Gassenseelsorger: «Manchmal fühle ich mich hilflos»
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Valentin Beck kennt das Leben auf der Luzerner Gasse aus nächster Nähe. Im Gespräch erzählt der Gassenseelsorger von Sorgen, Hoffnungen und der schwierigen Suche nach einem Stück Stabilität.
«Tiefe» – so heisst die Bushaltestelle, an welcher der VBL-Bus mit der Nummer 4 hält. Nur wenige Schritte entfernt liegt die Gassechuchi – Kontakt- und Anlaufstelle am Luzerner Geissensteinring. Hier gehen sucht- und armutsbetroffene Menschen ein und aus. Kürzlich war an jener Haltestelle aber etwas anders: In einer Guerilla-Aktion haben Unbekannte die Tafel bei der dortigen Haltestelle mit einem Plakat überklebt. Darauf stand: «Höhe».
Einer, der sich den Höhen und Tiefen dieser Gassenleute auskennt, ist Valentin Beck. Der 40-Jährige ist seit bald vier Jahren der Seelsorger der Gassenarbeit Luzern (zentralplus berichtete). Im Interview mit zentralplus blickt er zurück.
zentralplus: Valentin Beck, wie starteten Menschen auf der Gasse ins neue Jahr? Gibts spezifische Vorsätze und Hoffnungen?
Valentin Beck: Ja, das hat sich auch an der diesjährigen Weihnachtsfeier gezeigt. Wir haben zurückgeblickt, wofür wir dankbar sind, was wir hinter uns lassen wollen im neuen Jahr und was wir uns wünschen. Oft geäusserte Wünsche waren: ein Zuhause haben, gesund sein, clean werden und Frieden für die Welt.
zentralplus: Wie geht es den Leuten auf der Gasse denn derzeit?
Beck: Viele Besuchenden der Gassenküche sind in einem gesundheitlich schlechten Zustand. Der körperliche Zerfall ist sichtbar. Das liegt auch am intensiven Crack- und Freebasekonsum. Wir verzeichnen relativ viele Spitalaufenthalte und gesundheitliche Krisen. Viele haben Lungenprobleme und sind in ihrer Mobilität eingeschränkter.
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zentralplus: Kokain wird in Luzern zwar seit über 15 Jahren auch geraucht – doch seit drei, vier Jahren sind vermehrt Cracksteine im Umlauf. Die Szene ist gemäss Experten hektischer und teils aggressiver (zentralplus berichtete). Nehmen Sie das auch so wahr?
Beck: Ja, viele sind sehr unruhig und nervös. Für sie ist es schwierig, neben der Sucht an Aktivitäten teilzunehmen. Etwa gemeinsam musizieren oder jassen – Dinge, die ihnen mal Freude bereitet haben, werden durch diese Unstetigkeit eingeschränkt. Der Suchtdruck ist enorm hoch, der Tages- und Nachtrhythmus durcheinander. Crack hat kein Sättigungsgefühl. Die Szene sagt oft, dass auch der Zusammenhalt nicht mehr derselbe wie früher sei. Die Leute seien egoistischer geworden. Ich weiss nicht, ob dem wirklich so ist. Vielleicht ist es auch eine nostalgische Verfärbung der Vergangenheit. Ein grosser Belastungsfaktor ist für viele zudem das Thema Wohnen.
Zum Gedenken
In der Gassechuchi wird für jeden Verstorbenen eine Abdankungsfeier gehalten. Während dieser Zeit ruht in den Konsumräumen der Betrieb. Ein Tisch wird mit Blumen, Tüchern und Kerzen geschmückt und das «Totenbuch» mit dem Bild des Verstorbenen aufgestellt.
Um dies auch in die Öffentlichkeit zu tragen, findet jeweils am ersten Donnerstag im Februar eine Gedenkfeier statt, an der allen Verstorbenen des Vorjahrs gedacht wird. Heuer findet diese ökumenische Gedenkfeier am 6. Februar um 19 Uhr in der Matthäuskirche in Luzern statt. Offen für alle.
zentralplus: Weil viele kein richtiges Dach über dem Kopf haben?
Beck: Ja. Das ist ein Grundbedürfnis. Wenn das wegbricht, fehlt es an Sicherheit und Stabilität. Ein Thema, das sich gerade aufdrängt, ist zudem das Thema Wohnen im Alter. Viele unserer Klienten werden schon mit 50 oder 55 Jahren pflegebedürftig – 20 bis 30 Jahre früher als andere. Ältere Suchtkranke finden schwer einen Platz in einem Heim, da der Konsum illegaler Substanzen oft ein Ausschlusskriterium ist und die Integration ihres Lebensstils anspruchsvoll ist.
zentralplus: Sie sagten, dass der Alltag Suchtbetroffener von Unstetigkeit geprägt ist. Wie hat sich Ihre Arbeit als Gassenseelsorger dadurch verändert?
Beck: Abgemachte Termine werden oft abgesagt oder vergessen. Der Moment ist entscheidend. Wenns geht, versuche ich just in dem Moment, in dem jemand mit mir das Gespräch sucht, Zeit zu finden.
zentralplus: Gibt es eine Begegnung oder ein Erlebnis, das Ihnen besonders in Erinnerung geblieben ist?
Beck: Ich staune immer wieder, wenn ich die Lebensgeschichten der Besuchenden der Gassechuchi kennenlerne. Je mehr Menschen ich begegne, desto mehr merke ich, wie unterschiedlich ihre Biografien sind. Als letztes Jahr ein Mann verstorben ist, hat sein Freund ein literarisch hochstehendes Abschiedsgedicht bei der Abdankung vorgelesen. Bevor sie auf der Gasse gelandet sind, haben sie gemeinsam Literatur studiert. Das hat mich enorm beeindruckt.
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zentralplus: Was macht es mit Ihnen, täglich mit dem Leid der Gassenleute konfrontiert zu sein?
Beck: Manchmal fühle ich mich hilflos. Wir verbringen immer noch viele gute Momente miteinander, doch kann ich die Ursache nicht ändern. Wir können nicht steuern, was als Nächstes auf uns zukommt. Eine neue Droge, durch die es den Leuten noch schlechter geht? Diese Angst ist real. Schön ist aber, dass die Toleranz der Bevölkerung gegenüber Suchtkranken zugenommen hat. Viele verstehen, dass Sucht eine Krankheit ist und das Verhalten Suchtbetroffener seine oft biografischen Gründe hat.
zentralplus: Eine Krankheit, die im Tod enden kann. Im Jahr 2024 sind 20 Menschen verstorben, die in der Gassechuchi – K+A ein und aus gegangen sind (siehe Box). Ihre Aufgabe als Gassenseelsorger ist es auch, Menschen, bei denen sich der Tod abzeichnet, darauf vorzubereiten. Wie bereitet man jemand auf seinen Tod vor?
«Die Hoffnung auf Erlösung haben wohl eher die Menschen rundum.»
Beck: Ich glaube nicht, dass ich das kann. Die Menschen bereiten sich wohl selbst darauf vor. Ich unterstütze sie darin, sich mit dem Tod auseinanderzusetzen, und frage unverblümt, ob sie schon darüber nachgedacht haben. Ich versuche, Blockaden so gut es geht zu lösen. Ein grosses Thema ist das Versöhnen. Viele wollen beispielsweise vor ihrem Tod nochmals mit der Familie Kontakt aufnehmen. Ich motiviere sie, dies zu tun, solange sie noch klar im Kopf sind.
zentralplus: Was bedeutet der Tod für Menschen, die in so prekären Verhältnissen leben? Ist es eher Angst oder eine mögliche Erlösung?
Beck: Eine schwierige Frage. Ich glaube, der Tod ist weniger tabuisiert, weil er bei vielen unmittelbar vor der Tür steht. Ringsum sterben Menschen, und viele sind selbst schon ein oder mehrmals dem Tod knapp entronnen. Einige haben einen Galgenhumor entwickelt. Die meisten haben keine Angst vor dem Tod, aber Respekt vor dem Sterben und den Schmerzen. Ich kenne niemanden, der eiskalt bei dem Thema bleibt. Die Hoffnung auf Erlösung haben wohl eher die Menschen rundum. Vom Umfeld höre ich oft Sätze wie: «Er ist jetzt an einem besseren Ort, hier ging es ihm schlecht.»
«Mir erscheint die ‹Bühne dieser Welt› zu schön und zu aufwendig, um nach dem Tod einfach zu enden.»
zentralplus: Sie organisieren als Gassenseelsorger die Abdankungszeremonien. Sind Sie abgestumpft, was den Tod anbelangt?
Beck: Abgestumpft würde ich nicht sagen. Aber mich bringt so schnell nichts mehr aus der Fassung. Ich rechne mit allem und bin ruhiger geworden. Wenn in meiner Anfangszeit als Gassenseelsorger jemand starb, dachte ich: «Das kann doch nicht sein.»
zentralplus: Glauben Sie, dass nach dem Tod noch etwas kommt?
Beck: Ja, etwas Positives. Obwohl ich immer weniger weiss, was uns nach dem Tod erwartet. Mir erscheint die «Bühne dieser Welt» zu schön und zu aufwendig, um nach dem Tod einfach zu enden. Für mich sind diese Grenzen zwischen Leben und Tod jedoch scharf gezogen. Kontakt zu Verstorbenen über ein Medium halte ich für unmöglich. Die einzige Verbindung zwischen diesen Welten ist für mich das gegenseitige Erinnern und Denken aneinander.
zentralplus: Welche Hoffnungen und Ziele haben Sie fürs Jahr 2025?
Beck: Für Betroffene wünsche ich mir, dass Angebote für pflegebedürftige Suchtkranke geschaffen werden können. Als Gassenseelsorger möchte ich meine Energie und Freude im Beruf halten und weiterhin staunen können über das Goldene im Leben dieser Menschen. In meinem Alltag möchte ich mehr auf jene zugehen, die ein wenig ruhiger sind und die ich noch nicht so gut kenne. Denn die Leisen haben genauso Bedürfnisse wie die Lauten.
- Telefonat mit Valentin Beck
- Ausgabe der «Gasseziitig Lozärn»