Missbrauchsopfer nach Ausschnitt gefragt

Jurist übt Kritik an den Fragen der Kantonsrichterin

Das Kantonsgericht in Luzern. (Bild: ber)

Es war notwendig, das Opfer eines Sexualdelikts nach der Kleidung zu fragen, die es zur Tatzeit trug. So sieht es das Kantonsgericht Luzern. «Das ist ein Unsinn», sagt hingegen der Zürcher Jurist Peter Rüegger.

Der Fall schlägt Wellen – und zwar über die Kantonsgrenzen hinaus. Nationale Medien haben darüber berichtet, dass eine Luzerner Richterin dem Opfer eines Sexualdelikts letzte Woche implizit eine Mitschuld an der Tat gegeben habe.

Die Zeugin musste in der Verhandlung das Kleid beschreiben, das sie an dem Abend trug und wurde zudem explizit danach gefragt, wie der Ausschnitt aussah (zentralplus berichtete).

Die Frau war 2012 von einem Taxifahrer im Auto festgehalten und mehrfach an den Brüsten sowie den Oberschenkeln angefasst worden, obwohl sie sich eindeutig dagegen gewehrt hatte. Der Täter ist geständig. Das Kantonsgericht entschied aber, dass es sich dabei nicht um eine sexuelle Nötigung gehandelt hat, sondern lediglich eine sexuelle Belästigung. Letztere ist kein Verbrechen, sondern eine Übertretung, die in der Regel nach sieben Jahren verjährt. Der Mann wurde in diesem Anklagepunkt deshalb freigesprochen (zentralplus berichtete).

Luzerner Feministinnen hatten das Vorgehen der befragenden Richterin in einem offenen Brief kritisiert (zentralplus berichtete). Gegenüber dem Online-Magazin «Watson» sagte die Generalsekretärin des Kantonsgerichts dazu: «Ob der Angreifer das Opfer auf der nackten Brust oder durch die Jacke berührt, kann strafrechtlich einen Unterschied machen.»

Für Rüegger ist klar: Das war eine sexuelle Nötigung

Dieser Argumentation widerspricht nun der Zürcher Jurist und Opferberater Peter Rüegger. Für die Einordnung des Sachverhalts mache es keinen Unterschied, ob der Täter das Opfer auf der nackten Brust oder durch die Jacke anfasse.

«Der Schutz der sexuellen Selbstbestimmung hängt nicht von der Kleidung ab.»

«Eine Frau kann anziehen, was sie will. Es ist nicht so, dass leger angezogene Frauen Freiwild sind», betont er. Mit solchen Fragen schiebe man ihnen eine Teilschuld zu. Das habe eine verheerende Wirkung. «Die Opfer machen sich ohnehin immer selber Vorwürfe und durch solche Fragen wird das noch verstärkt.»

Für die juristische Beurteilung des Falles sei es eben nicht relevant, was die Frau anhatte. «Der Schutz der sexuellen Selbstbestimmung hängt nicht von der Kleidung ab. Gestützt auf den mir bekannten Sachverhalt, befand sich die Frau in einer besonders wehrlosen Situation, weil sie angetrunken war und das Auto nicht verlassen konnte, um sich den Übergriffen des Beschuldigten zu entziehen.»

«Das Opfer sollte in der Befragung nie das Gefühl bekommen, selber schuld zu sein.»

«Der mir geschilderte Sachverhalt geht klar über eine sexuellen Belästigung hinaus, wo es zum Beispiel um ein kurzes Berühren der Brust oder des Gesässes einer Frau namentlich in einem dicht besetzten Bus geht. Das betreffende Verhalten des Beschuldigten ordne ich als sexuelle Nötigung ein», sagt Rüegger. «Dabei spielt es keine Rolle, ob die Frau einen Rollkragenpulli oder ein T-Shirt getragen hat.»

Bei der Ermittlung des Sachverhalts müssten Polizei und Staatsanwaltschaften naturgemäss genau nachfragen, was passiert ist. Denn in der Anklageschrift müssen die Tathandlungen detailliert beschrieben werden. Dabei sei entscheidend, wie gefragt werde.

Hier spielten Empathie, Interesse und Geduld eine grosse Rolle. Dem Gericht liege das Ergebnis der Untersuchung in Form der Anklageschrift vor und der beschriebene Sachverhalt bilde den Gegenstand der Gerichtsverhandlung. «Das mutmassliche Opfer sollte in der Befragung nie das Gefühl bekommen, selber schuld zu sein.»

Verbreitete Vergewaltigungsmythen

In der Befragung vor Gericht hatte das Opfer beteuert, dass der Ausschnitt nicht tief gewesen sei, sondern rund ausgeschnitten. Da hätte die Richterin merken können, was die Frage nach der Bekleidung beim Opfer ausgelöst hat.

Der Umstand, dass es eine Richterin war, die solche Fragen stellte, kann gemäss Rüegger eine zusätzliche Belastung darstellen. «Gemeinhin nimmt man an, dass Frauen solche Befragungen rücksichtsvoller machen. Aber das ist nicht unbedingt so. Und wenn eine Frau derart wenig Sensibilität an den Tag legt, dann kann das die Opfer umso mehr treffen.»

«So, wie in dem vorliegenden Fall gefragt wurde, sollte man nicht fragen.»

Es ist bekannt, dass auch Strafverfolgung und Justiz sogenannten Vergewaltigungsmythen unterliegen. Dabei handelt es sich um schematische Vorstellungen über Täter, Opfer und Begleitumstände sexueller Übergriffe. Zahlreiche Studien haben gezeigt, dass eine stärkere Zustimmung zu Vergewaltigungsmythen mit der Tendenz zu Täter-entlastenden und Opfer-belastenden Verantwortungszuschreibungen einhergeht.

«Die Tendenz, dem Opfer eine Mitschuld zu geben, ist leider immer noch verbreitet», stellt Rüegger fest. Entsprechende Weiterbildungen von Richterinnen und Richtern würde er sehr begrüssen. «So, wie in dem vorliegenden Fall gefragt wurde, sollte man nicht fragen», so Rüeggers Fazit.

Peter Rüegger ist promovierter Jurist und war sieben Jahre Bezirksanwalt in Zürich und 15 Jahre Leiter des Kommissariats Ermittlungen der Stadtpolizei Zürich. Er ist zusammen mit dem Berner Psychiater Dr. med. Jan Gysi Herausgeber des Handbuchs sexualisierte Gewalt und arbeitet heute bei goldbach law als selbständiger Rechtsberater für Opfer und Geschädigte.

Hinweis: zentralplus hatte auch Luzerner Fachpersonen um eine Einschätzung angefragt, bekam bislang aber keine Rückmeldungen.

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1 Kommentar
  • Profilfoto von Felix von Wartburg
    Felix von Wartburg, 27.07.2019, 01:16 Uhr

    Im vorliegenden Fall und in dessen Schilderung kommen die Formulierungen «sexuelle Übergriffe», «sexuelle Nötigung» oder «sexuelle Berührung» vor. Mir scheint es unwichtig, ob diese Taten sexuell motiviert waren oder nicht. Streicht man den Begriff «sexuell», dann sind es einfach «Übergriffe», «Nötigungen» oder «Berührungen». Wenn diese nicht mit dem Einverständnis des «Opfers» geschehen ist es eine Straftat, egal ob mit oder ohne sexuellen Hinter- oder Vordergrund. Warum urteilt eine Richterin(!) nach der Kleidung des weiblichen Opfers und nicht nach den verwerflichen Motiven des Mannes? Keine Frau will Sex ohne ihr Einverständnis. Bei Männern ist das anders. Die Schuldfrage ist deshalb primär immer beim Mann zu suchen und nicht bei der Frau.

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