Wie es sich im Menzinger Lassalle-Haus lebt

«Herr Karcher, wie halten Sie diese Stille aus?»

Der Jesuit Tobias Karcher vor seinem Zuhause, dem Lassalle-Haus in Menzingen.

(Bild: wia)

Die meisten Menschen pilgern ins Menzinger Lassalle-Haus, um Abstand zu gewinnen vom Alltag. Für Tobias Karcher ist es umgekehrt. Der Jesuit und Leiter des Hauses lebt in diesem sonderbaren, stillen Gebäude. Wenn er Abstand braucht, reist er nach Zürich, Luzern, oder auch mal um die Welt. Wir haben den Ordensmann zuhause besucht.

In der Gegend um Menzingen erwartet man spiessige Bauten. Giebeldächer. Geranien. Kläffende Appenzellerhunde. Und doch ragt da aus dem Wald unter Edlibach dieser riesige Betonblock. Imposant, zweifelsohne. Aber auch ein wenig frech.

Deplatziert wirkt er nicht. Besonders an einem solch regenverhangenen Tag fügt sich das Lassalle-Haus bestens in die grauen Wolken und nassen Wiesen ein. Wir sind auf dem Weg zum Jesuiten Tobias Karcher, dem Leiter dieses einst umstrittenen Hauses. Wie seine sechs Ordensbrüder ist er ein steter Bewohner dieses ulkigen Baus. Und es wundert uns schon sehr, wie es sich hinter diesen Betonmauern, umgeben von Meditierenden, so lebt.

Hilfe, es ist viel zu ruhig

Ein Haus im Zeichen der Achtsamkeit

Das Menzinger Lassalle-Haus wurde 1968 vom Zürcher Architekten André M. Studer gebaut. Schon Jahrzehnte davor hat der Jesuitenorden das ehemalige Kurhaus, die Wasserheilanstalt Bad Schönbrunn, übernommen und dort Exerzitien durchgeführt. Unter dem Jesuiten und Zen-Meister Niklaus Brantschen begann der Dialog zwischen Zen und Christentum, der bis heute im Haus gepflegt wird. 2015 wurde das Lassalle-Haus aufwändig renoviert. Während dieser Zeit wohnten die Jesuiten im Kloster Menzingen, wo auch ein Teil der Kurse durchgeführt werden konnte.

Ein paar Minuten zu spät und mit dem Telefon am Ohr treten wir ins Gebäude ein. Und werden von der schieren Stille fast erschlagen. Also weg mit dem Handy. Tatsächlich dauert es einige Minuten, bis wir uns an die fast vollständige Absenz von Geräuschen gewöhnt haben. Etwas regt sich. Tobias Karcher kommt in die Empfangshalle. Wir begrüssen uns und setzen uns erst einmal für einen Kaffee hin.

Immer wieder betreten Menschen die karg eingerichtete Caféstube. Auch durch den Gang huschen hin und wieder Leute. Die meisten von ihnen sind Kursteilnehmer, die hier sind, um zu meditieren, Yoga zu machen oder sich mit dem Glauben zu befassen. Nicht wenige von ihnen sind «in der Stille». Will heissen, sie sprechen bewusst über längere Zeit hinweg kein Wort und vertiefen sich während dieser Zeit in die Meditation.

 

Das Lassalle-Haus ist U-förmig gebaut. In der Mitte liegt ein grüner Park mit Teich.

Das Lassalle-Haus ist U-förmig gebaut. In der Mitte liegt ein grüner Park mit Teich.

(Bild: wia)

Von der hässlichsten Stadt Deutschlands nach Zug

Wie ist es, an einem Ort zu wohnen, der für die allermeisten nur eine kurze Etappe, eine temporäre Ausstiegsmöglichkeit aus dem Alltag ist? Tobias Karcher sagt: «Es ist wunderschön hier. Zum einen, weil das Haus eingebettet zwischen Moränenhügeln mitten in der Natur liegt. Zum andern, weil es sich hierbei um ein ganz spannendes Haus handelt (siehe Box).» Und Karcher ergänzt: «Bevor ich vor acht Jahren hierher gekommen bin, habe ich in einer Jesuitengemeinschaft in Ludwigshafen am Rhein gelebt. Und der Ort wurde bereits mehrmals zur hässlichsten Stadt Deutschlands erkoren.» Da sei Zug auf verschiedenen Ebenen ein ziemliches Kontrastprogramm, erklärt der Jesuit. Und lacht.

Nachdem wir unseren Kaffee fertiggetrunken haben, wandeln wir durch die Räume des Hauses. Es ist gross, die Wände sind hoch. Vertikale Holzbalken wechseln sich mit Rohbeton-Wänden ab.

Ein Bett, ein Schrank, ein Pult: Viel Schnickschnack gibt's hier nicht.

Ein Bett, ein Schrank, ein Pult: Viel Schnickschnack gibt’s hier nicht.

(Bild: wia)

Wird es da, etwa um die Winterfeiertage herum, nicht etwas gar einsam in diesem Bau? «Im Gegenteil», betont der Jesuit. «Von Weihnachten bis und mit Neujahr haben wir fast volles Haus hier. Es sind vor allem Freunde des Hauses zu Besuch, die kein Weihnachten im bürgerlichen Sinn feiern möchten.» Und doch gäbe es Zeiten, in denen es im Lassalle-Haus sehr ruhig sei. «Da ist es schon wichtig, ab und zu das Haus zu verlassen», sagt Karcher. Er jedoch läuft nicht Gefahr, zu wenig soziale Kontakte zu knüpfen.

«Es heisst ja nicht, dass man als Ordensmann keinen Spass haben kann.»

Tobias Karcher, Leiter des Lassalle-Hauses

Der Jesuit reist regelmässig in der Welt herum, weilt an Konferenzen des internationalen Jesuitenordens und gibt selbst Kurse. Ein Jetsetter-Leben? «So schlimm ist es hoffentlich noch nicht.» Wir staunen dennoch. Das Ordensleben haben wir uns ganz gemächlich und als Quasi-Stillstand vorgestellt. Doch weit gefehlt: «Wir Jesuiten sind zwar Ordensleute, aber keine Mönche. Das heisst auch, dass wir kein gemeinsames Stundengebet haben, sondern spezifische Aufgaben, denen wir im Alltag nachgehen.» So unterrichten einige von ihnen an Universitäten oder Schulen.

«Ich gehe auch gern an Konzerte ins KKL, ins Kino oder an Ausstellungen nach Zürich. Es heisst ja nicht, dass man als Ordensmann keinen Spass haben kann. Auch wenn wir ein bescheidenes Leben ohne viel Besitz führen.» Das Credo der Jesuiten sei es, in der Welt zu sein und bodenständig zu bleiben. So sei auch der interreligiöse Dialog ein wichtiger Bestandteil des Ordens.

Tobias Karcher vor seiner Bibliothek.

Tobias Karcher vor seiner Bibliothek.

(Bild: wia)

 

Das Haus, durch das wir gehen, ist in zwei Teile aufgegliedert. Einer für die Zen-Meditation und einer für den christlichen Glaubensweg. Obwohl wenige dekorative Elemente die Räume zieren, ist das Klima warm, ja fast gemütlich.

Vor dem Frühstück wird meditiert

Karchers Tag beginnt früh, erzählt er im Gehen. So steht der Ordensmann jeweils um 5.45 Uhr auf. Vor dem Frühstück trifft man sich für eine stündige Meditation. Diese erfolgt entweder in der Zen- oder in der christlichen Tradition. «Speziell dabei ist, dass hier auch Auswärtige dabei sein dürfen. Wir sind dann jeweils bis zu zwanzig Leute.»

Nach dem Frühstück setzt sich Karcher ins Büro: Zuerst befasst er sich mit dem Studium von Texten und dem Schreiben eigener Artikel für Zeitschriften. Später trifft er sich mit Kurs-Referenten zu Sitzungen, hält Konferenzen und bereitet Seminare vor. «Gerade bereiten wir gemeinsam mit der Swisscom den neuen Kurs ‹Mindful Leadership› vor. Das Unternehmen setzt sich im Bereich Überarbeitung und Burnout sehr stark ein. Ich möchte hier nicht Schleichwerbung machen, aber die machen das wirklich gut», sagt Karcher und lacht.

«Ich habe wohl vergessen zu erwähnen, was bei uns Jesuiten die oberste Regel ist: genügend Schlaf.»

Mittlerweile stehen wir vor dem alten Personalhaus des ehemaligen Heilbads. Das Hauptgebäude wurde vor langer Zeit abgerissen. Hier wohnen die sogenannten Langzeitgäste, erklärt Karcher. Es sind Menschen, die sich umorientieren, ein Sabbatical machen oder einfach nur Abstand brauchen vom alten Leben.

Hier, im ehemaligen Personalhaus des früheren Heilbads, wohnen heute die Langzeitgäste.

Hier, im ehemaligen Personalhaus des früheren Heilbads, wohnen heute die Langzeitgäste.

(Bild: wia)

Nach der täglichen Arbeit nimmt der Jesuit mit seinen Ordensbrüdern das Nachtessen ein. Der Esssaal der Gemeinschaft ist spartanisch eingerichtet. Es gibt nur wenige christliche Symbole, fällt uns auf. «Die gibt es schon», erklärt der gebürtige Deutsche und weist auf ein Gemälde. «Nur sind sie nicht so ‹right into your face›». Abends nehmen die Jesuiten an einem gemeinsamen Gottesdienst in der sogenannten «roten Kapelle» teil. Danach sei Zeit für soziale Interaktionen.

«Jeder muss zuerst sich selber Sorge tragen.»

Karcher zeigt uns seinen Lieblingsraum, ein luftiges Wohnzimmer mit Cheminee und einer Terrasse. «Häufig bin ich abends jedoch auswärts und halte Vorträge», so Karcher. Das klingt vielbeschäftigt. Und auch etwas hektisch. Widerspricht das nicht der ganzen Idee von Achtsamkeit, welche in diesem Haus doch oberste Priorität haben sollte? «Stimmt. Doch ich habe wohl vergessen zu erwähnen, was bei uns Jesuiten die oberste Regel ist: genügend Schlaf. Sonst nimmt es uns tatsächlich niemand ab, wenn wir von Achtsamkeit reden.» Dennoch gebe es auch für den Jesuitenbruder Momente, in denen er merke, dass er einen Gang runterschalten müsse. «Jeder muss zuerst sich selber Sorge tragen», erklärt er.

 

Der Gemeinschaftsraum der Ordensleute wirkt gemütlich.

Der Gemeinschaftsraum der Ordensleute wirkt gemütlich.

(Bild: wia)

Tobias Karcher begegnet vielen Menschen im Lassalle-Haus. Viele von ihnen kommen her, um innezuhalten und sich in Ruhe mit sich selber zu befassen. Was sieht der Jesuit als grösstes Problem unserer modernen Gesellschaft? Karcher überlegt kurz und sagt: «Den Leistungsdruck. Den gibt es selbst hier beim Meditieren. Da kommen Leute her, die finden: Jetzt habe ich eine ganze Woche freigenommen, darum muss das jetzt eine super Meditation werden.»

Wir sind am Ende des Rundgangs. Verabschieden uns, und verlassen das Lassalle-Haus. Raus ins novemberhafte Augustwetter. Das ist schade, denn an die Stille haben wir uns mittlerweile beinahe gewöhnt.

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