Asyl-Repo vom Pilatusblick in Kriens

Jung, alleine und von der Flucht traumatisiert

Zwei eritreeische UMA in ihrem Zimmer. An den Wänden befinden sich Erinnerungen an Eritrea und Symbole ihres Glaubens. (Bild: Marc HodelCH)

Mit Schleppern durchquerten sie die Wüste und das Mittelmeer – unter Lastwagen versteckt kamen sie über Grenzen. Ohne Eltern. Die rund 70 unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden im Pilatusblick in Kriens erlebten dramatische und bewegende Geschichten. Wie finden sie sich hier zurecht?

Gemischte Gefühle kommen vor dem Besuch der Asylunterkunft Pilatusblick in Kriens auf. Dort hat der Kanton Luzern unbegleitete, minderjährige Asylsuchende, die UMA, einquartiert. Was ist zu erwarten? Soll man Mitleid mit den UMAs haben, weil sie ohne Eltern in einem Land ganz auf sich allein gestellt sind? Oder ist es genau umgekehrt – können sie sich glücklich schätzen, dass sie jetzt hier sind?

Die UMA leben im Hotel

Der Pilatusblick ist ein ehemaliges Hotel. Dementsprechend ist der Empfang eingerichtet. Der Zivildienstler macht den freundlichen Rezeptionisten. Zudem sitzt ein erwachsener Asylsuchender an einem Tisch. Hinter ihm eine Leinwand mit Fotos aller Bewohner des Pilatusblicks. Verlässt ein UMA die Unterkunft, wirft er sein Foto in die Box auf dem Tisch, so kann kontrolliert werden, wie viele und welche UMA gerade ausser Haus sind.

Gleich beim Eingang sind die Portraits aller UMA aufgehängt. Verlässt ein UMA die Unterkunft, entfernt er sein Bild von der Wand.

Gleich beim Eingang sind die Portraits aller UMA aufgehängt. Verlässt ein UMA die Unterkunft, entfernt er sein Bild von der Wand.

(Bild: Marc HodelCH)

Schon erscheint Patrick Klausberger, der Leiter der Unterkunft. Seit zehn Jahren arbeitet er mit unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden zusammen. In der Unterkunft Pilatusblick ist er seit der Eröffnung im November am Ruder. Er hat sich Zeit für ein Gespräch genommen und führt anschliessend durch das ehemalige Hotel. «Momentan ist es ruhig im Haus», sagt er. Eine Luzerner Schulklasse ist an diesem Morgen hier und treibt mit den UMA in der Turnhalle Sport. Tatsächlich sind kaum Kinder zu sehen, es ist viel ruhiger als erwartet.

«Der Sicherheitsdienst konnte etwa nach zwei Monaten eingestellt werden, weil er schlicht nichts zu tun hatte.»

Patrick Klausberger, Unterkunftsleiter Pilatusblick

Betrieb gut gestartet

«Es läuft ganz gut», sagt Klausberger zur allgemeinen Situation. 70 UMA dürfen den Pilatusblick ihre Heimat nennen. Darunter befinden sich zehn Mädchen. Die meisten Bewohner sind zwischen 14 und 16 Jahren alt und sind ohne ihre Eltern in die Schweiz gekommen. «Unter 14-Jährige werden in Pflegefamilien untergebracht», erklärt er. Im Kanton Luzern gibt es derzeit 160 UMA, die älteren sind im Sonnenhof in Emmenbrücke einquartiert.

Die meisten UMA im Pilatusblick kommen aus Eritrea. Aber auch Afghanistan hole auf, so der Unterkunftsleiter. Er macht einen sehr ruhigen Eindruck, man spürt seine Erfahrung. Auch die anfänglichen Bedenken zur Unterkunft hat er mitgekriegt – die SVP Kriens befürchtete Messerstechereien und Vergewaltigungen (zentralplus berichtete). Probleme seien aber keine aufgetaucht, auch dank einer ins Leben gerufenen Begleitgruppe. «Der Sicherheitsdienst konnte etwa nach zwei Monaten eingestellt werden, weil er schlicht nichts zu tun hatte», sagt Klausberger.

Unterkunftsleiter Patrick Klausberger erklärt den Betrieb.

Unterkunftsleiter Patrick Klausberger erklärt den Betrieb.

(Bild: Marc HodelCH)

Haarsträubende Geschichten

Besonders interessant ist die Frage, was mit den Eltern der UMA passiert ist: Sind sie tot? Stecken sie irgendwo auf der Flucht fest? Oder sind sie noch im Heimatland? «Unsere Jugendliche haben ganz unterschiedliche Geschichten erlebt. Diese Aufzählungen sind darunter», sagt Klausberger. Für die Aufarbeitung des Erlebten sei aber nicht sein Betreuungsteam zuständig. Dieses bewältige den Alltag. «Alle UMA haben einen rechtlichen Beistand, der die Betreuung im Asylverfahren sicherstellt. Und dazu wird auch die Fluchtgeschichte aufgearbeitet.»

Als Betreuer interessiere man sich zwar für die Vergangenheit, aber direkt werde nicht nachgefragt, führt er aus. Das Team sei sehr auf das Jetzt fokussiert, erklärt er. Die traumatischen Erfahrugen seien zwar Teil ihrer individuellen Geschichte, aber eben Vergangenheit. Trotzdem ist es spannend zu wissen, wie die Jugendlichen in die Schweiz gekommen sind. Klausberger verweist auf Medienberichte: «Wüstendurchquerungen sind oftmals nur mit Schleppern möglich.» In Eritrea hätten sich ganze Familie in ein finanzielles Desaster gestürzt, um ihren Kindern die Flucht zu ermöglichen. «Und welche Dramas sich auf dem Mittelmeer abspielen, kann man sich ausrechnen.»

«Die meisten funktionieren im Alltag relativ gut.»

Patrick Klausberger, Unterkunftsleiter Pilatusblick

Klausberger kommt langsam ins Erzählen. Immer mehr wird verständlich, weshalb das Erlebte in der Betreuung am Rand bleibt. Es entsteht ein ungutes Gefühl, wie diese Jugendlichen je ein unbeschwertes Leben führen können sollen. Afghanen und Syrer seien etwa über die Griechenland-Route gekommen. «Und ja, es leben Kinder in Kriens, die sich unter fahrenden Lastwagen versteckten», sagt er.

Im ehemaligen Hotel Pilatusblick sind seit November 70 UMA untergebracht.

Im ehemaligen Hotel Pilatusblick sind seit November 70 UMA untergebracht.

(Bild: Marc HodelCH)

Psychische Belastung ist gross

Wie wirken sich diese Erlebnisse auf den Betrieb aus? «Das Alter der UMA ist per se schon schwierig», schmunzelt Klausberger. Wichtig sei in dieser Situation, dass die Jugendlichen ein sicheres Umfeld hätten. Und: «Diese Jugendlichen haben harte Zeiten erlebt, mussten sich oft durchkämpfen. Sie haben sich einen Überlebensmechanismus angeeignet.» Jetzt wolle man ihnen eine Struktur geben. Sie müssen Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit neu erlernen. «Die meisten funktionieren im Alltag aber relativ gut», fasst Klausberger zusammen.

Dennoch sei die psychische Belastung gross. Sie hätten etwa Angst um ihre Eltern, falls diese noch im Kriegsgebiet sind. Und es gäbe auch Kinder, die traurig sind, häufig weinen oder nicht schlafen können. In diesem Fall wird der kinder- und jugendpsychologische Dienst beigezogen. Klausberger ist aber immer wieder erstaunt, wie sich die 14- bis 16-Jährigen angesichts ihrer Geschichten zurecht finden. Wenn man nicht tagtäglich mit diesen Themen konfrontiert ist, ist man es umso mehr.

Mitgefühl statt Mitleid

Doch die Stimmung ist nicht hauptsächlich negativ – viele Jugendliche seien auch erleichtert. «Nach der langen Reise fühlen sie sich zum ersten Mal sicher und an einem Ziel angelangt.» Doch daran seien auch Erwartungen geknüpft. Die Jugendlichen hätten gewisse Vorstellungen, wie ihr Leben einmal aussehen soll. «Die meisten von ihnen werden in der Schweiz bleiben», weiss Klausberger, «aber sie haben einen steinigen Weg vor sich.» Sie beginnen mit dem Erlernen einer neuen Sprache – gleichaltrige Schweizer zu diesem Zeitpunkt mit einer Berufslehre. Es sei teilweise schon eine Ernüchterung spürbar, wenn sie realisieren, dass ihnen nichts geschenkt wird. «Aber sie merken auch, dass wir uns um sie kümmern und ihnen helfen wollen.»

Klausberger stellt fest, dass die UMA arbeiten wollen und die meisten auch irgendwo unterkommen. «Das oberste Ziel ist ein Brückenjahr und später eine Lehre. Aber das bleibt für viele Jugendliche ein Traum.» Realistischer sei eine Arbeit auf dem Bau oder in einem Kebapladen. Trotzdem hätten die UMA gegenüber älteren Asylbewerbern einen Vorteil – sie haben etwas mehr Zeit.

Muss oder soll man Mitleid mit den UMA haben? Das sei eine gute Frage, meint Klausberger und weiss nicht so recht, was er antworten soll. «Wir spüren diese Unsicherheiten auch bei der Zivilbevölkerung», sagt er. Immens viele Freiwillige wollen helfen, doch die Motivation dahinter sei schwierig abzuschätzen, deshalb würde man hier auch mal auf die Bremse stehen. Er resümiert: «Mitleid ist wohl das falsche Wort, Mitgefühl ist besser.» Dies erlebe er auch im Alltag. Gehe es einem Kind nicht gut, nütze Mitweinen absolut nichts.

Zwei eritreeische UMA in ihrem Zimmer. An den Wänden befinden sich Erinnerungen an Eritrea und Symbole ihres Glaubens.

Zwei eritreeische UMA in ihrem Zimmer. An den Wänden befinden sich Erinnerungen an Eritrea und Symbole ihres Glaubens.

(Bild: Marc HodelCH)

Fast alle Zimmer noch besetzt

Mittlerweile führt Klausberger durch den Pilatusblick und ermöglicht einen Einblick in die Zimmer. Überraschenderweise befinden sich um 10 Uhr morgens in den meisten Zimmern noch Jugendliche. Vereinzelt schlafen sie oder sind mit ihren Handys beschäftigt. Eine Begrüssung ist zwar möglich, doch ins Gespräch zu kommen, ist kaum möglich. Klausberger erklärt, wie die Betreuer damit umgehen: «Zu Beginn unterhalten wir uns viel mit Händen und Füssen. Jugendliche, die schon länger hier sind und bereits Deutsch sprechen, vermitteln wenn möglich.» Für Erst-, Gesundheits- oder Standortgespräche würden zudem professionelle Dolmetscher beigezogen. «Da die Jugendlichen Deutsch lernen, ist nach ein paar Monaten bereits eine gute mündliche Kommunikation möglich.»

Was in den Zimmern der UMA auffällt, sind die Poster von religiösen Figuren an den Wänden. Mit der Religion ist es immer etwas eine Gratwanderung, erklärt mir Klausberger. Zum einen sei es gut, wenn die UMA in ihrer Religion Halt finden würden, andererseits würden auch gewisse Probleme entstehen. «Die Eritreer sind häufig am Fasten. Wenn sie sich deswegen schlapp fühlen und nicht in die Schule wollen, müssen wir klar Prioritäten setzen.»

Sexualität ist ein Thema

Auch die Pubertät ist für den Unterkunftsleiter ein Dauerbrenner. «Klar, hat man in diesem Alter Interesse am anderen Geschlecht», macht sich Klausberger keine Illusionen. Man sei derzeit daran, eine Gesundheitsfachperson zu rekrutieren. Im Moment führe man Workshops zu verschiedenen Gesundheitsthemen durch: Hygiene, Alkohol und Drogen, und auch Sexualität. «In der Unterkunft lebt ein 17-jähriges Mädchen, dass einen Freund ausserhalb der Unterkunft hat. Klar, haben wir mit ihr über Verhütung gesprochen.»

Gerade bei Mädchen falle oft auch auf, dass sie wenig Bezug zu ihrem Körper haben. Sexualität sei ein Tabuthema – gerade wegen der Stellung der Frau in gewissen Kulturkreisen oder Missbräuchen. Ein Besuch beim Frauenarzt sei beispielsweise etwas ganz Neues, hält Klausberger fest.

«Wir bereiten die UMA auf ein selbstständiges Leben vor.»

Patrick Klausberger, Unterkunftsleiter Pilatusblick

In den grössten Zimmern wohnen vier Jugendliche. Das sei das Maximum, meint Klausberger, denn Intimsphäre sei wichtig. Da es sich um ein altes Hotel handelt, besitzt jedes Zimmer ein Bad und ein WC. «Eigentlich Luxus, gleichzeitig aber auch eine Herausforderung», meint er. Die Hygiene sei ein grosses Thema und sie müssten ständig kontrollieren, ob die Jugendliche ihre Zimmer sauber halten. Aber da es ihre eigenen Räume sind, sei die Selbstkontrolle grösser als in gemeinsamen Nasszonen.

Patrick Klausberger zeigt auf den Plan. Jeder UMA hat seinen individuellen Tagesablauf.

Patrick Klausberger zeigt auf den Plan. Jeder UMA hat seinen individuellen Tagesablauf.

(Bild: Marc HodelCH)

Nachtessen immer selbstständig

Bei manch einem würde es wohl auf Unverständnis stossen, dass die UMA noch schlafen. Haben sie kein Programm? Jeder Jugendliche habe seinen eigenen Stundenplan, erklärt Klausberger. Die unter 16-Jährigen würden hier im Pilatusblick in die Schule gehen, die Älteren bei der Caritas in Littau. Im Gegensatz zu anderen Unterkünften, ist der Tagesablauf klarer geregelt. Fürs Essen sind die UMA nur am Abend und an den Wochenenden selber verantwortlich. Das funktioniere alles recht gut, hält Klausberger fest. «Wir sind ständig daran, die Jugendlichen zu beüben.» Also Erziehung? «Genau. Wir bereiten sie auf ein selbstständiges Leben vor.»

Dazu gehört auch der Umgang mit Geld. In der Unterkunft gäbe es bezahlte Jobs für drei Franken pro Stunde, erfahre ich. Etwa in der Küche, bei Putzarbeiten oder der Wäsche. Gäbe es einen finanziellen Anreiz, seien die Jugendlichen immer sehr motiviert, lacht Klausberger. Funktioniert das Erledigen eines Ämtchen nicht wie gewünscht, so behält sich die Unterkunftsleitung auch Sanktionen vor. Diese reichen von einer Verwarnung, bis zu einer Kürzung des Geldes.

Die UMA helfen dem Koch im Pilatusblick beim Zubereiten des Mittagessen. Für ihre Arbeit erhalten sie drei Franken pro Stunde.

Die UMA helfen dem Koch im Pilatusblick beim Zubereiten des Mittagessen. Für ihre Arbeit erhalten sie drei Franken pro Stunde.

(Bild: Marc HodelCH)

Zusammenarbeit mit dem SC Kriens läuft

Bewegung und Sport sei eine beliebte Abwechslung. Insbesondere die Jungs wollen natürlich Fussball spielen. Mit dem SC Kriens ist dazu eine Zusammenarbeit entstanden und sechs UMA dürfen mittrainieren (zentralplus berichtete). Ein anderes Angebot bietet die Pfadi Kriens, bei welcher sechs Jugendliche jeweils mitmachen. Und es gibt mittlerweile Freiwillige, welche mit den Jugendlichen etwas ausserhalb der Unterkunft unternehmen.

Der Besuch war sehr beeindruckend. Die Jugendlichen tragen einen riesigen Rucksack mit sich herum. Trotzdem muss es ihnen irgendwie gelingen, den Anschluss an unsere (Leistungs)-Gesellschaft zu finden, denn sie werden in der Schweiz bleiben. Die Verantwortung dafür liegt in ihren Händen. Trotzdem ist auch unsere Gesellschaft gefordert – die UMA sind auf Unterstützung angewiesen.

Bewegt Sie das Schicksal der UMA? Ihren Freunden geht es womöglich gleich. Teilen Sie doch die Geschichte via Facebook oder Twitter.

Sehen Sie in unserer Bildergalerie weitere Impressionen aus dem Pilatusblick in Kriens:

 

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