Junge Luzerner hadern mit Mannsein und holen sich Hilfe
Klaus Rütschi ist seit 2009 Geschäftsführer der Dargebotenen Hand Zentralschweiz. (Bild: zvg)
Mehr Männer suchen anonym Hilfe bei der Dargebotenen Hand. Dennoch schweigen viele. Zwischen Rollenbildern und modernen Erwartungen wächst der Druck, über Probleme zu sprechen. Doch etwas tut sich.
Sie war knallrot, aufgeblasen – und lud Zuschauende gar zum Hindurchschlüpfen ein: die Riesenprostata, die letzte Woche vor der Filiale der Luzerner Kantonalbank am Pilatusplatz zu sehen war. «Prostate Tour de Suisse» stand auf den Transparenten links und rechts davon. Auf diesen wurde über Prostatakrebs aufgeklärt.
Diese Prostata ist begehbar. (Bild: ida)
Dahinter steckt der Pharmakonzern Johnson & Johnson. Anlässlich wie im «Movember» wird die aufblasbare Prostata in mehreren Schweizer Städten aufgestellt.
Der Monat November steht international im Zeichen der Männergesundheit. Jährlich lassen sich Männer Schnurrbärte (auf Englisch «moustache», deswegen «Movember») wachsen, um Spenden zugunsten der Erforschung und Vorbeugung gegen Prostatakrebs und andere Gesundheitsprobleme von Männern zu sammeln. Auch wird zu Themen wie psychische Gesundheit und Suizidprävention sensibilisiert.
Das ist auch nötig.
Dargebotene Hand: Mehr Männer suchen Rat
Aus Studien weiss man: Frauen und Männer sind psychisch gleichermassen belastet. Dennoch wird beispielsweise bei Frauen eine Depression doppelt so häufig diagnostiziert wie bei Männern. Zugleich ist die Suizidrate bei Männern seit Jahren höher. 2022 sind in der Schweiz 958 Personen an Suizid gestorben; davon waren 695 Männer und 263 Frauen. Auf den Suizid einer Frau kommen also rund drei Suizide von Männern.
Männer haben also nicht etwa weniger Sorgen, sie sprechen schlicht weniger darüber und suchen sich seltener Hilfe.
Bei der Dargebotenen Hand nimmt die Anzahl hilfesuchender Männer nun aber zu. Waren vor ein paar Jahren noch 20 Prozent aller Ratsuchenden Männer, sind es heute 30 Prozent. Männer sind also eher bereit, ihre Probleme jemandem anzuvertrauen. Jedenfalls einem anonymen Beratungstelefon, wie Klaus Rütschi, Geschäftsleiter der Dargebotenen Hand Zentralschweiz, am Telefon anmerkt.
Scham vor dem Sprechen
«Die Hürden, dass Männer sich jemandem in ihrem Umfeld anvertrauen, um über ihre Probleme zu sprechen, sind nach wie vor gross», so Rütschi. Traditionelle Vorstellungen von Männlichkeit, wie etwa «keine Schwäche zeigen», schwingen immer noch stark mit. Deswegen würden Männer eher verdrängen – auch mit Alkohol oder anderen Substanzen.
Das bestätigt die Luzerner Psychiatrie AG (Lups). Jochen Mutschler, Chefarzt Stationäre Dienste, sowie Martin Fluder, Leiter Pflege, – beide sind auch Mitglieder der Geschäftsleitung – machen ähnliche Erfahrungen. «Unsere Praxis zeigt, dass Männer nach wie vor gehemmter sind, Hilfe in Anspruch zu nehmen.»
Zwischen 2019 und 2023 verzeichnete die Lups einen Anstieg von ambulanten und stationären Behandlungen sowohl bei Frauen als auch bei Männern. Ambulante Behandlungen haben bei Frauen noch stärker zugenommen als bei Männern.
Affektive Störungen und Suchtverhalten
Am häufigsten kommen Männer mit affektiven Störungen – bei denen die Stimmung entweder übertrieben euphorisch (Manie) oder übermässig gedrückt ist (Depression) – sowie Abhängigkeitserkrankungen. Es gibt bestimmte Lebensphasen, in denen Männer besonders belastet sind. Gerade beim Berufseinstieg oder bei einer Pensionierung sei das Risiko grösser, in eine psychische Krise zu geraten.
«Ein Grund liegt in den Erwartungshaltungen und in nach wie vor bestehenden Rollenverständnissen», schreiben Mutschler und Fluder. «Von Männern wird nach wie vor erwartet, stark und emotional stabil zu sein. Das führt dazu, dass Männer ihre Gefühle unterdrücken, dadurch steigt der innere Druck, was wiederum zu Krisen führen kann.»
Männer, die bei der Luzerner Psychiatrie AG Hilfe in Anspruch nehmen, haben schon einen wichtigen Schritt gemacht «und begeben sich bewusst in einen Genesungsprozess». Hilfreich seien besonders Gruppenangebote, in denen sich Männer untereinander austauschen können, aber auch Einzeltherapie.
Der «moderne» vs. der «traditionelle» Mann
Generell haben sich die Anruferzahlen bei der Dargebotenen Hand auf hohem Niveau eingependelt. In diesem Jahr haben knapp 20'000 Menschen aus der Zentralschweiz Hilfe gesucht. Das ist auch für Rütschi und sein Team herausfordernd – denn sie sind immer auf der Suche nach neuen Beraterinnen.
Es würden sich insbesondere 18- bis 35-jährige Männer melden und dann wieder Senioren. Er beobachtet, dass Männer über ihre eigene Identität zunehmend verunsichert sind. «Junge Männer wachsen in einer Welt auf, in der von ihnen erwartet wird, sowohl traditionelle als auch moderne Männlichkeitsideale zu erfüllen», so Rütschi. «Sie sollen stark und beschützend sein, gleichzeitig aber auch sensibler und einfühlsam. Diese Erwartungen können zu einem Gefühl der inneren Zerrissenheit führen.»
Viele Männer, die sich beim Sorgentelefon melden, haben Fragen zu Liebesbeziehungen, Angst um ihre Finanzen, ihren Arbeitsplatz oder Probleme im Berufsalltag. «Hinter vielen ratsuchenden Männern stehen hohe Erwartungen, was immensen Druck auf sie ausüben kann.»
Von Frauen eingeschüchtert
Rütschi erzählt von einem Handwerker, der sich von einer Frau in seinem Berufsalltag verunsichert fühlte. Oder von Studenten in Mint-Fächern – Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik – die sich ebenfalls von Frauen eingeschüchtert fühlen. Andere haben Probleme, Frauen anzusprechen oder sie ziehen sich aus Unsicherheit zurück – bis hin zur sozialen Isolation.
Die steigenden Hilferufe bei der Dargebotenen Hand würden gemäss Rütschi diese Entwicklungen widerspiegeln. «Sie verdeutlichen den dringenden Bedarf an Unterstützung und Interventionen, um diesen Männern zu helfen, gesunde Bewältigungsstrategien zu entwickeln und ihre Identität in einer sich wandelnden Welt zu finden.»
Isabelle Dahinden schreibt über Menschen, Beziehungen und das Leben. Nach ihrem Studium in Gesellschafts- und Kommunikationswissenschaften schreibt sie seit Dezember 2017 als Gesellschaftsredaktorin für zentralplus. 2021 hat sie die MAZ-Diplomausbildung absolviert, seit August 2023 ist sie stellvertretende Redaktionsleiterin.