Luzernerin für Ärzte ohne Grenzen

Freiwillig zwischen den Fronten

Christine Büsser ist bereits seit sieben Jahren für Ärzte ohne Grenzen unterwegs. (Bild: jav)

Die Ärzte ohne Grenzen helfen dort, wo Krieg herrscht. Und vor allem dort, wo sich viele Organisationen gar nicht mehr hintrauen. Die Luzernerin Christine Büsser ist mit ihnen vor Ort und kümmert sich um die Logistik und die Sicherheitslage. Dabei gerät sie zwischen die Fronten an ihre Grenzen.

Kein fester Wohnsitz, wenig Zeit für sich selbst, freiwilliger Aufenthalt in den gefährlichsten Gebieten der Welt. Seit sieben Jahren ist die Luzernerin Christine Büsser bei Médecins Sans Frontières, Ärzte ohne Grenzen (MSF), unter anderem als Projektleiterin im Einsatz. Meistens befindet sie sich dafür für ein Jahr in einem Krisengebiet. Der letzte Einsatz war zwar nur ein kurzer, dafür umso intensiverer, im Jemen.

MSF hilft stets beiden Parteien eines Konflikts – und dies oft direkt an der Front. Da kann man bei Veränderungen der beherrschten Territorien schnell in die Schusslinie geraten.

Schlafen im Spital

Christine Büsser hat schon einige solche Einsätze erlebt. «Wir waren auch schon wochenlang in einem Spital genau auf der Front. Da können die Schüsse auch einmal durch die Wände gehen. Man kann das Haus nicht mehr verlassen. Die internationalen, wie auch die einheimischen Helfer – Ärzte, Pflegepersonal und Leute vom Gesundheitsministerium – schlafen und arbeiten dann im Spital.»

Und rundherum herrscht Krieg. Es gibt tägliche Bodenkämpfe. Einige hundert Meter entfernt schlägt schwere Artillerie ein. «Man spürt die Einschläge im Körper – die ganze Zeit», erzählt die 36-Jährige ohne jegliche Dramatik. «Du kannst auch nicht schlafen, hast ständig das Gefühl die Raketen schlagen direkt neben dir ein.»

Vom Finanzjob in New York zu MSF

Dass Büsser einmal ein solches Leben führen würde, hatte sie nicht geahnt. Nach der Kanti Alpenquai hatte sie in Boston Wirtschaft studiert. Danach war sie in New York erfolgreich im Finanzwesen tätig. Sie sei ein sehr logischer, rationaler Mensch. Gut mit Zahlen. Doch nach ein paar Jahren im Beruf gaben ihr einige grosse Ereignisse wie der Tsunami zu denken. «Ich sass jeden Tag vor meinem Computer. Mir ging es zwar gut, aber ich dachte immer öfters: Was mache ich hier eigentlich.» Die Zweifel an diesem Lebensentwurf seien immer stärker geworden. «Ich wollte helfen, wusste aber nicht genau wie und wo.»

Also begann sie in New York ihre Kontakte zu nutzen. «Ich wollte herausfinden, was ich mit meinem beruflichen Background tun könnte. Was möglich wäre.» Durch einen Freund kam sie schliesslich in Kontakt mit Mitarbeitern von Médecins sans Frontières. «Im Gespräch mit ihnen hat es dann Klick gemacht.» Nach einer längeren Reise durch Indien, Nepal und Buthan meldete sie sich in Genf und dann ging alles ganz schnell. «Zwei Monate später war ich bereits im Sudan.»

Eine hohe Risikobereitschaft

So begann Büssers Zeit bei MSF. Ihre Arbeit ist die Projektleitung vor Ort in den Krisengebieten. «Ich checke die Sicherheitslage, mache die Risikoanalysen, verhandle mit Parteien und Behörden vor Ort und kümmere mich um logistische Fragen.»

«Unsere Sicherheit vor Ort hängt von der Bevölkerung und den lokalen Bewaffneten ab.»

Das auch dieses Jahr im Jemen. Dort wurden Mitte März alle internationalen Helfer evakuiert. Nun sind sie zurück. «Die lokalen Helfer haben natürlich weitergearbeitet, aber es braucht die internationalen Leute, um die Neutralität besser gewährleisten zu können.» Doch es seien kaum noch Organisationen vor Ort. Neben den MSF gibt es fast keine internationalen Organisationen, die vor Ort arbeiten.

Einsatz im Jemen

Die Ärzte ohne Grenzen sind im Jemen in acht Gouvernements aktiv. Dabei reichen die Projekte von erster Nothilfe für Verletzte, über chirurgische Eingriffe und Unterstützung von Spitälern bis hin zur Versorgung der Bevölkerung mit Trinkwasser und Hilfsgütern. Seit Mitte März 2015 wurden bereits zehntausende Kriegsverletzte behandelt.

Und es sind auch keine Wächter oder Soldaten mit dabei. «Unsere Sicherheit vor Ort hängt von der Bevölkerung und den lokalen Bewaffneten ab. Doch es kann immer passieren, dass man zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort ist.»

Deshalb braucht es eine gewisse Risikobereitschaft. «Die ist bei uns sehr stark gegeben. Wir sind bereit, mehr Risiko auf uns zu nehmen, solange wir das Gefühl haben, die potenziellen Bedrohungen mildern zu können. Das hängt aber auch stark damit zusammen, dass wir unabhängig agieren.» Denn eine Abhängigkeit über Gelder oder andere Organisationen ist nicht vorhanden.

Ein täglicher Kampf

Die Bevölkerung befindet sich in einem täglichen Kampf. Man weiss nie, was am nächsten Tag oder in der nächsten Stunde ist. «Da wir mit ihnen leben, mit ihnen zusammen dort sind, haben wir einen guten Stand bei der lokalen Bevölkerung. Das Vertrauen ist da.» Deshalb erfährt Büsser vor Ort auch viel darüber, wie es den Leuten geht und worüber sie sich Gedanken machen.

«Viele der Leute wollen nicht gehen. Denn sie sehen, was mit den syrischen Flüchtlingen passiert, die im Libanon oder in der Türkei unter schlimmsten Umständen unterkommen.» Büsser erzählt, sie habe schon viele Leute im Jemen sagen hören: «Wir wollen kein syrisches Schicksal. Wir sterben lieber hier.» Das sei brutal. «Die Stärke dieser Leute fährt richtig ein.» Doch die Zivilbevölkerung leidet neben den offensichtlichen Problemen auch stark unter psychischen Schäden und unter dem Zusammenbruch des Systems.

Die Aufgaben weiten sich aus

Das Schwerste für die Helfer sei derzeit das Embargo. Dieses beeinflusst wichtige Gütertransporte. «Es geht nicht nur um Medikamente, sondern vor allem um Treibstoff und Wasser.» Denn Strom und fliessendes Wasser gibt es nicht mehr. Um Strom zu bekommen, braucht es Generatoren, die mit Treibstoff angetrieben werden. Um Trinkwasser zu haben, braucht es Transporte mit Lastwagen, die wiederum Treibstoff benötigen. Und durch den Transport wird das Trinkwasser extrem teuer. «Nur die Reichen können es sich noch leisten.»

Das Gesundheitssystem Jemens ist fast komplett zusammengebrochen. «Wir unterhalten noch die einzigen Spitäler in diesen Gebieten.» Auch die Apotheken sind geschlossen – also kommen chronisch Kranke, wofür die MSF normalerweise nicht zuständig wäre, ebenfalls zu ihnen. «Wir machen viel mehr als üblicherweise. Weil einfach ausser uns und einigen wenigen Organisationen niemand dort ist. Auch wenn die Gelder vorhanden wären,  wir haben kaum Organisationen, die vor Ort arbeiten, die Hilfsgüter verteilen.»

«Alles kollabiert», sagt Büsser. «Auch die Banken sind zu. Die Leute arbeiten teilweise noch, erhalten aber ihren Lohn gar nicht. Wie die Leute vom Gesundheitsministerium, die Ärzte oder das Pflegepersonal.» Die Kinder gehen seit Monaten nicht mehr zur Schule. Es könne kaum noch angebaut werden. Und wenn, dann nur unter lebensgefährlichen Umständen.

Selbst klarkommen

Doch hat man bei so viel Leid die ganze Zeit noch Kraft, noch Energie? Gibt man nicht irgendwann auf? «Klar. Die Gefühle tun manchmal was sie wollen», gibt Büsser zu. Aber wenn Leute ihr sagen, dass sie noch Hoffnung haben, weil sie da seien, «dann weiss man, dass es etwas bringt.»

«Wenn wir nicht da sind, wer dann?»

Und natürlich stosse sie an ihre Grenzen. «Oft. Dann muss ich aber auch mal Stopp sagen, meine Balance wieder finden.» Zwischen den Einsätzen brauche es deshalb immer wieder mehrmonatige Pausen. Die Mitarbeiter erhalten auch psychologische Betreuung, aber das reiche nicht. «Man muss für sich selbst einen Weg finden, die Einsätze zu verarbeiten. Denn sie schwächen emotional schon extrem – und auch physisch.» Und ihr ist bewusst: «Wenn wir nicht da sind, wer dann?». Es sei die Solidarität, die sie antreibe. «Ich will die Leute nicht alleine lassen.»

Nicht vergessen

Büsser ist unsicher, ob sie jemals wieder in einem gewöhnlichen Bürojob arbeiten könnte. «Helfen wollen werde ich immer. Aber man kann ja auch nie sagen, wie lange man solche Einsätze körperlich machen kann.» Doch wenn das nicht mehr möglich sein sollte, dann möchte sie informieren, sensibilisieren.

«Ich weiss, es ist derzeit so viel Leid überall, dass die Leute kaum mehr hinhören wollen. Sie können die Informationen auch nicht mehr einordnen.» Das sei auch verständlich. «Doch es ist extrem wichtig: Wir dürfen nicht vergessen. Wir müssen uns informieren, die Kriege thematisieren.» Es müsse darüber gesprochen werden, so Büsser. Denn nur durch gesellschaftlichen Druck entstehe ein politischer Druck, und der könne vielleicht etwas bewirken.

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