Gesellschaft
Zuger Expertin über traurige Seite von Social Media

Hilferufe im Netz: Wenn Jugendliche sich selbst blossstellen

Forscher fanden heraus, dass sechs Prozent der befragten Jugendlichen sich schon einmal selbst im Internet blossgestellt haben. (Symbolbild: Adobe Stock)

Höhnische Kommentare können Jugendlichen das Leben zur Hölle machen. Nun werden vermehrt Fälle publik, in denen betroffene Teenager selber hinter den Attacken stecken. Es handelt sich um eine neue Form der Selbstverletzung. In Zug ist man darauf vorbereitet.

Hannah war 14 Jahre alt, als sie sich das Leben nahm. Zuvor wurde sie im Internet gemobbt. Sie erhielt auf einer Social-Media-Plattform «böswillige User-Kommentare», berichtete die «Welt». «Tu' uns allen einen Gefallen und bring' dich um.» Das war 2013.

Zuerst war unklar, wer Hannah diese bösen Nachrichten geschrieben hatte. Doch später zeigte sich: Hannah hat sich diese Nachrichten selbst geschrieben.

Jugendliche, die sich selbst im Internet mobben. Expertinnen nennen dieses Phänomen «digitale Selbstverletzung», wie die «NZZ» kürzlich berichtete. Eine amerikanische Studie aus dem Jahr 2017 zeigt, dass es sich beim Fall von Hannah um keinen Einzelfall handelt. Sechs Prozent der befragten 12- bis 17-jährigen Jugendlichen gaben an, dass sie sich schon einmal selbst im Internet blossgestellt haben.

1. Die Situation in Zug

Mit Opfern von Cybermobbing oder anderem Mobbing ist die Kinder- und Jugendpsychiatrie Zug «relativ häufig» konfrontiert. Das sagt Regula Blattmann. Sie ist Chefärztin der Triaplus Kinder- und Jugendpsychiatrie Zug. Rund 50 der 500 Jugendlichen, die sich pro Jahr bei ihnen melden, seien davon betroffen. Selbstverletzendes Verhalten wie beispielsweise Ritzen komme ähnlich häufig vor.

Rund 23 Prozent der Jugendlichen im Alter von 12-19 Jahren haben es bereits erlebt, dass jemand sie im Internet fertigmachen wollte:

Marcel Küng, Jugend- und Familienberater bei punkto – Kinder-, Jugend- & Elternberatung, beobachtet die Tendenz, dass in den letzten Jahren mehr über Selbstverletzungen und Mobbing diskutiert werde  – ob online oder im Freundeskreis. Durch das Nutzen von Sozialen Medien entsteht eine Öffentlichkeit und man tauscht sich aus. «Dadurch werden wir für die Gefühle und Themen anderer eher sensibilisiert.» Küng sagt, dass es zu Zeiten von Sozialen Medien und Chat-Kanälen nicht mehr Mobbing-Vorfälle gebe als früher. Nur seien sie jetzt mehr sichtbar.

In Zug kennt man jedoch das Phänomen des Selbstmobbings (noch) nicht. Marcel Küng und auch Psychologe Olivier Favre, Abteilungsleiter der Kinder- und Jugendgesundheit des Kantons Zug, waren noch nie mit dem Problem konfrontiert. «Das bedeutet aber natürlich nicht, dass es keine Fälle gibt», sagt Küng.

Regula Blattmann fügt an: «Es ist denkbar, dass man in einigen Fällen gar nicht erkannt hat, dass Jugendliche sich selbst gemobbt haben und die Fälle als Cyber Mobbing beurteilt hat.»

Sie hält es für möglich, dass Jugendliche auch hierzulande auf die Idee kommen, sich online selbst zu mobben. Das, weil sie im Internet und in Medien darüber lesen und es «ausprobieren» möchten. Stets mit der Idee, ob es überhaupt jemand merke.

Hier findest du Hilfe

Wenn du dir schon selbst wehgetan hast oder du jemanden kennst, der das macht, wende dich an die Dargebotene Hand. Sie sind rund um die Uhr für dich da und beraten dich anonym. Unterstützung bekommst du über die Nummer 143.

Auch die Notrufnummer 147 von Pro Juventute hilft Kindern und Jugendlichen bei Fragen, Problemen und in Notsituationen weiter. Rund um die Uhr. Via Telefon, SMS, Chat, E-Mail und Webservice.

Unterstützung finden Jugendliche und Eltern auch bei der Beratungsstelle Punkto – Eltern, Kinder & Jugendliche an der Bahnhofsstrasse 6 in Baar. Anfragen werden unter der Telefonnummer 041'728’34’40 entgegen genommen

2. Weshalb sich Jugendliche selbst mobben

Psychologe Olivier Favre überrascht es zum einen, dass sich Jugendliche selbst online mobben, auf der anderen Seite sei es zur heutigen Zeit «irgendwie auch stimmig». Es sei das «Spiel mit der Öffentlichkeit», das zur Entwicklung der Jugend passe. «In der heutigen Welt geht es stark darum, sich auf sozialen Medien zu präsentieren. Zunehmend gibt es die Tendenz, Leidensgeschichten und psychische Probleme öffentlich zu machen. Was einerseits zum Entstigmatisieren beiträgt, andererseits aber auch einen gewissen Voyeurismus befriedigt.»

Doch weshalb mobben sich Jugendliche überhaupt selbst? Bei den meisten sei es wohl ein Hilferuf, sagt Regula Blattmann. «Jugendliche wollen auf sich aufmerksam machen. Sie wollen testen, ob jemand sich um sie kümmert und reagiert.»

Favre fügt an, dass gerade die Jugend-Phase stark davon geprägt sei, seinen Platz und seine Peer-Gruppe zu finden. «Vielleicht wollen Jugendliche mit der digitalen Selbstverletzung auch prüfen, wer ihre wahren Freunde sind und ob sie zu einem stehen und Partei ergreifen.»

Zum Teil spiele auch Selbsthass eine Rolle, fügt Blattmann an. Also dass Jugendliche, die mit sich selbst nicht zufrieden sind, sich tatsächlich schädigen wollen.

3. Die Gefahren von sozialen Medien

Soziale Medien haben auch eine traurige Seite. Gerade auf Instagram kursierten lange Zeit Fotos von Selbstverletzungen und Posts von Suizidgedanken. Oder von Magersüchtigen, die sich gegenseitig zum Hungern trieben.

Amerikanische Experten veröffentlichten dazu vergangenes Jahr eine Studie. 20 Prozent der jungen Erwachsenen gaben an, gezielt nach Suizid- oder Selbstverletzungsinhalten auf Instagram gesucht zu haben. Fast die Hälfte meinte, schon einmal auf solche Inhalte gestossen zu sein. 64 Prozent davon empfanden das Gesehene als «emotional verstörend».

Die Wissenschaftler sahen Zusammenhänge zwischen solchen Beiträgen und deprimierenden Gedanken. Wer Fotos und Videos sehe, die Menschen beim Ritzen zeigen oder Suizide darstellen, könne mit der Zeit häufiger stärkere Gefühle von Hoffnungslosigkeit und mehr selbstverletzendes Verhalten zeigen. Bis hin zu Suizidgedanken. Instagram beteuerte Ende des letzten Jahres: Man wolle solche Inhalte künftig verbannen.

Gegen Aufrufe mit Bilder oder Texten, sich selber oder andere zu verletzen, müsse vorgegangen werden, sagt Küng. Was rechtlich im Alltag gilt, müsse auch auf Sozialen Plattformen gelten. Hier brauche es strukturelle Anpassungen. Ein Verbot alleine bringe  aber nicht viel. «Mit dem Verbot wird ein gesellschaftliches Thema nur tabuisiert.» Man müsse auf solche Inhalte reagieren und sie ernst nehmen, Betroffene unterstützen. Präventiv brauche es mehr Aufklärung und Vermittlung an unterstützende Angebote.

4. Was man dagegen tun kann

Doch was, wenn sich Jugendliche selbst Schmerzen zufügen? Küng sagt, dass sich Eltern oder andere Bezugspersonen nicht selten hilflos und überfordert fühlen, gar Gefühle wie Unverständnis, Ekel und Wut hätten. «Das ist ganz normal.»

Er fährt fort: «Wenn wir mit Fällen von Selbstverletzung konfrontiert sind, befremdet uns das häufig. Wir sind nicht selten verunsichert und sprachlos. Uns dies einzugestehen, ist ein erster wichtiger Schritt.» Möglicherweise sei man so ganz nah dran, Dinge zu verstehen. «Denn offensichtlich findet auch der oder die Jugendliche keinen anderen Weg, um sich mitzuteilen.»

Wenn man merkt, dass jemand sich selbst Schmerzen zufügt, rät Küng, dass Bezugspersonen zunächst Ruhe bewahren und nicht mit Panik, Vorwürfen und Drohungen reagieren.

Man soll die Person zur Seite nehmen. Regula Blattmann rät, offen zu sagen, dass einem das auffalle und man sich Sorgen mache. «Wichtig ist, der Person zu signalisieren, dass man für sie da ist und sich ehrlich für sie interessiert und sich nicht so schnell abschütteln lässt.»

Die betroffenen Jugendlichen sollten sich Erwachsenen anvertrauen. Wenn diese nicht weiterwüssten, sollte man sich professionelle Hilfe holen. Jugendliche würden bei Beratungen und Therapien lernen, anders mit negativen Gefühlen umzugehen.

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