen, in dem sich jede und jeder eintragen kann. Die neue Regelung tritt indes frühestens im Herbst 2023 in Kraft. Bis dahin gilt weiterhin die Zustimmungslösung.

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6 Kommentare
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    Remo, 07.05.2022, 21:33 Uhr

    Ich habe Herrn Kirchschläger gestern in der Arena gesehen und vor allem gehört. Wer selbst immer fordert ausreden zu dürfen, der sollte auch anderen Teilnehmern nicht immer ins Wort fallen. Sehr unsympathisch.

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  • Profilfoto von Peter Bitterli
    Peter Bitterli, 06.05.2022, 08:37 Uhr

    Ich halte Ethikprofessoren für ethisch problematisch.

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    • Profilfoto von Thomas Aeberhard
      Thomas Aeberhard, 06.05.2022, 09:05 Uhr

      Warum? Ich halte pauschale Verunglimpfungen ohne Argumente für ethisch fragwürdig.

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      • Profilfoto von Loris Fabrizio Mainardi
        Loris Fabrizio Mainardi, 06.05.2022, 10:24 Uhr

        … kommt auf die Pauschalität an. Ich halte Prof. Kirchschläger entgegen:

        1. Die Befürchtung, es könnten «bildungsferne» Menschen von der neuen Regelung keine Kenntnis erhalten, ist angesichts einer Volksabstimmung und im heutigen Medienzeitalter generell realitätsfern.

        2. Das Postulat, jedermann habe das Recht, sich NICHT zur Frage der Organspende äussern zu müssen, ist gerade in einem basisdemokratischen Rechtsstaat abwegig: einem mündigen Bürger ist vielmehr zuzumuten, in persönlichen wie gesellschaftlichen Fragen Entscheidungen zu treffen.

        3. Kirchschläger übersieht, dass der Staat in Wahrung kollektiver Interessen seinen Bürgern sehr wohl «in den eigenen Körper eingreift, obwohl man das nicht will» – nota bene ohne «Widerspruchslösung» und sogar mit möglicher Todesfolge, namentlich im Kriegsdienst.

        Soweit eine Widerspruchslösung möglich und wirksam ist, stehen ethische Gegenargumente auf schwacher Basis.

        Loris Fabrizio Mainardi, lic.iur.

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      • Profilfoto von Peter Bitterli
        Peter Bitterli, 06.05.2022, 13:50 Uhr

        Anmassung?
        Meist platte Rationalisierung von aufgrund religiöser und gesellschaftlicher Prägung zum voraus feststehenden Meinungen?
        Ein strenges Geschmäcklein nach Moralinsäure?
        Entmündigung der blöden Nicht-Ethiker?
        Wichtigtuerei zwecks Eigenheimfinanzierung?
        Suchen Sie sich aus, T.A., was für Sie wie ein Argument aussieht.

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      • Profilfoto von M. Schmidig
        M. Schmidig, 06.05.2022, 14:46 Uhr

        @lfm: zu Punkt 1: Sie vergessen, dass 25% der schweizerischen Bevölkerung kein Wahlrecht hat.
        Sie kennen ja das Gesetz bestens, und damit auch Folgendes: «Jeder Mensch hat das Recht auf persönliche Freiheit, insbesondere auf körperliche und geistige Unversehrtheit und auf Bewegungsfreiheit.»
        Hier die Organspende mit einem Kriegseinsatz zu vergleichen empfinde ich als unpassend.
        Mich wundert es, dass Sie als Jurist sich nicht für Grundrechte einsetzen.
        Und bei dieser Abstimmung geht es nicht um Organspende.
        Sondern darum, den Begriff «Spende» neu zu definieren.
        Weg von «Ich mache eine bewusste Entscheidung und hinterlege die auch schriftlich» zu «Wenn ich nichts sage, kann man sich an meinem sterbenden Körper bedienen.»
        Wenn jemand in Ihr Haus einbricht und sich bedient- haben Sie dann auch gespendet?
        Und aus diesem Grund stimme ich aus ethischer Überzeugung Nein.

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