Eine Luzernerin über ihr Leben mit der Krankheit

HIV-positiv: «Meist heisst es, Du bist sicher selber schuld»

Barbara litt jahrelang unter den Nebenwirkungen der HIV-Medikamente. Heute geht es ihr viel besser – auch wegen ihren Hunden.

 

(Bild: Symbolbild fotolia)

Fast 30 Jahre lebt die Luzernerin Barbara mittlerweile mit dem HI-Virus. Als sie sich bei ihrem damaligen Freund infizierte, brach erst mal eine Welt zusammen. Doch das war erst der Anfang ihrer Leidensgeschichte.

Barbara war 23 Jahre alt, als sie sich von ihrer ersten grossen Liebe trennte und er ihr an den Kopf warf: «Mach vielleicht besser mal einen Aids-Test.» In diesem Moment sei ihr schon klar gewesen, dass das nicht einfach ein Spruch war. Drei Jahre hatte sie mit dem Mann verbracht und ihm vertraut. Im August 1989 war das Testergebnis da: HIV-positiv.

In den 80er-Jahren kam das einem Todesurteil gleich. «Mein Arzt sprach damals von wenigen Monaten, die mir noch blieben. Wenn ich Glück hätte, vielleicht ein Jahr.» Damit wurde die 23-Jährige ins Leben entlassen.

Vor uns sitzt eine natürliche, hübsche Frau in ihren Fünfzigern mit kurzem Haar, sportlicher Kleidung und grossen Augen. Was ihr Körper alles mitgemacht hat, glaubt man kaum. Bloss ihre sehr schmalen Beine und die raue Haut an den Händen lassen erahnen, wie sie jahrzehntelang unter heftigen Nebenwirkungen der Medikamente litt, die bis vor wenigen Jahren ihren Alltag bestimmten.

Die ersten Jahre waren die Hölle

Die erste Zeit mit der Krankheit habe sie keine Zukunft gesehen. «Im Beruf, zu Hause bei der Familie und Freunden war ich unausstehlich, habe alle zurückgestossen. Vor allem Männern gegenüber empfand ich regelrechten Hass.»

Über die Krankheit gesprochen hat Barbara damals nicht. Auch mit der eigenen Mutter nicht, die zwar Bescheid wusste, aber das Thema lieber gleich begraben wollte. «Aids hatten nur die Prostituierten, die Fixer und die Homosexuellen – das war die Haltung der Gesellschaft.»

Jahre später sei sie ihrem ersten Freund nochmals begegnet – in der Stadt. Beide hatten sie ihre Kinder dabei. «Ich weiss, dass er ein paar Jahre danach an der Krankheit gestorben ist.» – Und mit ihm auch ihre Wut und der Hass auf ihn.

HIV in der Schweiz

Dank gezielter Prävention und der Kombinationstherapie nahmen die Neuansteckungen mit HIV in der Schweiz kontinuierlich ab in den letzten Jahren. 2015 wurden gesamtschweizerisch 538 neue HIV-Infektionen dokumentiert, was erstmals seit Langem wieder einer Zunahme um 4 Prozent gegenüber dem Vorjahr bedeutet. Drastisch zugenommen haben jedoch die Ansteckungen mit anderen sexuell übertragbaren Infektionen, welche – im Gegensatz zu HIV – jedoch heilbar sind.

S&X Sexuelle Gesundheit Luzern (vormals Aids Hilfe Luzern) ist die Anlaufstelle für HIV-positive Menschen in der Region Zentralschweiz.

Versöhnung und Neubeginn

Zehn Jahre später war Barbara verheiratet und Mutter von zwei gesunden Kindern. 15 Jahre war sie mit ihrem Ex-Mann verheiratet – 2003 kam die Trennung. Medikamente nahm sie zu dieser Zeit keine. «Ich habe aber immer wieder schwere grippale Infekte erlebt, mein Immunsystem war am Ende und jedes Mal war die Angst da, dass dies der Ausbruch von Aids sein könnte.» Erst 1998 empfahl ihr ein Arzt  schliesslich, mit Medikamenten anzufangen.

Ihre Medikamentengeschichte hat Barbara sorgfältig dokumentiert. Heute ist sie beim achten Medikament angelangt. «Ich fing mit 13 Tabletten pro Tag an: 4’836 Tabletten pro Jahr.» Das waren Kosten von rund 20’000 Franken. In einem Land ohne gutes Gesundheitssystem ist man als HIV-Infizierte aufgeschmissen, wird schnell klar, wenn Barbara erzählt.

Qualvolle Nebenwirkungen

«Das erste Medikament war wie eine Chemotherapie – dauerndes Erbrechen, Durchfall, Kopfschmerzen.» Auch beim nächsten Medikament wurde es nicht besser: Der Durchfall bestimmte ihren Alltag. «Ich wog nach wenigen Jahren nur noch 42 Kilo, hatte keine Reserven mehr.» Doch bald kam ein neues Medikament auf den Markt. Bei diesem sollte alles besser werden – bei Barbara löste es Nesselfieber aus – 24 Stunden am Tag war sie übersät mit juckenden Pusteln, die bei Wärme oder bei Kontakt mit Wasser anschwollen. Fast ein Jahr lang dauerte das Nesselfieber, immer verbunden mit dem Durchfall. «Ich war mittlerweile auch psychisch sehr angeschlagen.» Gearbeitet hat sie bis 2000, bis es nicht mehr ging. Heute bezieht Barbara IV-Rente. Sie kenne aber auch einige HIV-positive Menschen, welche die Medikamente sehr gut vertragen würden.

«Ich hätte nie gedacht, dass ich einmal 50 werde.»

Bei ihr jedoch wurde es beinahe mit jedem Medikament schlimmer. Angst und Panikattacken waren Nebenwirkungen eines Medikaments, welches sie fast ein Jahr einnahm. Grössere Menschenmassen, die Fasnacht, ein Konzertbesuch oder eine Busfahrt zu Stosszeiten sind seither nicht mehr denkbar. Und auch ihr Gedächtnis wurde angegriffen. «Meine Kindheitserinnerungen sind fast alle ausgelöscht.» Auch das Kurzzeitgedächtnis begann zu dieser Zeit stark zu leiden. «Was ich letzte Woche gemacht habe, ist weg. Und ich weiss nicht, ob ich jemanden morgen noch erkenne, wenn ich ihn heute kennenlerne.» Auch der Durchfall hörte nicht auf – bei keinem der neuen Medikamente. «Immer hiess es, das neue Medikament habe weniger Nebenwirkungen, und jedes Mal war es eine neue Tortur.»

Erlösung dank medizinischem Fortschritt

Heute nimmt Barbara noch eine Tablette täglich. Vor wenigen Jahren kam ein Präparat auf den Markt, das ihr Körper einigermassen verträgt. Nach einer zweijährigen Schliessmuskel-Therapie hat sie heute zu 90 Prozent wieder eine «normale» Verdauung. Ihr Gewicht kann sie somit meistens halten und auch ihre Haut, die sich seit dem Nesselfieber oft wie eine Schlangenhaut ablöste, konnte sich erholen.

Die Nebenwirkungen, mit welchen sie heute lebt, sind ein tiefer Blutdruck, der sich ein paar Mal monatlich heftig bemerkbar macht, Kopfschmerzen und Müdigkeit. «Ich fühle mich oft, als hätte ich eine ganze Woche lang gefeiert.» So ist Barbara in ihrem Alltag, ihrer Planung oft eingeschränkt, hat immer noch kaum Reserven. «Ich sehe immer erst am Morgen, wie viel ich diesen Tag schaffen kann.»

Wie sie das Leben früher mit zwei kleinen Kindern gemeistert hat, kann sie sich heute nicht mehr vorstellen. «Ich hatte teilweise wirklich keine Kraft mehr – wollte oft nicht mehr leben.» Und doch sei es immer weiter gegangen. «Erst wollte ich für meine Kinder da sein. Heute kümmere ich mich um meine Hunde, die mich brauchen und die mir viel Halt geben. Trotzdem hätte ich nie gedacht, dass ich einmal 50 werde.»

Eine E-Mail mit Folgen

Sie sei immer schon eine Powerfrau gewesen, ein lebenslustiger Mensch. «Ein Wunder eigentlich.» Ihre erste grosse Liebe infizierte sie wissentlich mit HIV und ihr erster Freund nach der Scheidung von ihrem Exmann verschickte eine E-Mail mit ihrem Foto und einem Text über ihre Krankheit an ihr ganzes Umfeld. «Dadurch ging ganz viel kaputt.» Eine Person blieb ihr nach dieser E-Mail von den damaligen Freunden. Auch in der Familie führte die E-Mail zu grossen Problemen – bis heute. «Wäre ich nochmals in derselben Situation, würde ich gegenüber meinen Kinder von Anfang an offen über die Krankheit reden.»

«Ich wünschte, die Gesellschaft würde HIV-positiven Menschen mit weniger Distanz begegnen.»

Gegen den Mann erstattete sie Strafanzeige. Er nahm sich Jahre später im Gefängnis das Leben. Mit ihm hat sie abgeschlossen, doch der Vertrauensbruch belastet sie bis heute. «Meine Mauer ist dick und ich bin immer in Kampfstellung. Ich mache es den Menschen nicht einfach – aus Selbstschutz.»

Nur wenige wissen Bescheid

Ganz wenige Leute lasse sie wirklich an sich heran. «Meine guten Freunde wissen Bescheid. Die sind für mich da, sowie auch meine Familie. Alle anderen müssen von meiner Krankheit nichts wissen.»

Es sei schwierig, sich mit HIV öffentlich hinzustellen und der Krankheit ein Gesicht zu geben – und dafür habe sie nicht die Kraft. «Meist heisst es: Du bist doch sicher selber schuld.» Die Angst vor HIV hingegen sei zwar heute nicht mehr so gross wie in den 90er-Jahren. «Trotzdem sind Menschen aus Unwissenheit oft ängstlich und ziehen sich zurück. Dabei könnte man einfach fragen.»

Hygienewahn und Angst vor Nähe

Auch sie selbst weiss, wie schwierig ein rationaler Umgang mit der Krankheit ist. «Ich hatte ständig die Angst, jemanden anzustecken, und entwickelte einen regelrechten Hygienewahn, den ich bis heute nicht ganz losgeworden bin.»

«Durch die regelmässige Einnahme der Medikamente bin ich seit Jahren nicht mehr ansteckend, da ich keine nachweisbaren Viren mehr habe.» Trotzdem war auch die Sexualität lange ein Problem. «Natürlich war ich gehemmt durch die Angst, meinen Partner allenfalls doch zu infizieren.» Es sei ein schwerer Rucksack, den sie trage, aber sie sei trotzdem dankbar für alles und jeden neuen Tag. «Ich wünschte nur, die Gesellschaft würde HIV-positiven Menschen mit weniger Distanz begegnen – offener.»

Deine Ideefür das Community-Voting

Die Redaktion sichtet die Ideen regelmässig und erstellt daraus monatliche Votings. Mehr zu unseren Regeln, wenn du dich an unseren Redaktionstisch setzt.

Deine Meinung ist gefragt
Deine E-Mailadresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert. Bitte beachte unsere Netiquette.
Zeichenanzahl: 0 / 1500.


0 Kommentare
    Apple Store IconGoogle Play Store Icon