Nach Krebserkrankung in Krise gefallen

«Ich habe einen Knall»: Zugerinnen schreiben eine Psychotherapie zum Mitlesen

Lernte mit ihren Depressionen umzugehen: Mirjam Indermaur. (Bild: zvg)

Die Zugerin Mirjam Indermaur geriet in eine Krise, als bei ihrem Mann Krebs diagnostiziert wurde. In den Therapiestunden mit der Zuger Psychotherapeutin Denise Hürlimann lernte sie, mit ihren Depressionen umzugehen. Daraus entstanden ist ein Buch. Es soll Tabus brechen und anderen Mut machen.

«Ich lag im Bett, und meine Beine waren schwer wie Blei. In meinem Kopf kreisten unzählige Gedanken, von denen ich keinen Einzigen richtig zu fassen bekam. Alles war düster und grau. Dabei musste ich doch funktionieren!»

Es war vor zehn Jahren, als Mirjam Indermaur ein Burnout erlitt. Oder eine Erschöpfungsdepression – denn mit dem Begriff «Burnout» konnte sie nicht viel anfangen. Schliesslich arbeitete sie zwar viel, aber gerne. Die gebürtige Zugerin kümmerte sich um ihre Kinder, schmiss den Haushalt und hatte mehrere Jobs. Sie liebte die Herausforderung. Routine langweilte sie schnell. Sie stürzte sich in die Arbeit. Doch Indermaur war nicht immer die Powerfrau, für die man sie hält.

Sie ignorierte die Schlafprobleme und die häufigen Kopfschmerzen. Bis zu jenem Tag, als sie regungslos im Bett lag. Der einzige Hoffnungsschimmer: die Ferien. Doch als der Tag der Abreise kam, sass Indermaur mit Weinkrämpfen zu Hause am Boden. Es ging gar nichts mehr. Sie blickte in die verständnislosen Gesichter ihres Mannes und ihrer drei Söhne.

Ihr Mann schickte sie zu einem bekannten Psychiater. Dieser kam zu seiner Diagnose: Erschöpfungsdepression.

Erkrankung des Mannes warf sie aus der Bahn

Indermaur litt nicht an einer Dauerdepression. Sie hatte gute Tage, fühlte sich enthusiastisch. Doch sie hatte auch viele Tage, an denen sie sich antriebslos und lustlos fühlte. «Ich habe mich zurückgezogen, scheute soziale Kontakte», sagt Indermaur. Sie suchte nach Ausreden, um das Haus nicht verlassen zu müssen: Das Auto sprang nicht an, eine starke Migräne plagte sie.

Als ihr erster Psychiater die Praxis schloss, dachte Indermaur, dass sie mit dem «Durcheinander im Kopf» alleine klarkommt. Es ging ihr ja gut. Sie hatte einen Mann, den sie über alles liebte. Drei wundervolle Söhne, ein sicheres Einkommen und ihre Arbeit, die sie gerne tat.

Doch dann kam alles anders. Bei ihrem Mann wurde Krebs diagnostiziert: Magenkrebs im dritten Stadium. Sie fühlte sich, als ob ihr der Boden unter den Füssen weggezogen würde, fiel in eine Krise. Und Indermaur realisierte: Sie braucht Hilfe. Im Internet stiess sie auf die Website der Zuger Psychotherapeutin Denise Hürlimann. Sie verabredete sich zu einer ersten Therapiestunde, zu einer zweiten – und wurde schliesslich Patientin von Hürlimann.

Du willst mehr?

Mirjam Indermaur kam nach der Thearapie auf die Idee, ein Buch über ihren Weg zu schreiben. Im Buch schreiben Indermaur als Patientin und Denise Hürlimann als Psychotherapeutin abwechselnd. Im wechselseitigen Erzählen ist so eine Psychotherapie zum Mitlesen entstanden.

Das Buch von Mirjam Indermaur und Denise Hürlimann heisst: «Ich habe einen Knall – Sie auch? Eine Psychotherapie zum Mitlesen». Das 192-seitige Buch ist für 24,90 Franken im Buchhandel erhältlich.

Die Buchtaufe findet am Montag, 30. September 2019 um 20 Uhr in der Bibliothek Zug statt.

Tabus brechen und anderen Mut machen

Viele Leute kämpfen mit Depressionen. Darüber zu sprechen, ist jedoch nach wie vor ein Tabuthema, sagt Psychotherapeutin Hürlimann. Im sozialen Umfeld und auch von vielen Arbeitgebern werde man mit Vorurteilen belastet: «Sich zu outen, dass man psychische Probleme hat, ist nicht gerade ein Karriere-Booster.» Sie erzählt von Patienten, die sich extra einen Tag freinehmen, um dem Chef nicht sagen zu müssen, dass man einen Termin beim Arzt oder gar beim Psychotherapeuten habe.

Indermaur und Hürlimann wollen mit ihrem gemeinsam verfassten Buch Tabus brechen. Die Psychotherapie zum Mitlesen soll die Hemmschwelle senken, eine Lanze für andere brechen, sagt Hürlimann: «Das Ziel des Buches ist es, psychisches Leiden zu entstigmatisieren helfen.» Anderen Menschen Mut machen, dass man sich nicht schämen muss, wenn man auf psychologische Hilfe angewiesen ist.»

Vom Fach: die Zuger Psychotherapeutin Denise Hürlimann. (Bild: zvg)

Die Belastung von Angehörigen wird unterschätzt

Gerade auch die Situation Angehöriger von Krebs-Erkrankten werde häufig unterschätzt. Sie selbst sind ja eigentlich nicht diejenigen, die krank sind. Sie müssen für den Erkrankten sorgen, sich um Familie, Haushalt und Job kümmern sowie Zusatzaufgaben vom Erkrankten übernehmen. Das ist zeitintensiv und belastend. «Angehörige fühlen sich oftmals hilf- und machtlos», so Hürlimann.

«Ich weinte, weil ich mich manchmal bereits als Witwe sah.»

Auch Indermaur fühlte sich so, als ihr Mann erkrankte: «Ich dachte, es sei egoistisch, wenn ich mir Hilfe suche. Und dass ich nun wirklich nicht das relevante Thema bin.» Doch immer wieder holten sie die Momente ein, in denen sie fassungslos war. Wenn sie beispielsweise die Krankheit ihres Mannes googelte. Daran dachte, was alles passieren könnte und sich bereits als Witwe sah. Wie sie das alleine schaffen sollte.

«[…] meine Träume waren intensiv und belastend. In ihnen verarbeitete ich vermutlich das Tagesgeschehen. Ohne wirklich zu wissen, was ich geträumt hatte, wachte ich morgens manchmal zitternd und tränenüberströmt auf […]»

Indermaur weinte bei den Therapiestunden. Hürlimann verstand ihre Situation. Und dass es verständlich sei, wenn auch ihre Welt mit der Diagnose ihres Mannes zusammengebrochen ist.

Indermaur weinte beim Schreiben

Alles zu verarbeiten und auf Papier nieder zu schreiben, war schwierig für Indermaur: «Unzählige Male sass ich heulend vor der Tastatur. Ich brauchte Pausen, legte alles zur Seite.»

«Meine Depression war so ein unfreiwilliger Ausbruch, gegen den ich nichts tun konnte. Irgendwann in meinem Leben wurde der Schalter umgelegt, und ich fand mich in einer Dauerfahrt auf meiner persönlichen Achterbahn wieder.»

Auch für ihren Mann sei es intensiv gewesen. Doch er war ihr immer eine Stütze. Indermaur gab ihm den Entwurf und sagte: «Lies es. Wenn es für dich nicht in Ordnung ist, höre ich damit auf.» Doch er habe gewusst, dass es das Richtige für seine Frau ist. Das ganze Buch konnte ihr Mann jedoch nicht lesen. «Es wühlt noch zu viel auf.»

Ein Outing für Indermaur

Auch Indermaur konnte das nun gedruckte Buch noch nicht lesen. «In den letzten Tagen habe ich realisiert, dass ich mich damit definitiv oute.»

Die Gefühle seien gemischt. Schliesslich werden Menschen das Buch lesen, die sie kennen, aber nichts über ihre Depressionen oder die Krankheit ihres Mannes wussten. Und auch Menschen, die sie gar nicht kennt, werden ihre Geschichte lesen. Doch sie ist sich sicher: «Es gibt viele Leute, denen geht's gleich wie mir. Und wenn ich denen vermitteln kann, dass es völlig normal ist, sich so zu fühlen und in die Psychotherapie zu gehen, bin ich glücklich.»

Auch Hürlimann bewundert den Mut Indermaurs: «Ich habe extremen Respekt vor ihrem Mut. Doch es braucht genau Menschen wie sie, die über ihre Krankheit erzählen.»

Gelernt, «Nein» zu sagen

Durch die Therapiestunden lernte Indermaur, mit ihrer Depression umzugehen. Sie konnte bei ihrer Psychotherapeutin weinen – und wusste, dass es in Ordnung ist. Auch wenn ihre Gefühle Achterbahn mit ihr fuhren, ihr Magen mal wieder verrückt spielte. Sie lernte, besser mit ihrem kranken Mann zu Hause umzugehen. Und auf sich zu schauen, zu etwas «Nein» sagen, wenn es ihr nicht in den Kram passte.

«Wenn ich inzwischen etwas begriffen hatte, dann die Tatsache, dass Gefühle kaum steuerbar sind. Wie so viele Menschen überrollten sie mich immer wieder, und Kopf und Herz taten allerlei, aber nur selten in Kooperation.»

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1 Kommentar
  • Profilfoto von Sasha Zürcher
    Sasha Zürcher, 28.09.2019, 14:53 Uhr

    Ich habe das Buch bereits gelesen und finde es super! Ich freue mich auf die Buchtaufe und darauf, dort die Autorinnen kennen zu lernen. Cool, dass die Krebsliga das Buch unterstützt.

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