Drähte bei «Dargebotener Hand» glühen

Fehlende Bikinifigur führt zu Depressionen

Nicht alle Menschen können dem Klima der Lebensfreude entsprechen. (Bild: flickr)

Der Sommer kann auch ganz schön belastend sein. Sommerblues nennt man diese leichte Depression. Seit Sommerbeginn haben bereits knapp 3’000 Zentralschweizer Hilfe bei der «Dargebotenen Hand» gesucht. Besonders eine Gruppe nutzt den Dienst häufig.

Sommer bedeutet, dass Freunde und Kollegen in den Ferien weilen. Und das Leben aufgrund der Wetterbedingungen vermehrt im Freien stattfindet. Für Menschen, die sich alleine fühlen, ist diese Situation nicht einfach. Sie sehen sich vermehrt mit ihrer sozialen Situation konfrontiert und haben entsprechend Zeit, sich Gedanken zu machen – sie kommen ins Grübeln. Dies spürt auch der Telefondienst 143, die dargebotene Hand. Klaus Rütschi, Geschäftsführer der Dargebotenen Hand Zentralschweiz sagt: «Wir spüren in dieser Zeit eine deutliche Zunahme von Anrufenden, die sich einsam und verlassen fühlen».

Die Grenze von schlechter Laune zu einer leichten Depression steckt Rütschi wie folgt ab: «Im Gegensatz zu schlechter Laune ist eine leichte Depression eine anhaltende, grundlose psychische Verstimmung.» Die Symptome des Sommerblues sind unruhiger und wenig Schlaf, sowie fehlendes Hungergefühl. Rütschi hält fest, dass die meisten Betroffenen weiblich und zwischen 20 bis 40 Jahren alt sind. «Studien zeigen, dass Frauen stärker betroffen sind. Aber bei Männern ist die Dunkelziffer wohl höher.»

Thomas Glinz von der Psychiatrie Luzern kann den Anstieg an leichten Depressionen durchaus nachvollziehen (Bild: lups.ch).

Thomas Glinz von der Psychiatrie Luzern kann den Anstieg an leichten Depressionen durchaus nachvollziehen (Bild: lups.ch).

Diese Einschätzung teilt auch Thomas Glinz, leitender Arzt bei den stationären Diensten der Luzerner Psychiatrie. «Frauen sind eher bereit über ihre Probleme zu sprechen, während bei Männern das Risiko einer auftretenden Suchterkrankung besteht.» Ein Anstieg an stationären Behandlungen kann er allerdings nicht feststellen. «Der Sommerblues ist eine leichtere Form einer Depression. Diese wird in der Regel ambulant behandelt.»

Vermehrt junge Frauen betroffen

Der Mensch neigt dazu, sich stets mit seinem Umfeld zu vergleichen. Und das Äusserliche fällt dabei als erstes auf – im Bikini sowieso. Eigene Problemzonen und die nicht vorhandene Bikinifigur begünstigen dabei psychische Verstimmungen. Geht es Menschen ohne Figurprobleme im Umfeld gefühlsmässig besser, verstärkt dies das Gefühl eigenen Unwohlseins zusätzlich, sagt Klaus Rütschi von Telefon 143.

«Der Sommer-Blues tritt oft bei Menschen auf, die einsam sind und das schöne Wetter nicht mit Freunden, dem Partner oder der Familie geniessen können, und sich nicht in die Badi getrauen, weil sie sich oft zu Unrecht nicht attraktiv, zu dick oder zu alt fühlen», so Rütschi. «Sie spüren, dass sie dem Klima der Lebensfreude nicht entsprechen können.»

Depressionen

Sind Sie selbst betroffen, so trauen Sie sich, nach Hilfe zu rufen. Depression ist eine Krankheit, die ernst genommen und behandelt werden muss. Spazieren gehen an der frischen Luft, das Tageslicht geniessen und Gespräche mit Menschen führen, kann hilfreich sein. Bei unvermittelt auftretenden und längeren «traurigen Phasen» vertrauen Sie sich Ihrem Arzt an.

Einige Fakten:

  • Depressionen treten bei Menschen aller sozialen Schichten, Kulturen und Nationalitäten auf.
  • Etwa 20% aller Menschen erfahren im Laufe ihres Lebens zumindest einmal eine depressive Phase.
  • Frauen sind doppelt so häufig betroffen wie Männer.
  • Auch Kinder können an einer Depression leiden.
  • Nur die Hälfte aller Depressionen wird erkannt.
  • Etwa 10% aller schwer Depressiven sind suizidgefährdet.

Zwang zum Glücklich sein

Ein weiteres Problem ortet Rütschi bei der vermehrten Selbstinszenierung auf den Social-Media-Kanälen. «Auch wenn es die Leute eigentlich gut meinen und ihre durchaus schönen Erlebnisse mit den Mitmenschen teilen wollen, wirkt dies eher kontraproduktiv.» Der Druck auf psychisch Angeschlagene nehme zu, weil der Anspruch des Wohlbefindens im Sommer grösser sei als in anderen Jahreszeiten. Das Gefühl, das Leben nicht im gleichen Ausmass geniessen zu können, kann bedrückt machen.

Die dargebotene Hand rät Menschen, die im Sommer unter Depressionen leiden, nicht in den Urlaub zu gehen. Sie würden davon nicht profitieren können. Eine andere Umgebung hebe nicht die Stimmung, weil die Depression mitreist. Urlaub kann die Depression sogar verstärken, weil die Erwartungshaltung zu hoch ist. Während das Urlaubsgefühl bei der Erholung helfen sollte, bleibt eher eine Enttäuschung zurück.

Sport und Freunde können helfen

Ein Sommerblues ist eine leichte Depression, gegen die einfache Mittel oft reichen würden. Telefon 143 rät, sich Kontakte zu organisieren, Freunde zu pflegen, sich in der frischen Luft zu bewegen und mit Freunden Sommerkleidung zu kaufen. Es helfe, mit dem schönen Wetter zu leben und sich selbstbewusst in eine schöne Umgebung oder an den See zu setzen oder eine Glace zu geniessen.

Einsamkeit als Risikofaktor

Dauert ein Sommer-Blues länger, kann dies zur Qual werden. Verzweiflung, Verbitterung, Krankheit und, nicht selten, gar Suizidgedanken können auftauchen. Über seine Probleme zu sprechen, ist für viele Menschen sehr schwierig und mit viel Scham verbunden.

Klaus Rütschi, Geschäftsführer der Dargebotenen Hand Zentralschweiz, stellt vermehrt Anrufe von jungen Frauen fest (Bild: zvg).

Klaus Rütschi, Geschäftsführer der Dargebotenen Hand Zentralschweiz, stellt vermehrt Anrufe von jungen Frauen fest (Bild: zvg).

«Wichtig ist, dass bereits im Frühstadium die Anzeichen erkannt werden», erklärt Rütschi. «Unsere Mitarbeitenden sind speziell geschult, um Menschen in solchen Situationen unterstützend zu begleiten.» Rund ein Viertel aller freiwilligen Helfer am Telefon sind ausgebildete Psychologen. Sämtliche Helfer durchlaufen eine einjährige interne Ausbildung, um Menschen in schwierigen Lebenslagen helfen zu können. Die Dargebotene Hand behandle weiter auch Kunden mit alltäglichen Sorgen, unabhängig von Alter, kultureller oder konfessioneller Zugehörigkeit – 365 Tage, rund um die Uhr.

Zunahme der Gespräche im Sommer

In den ersten Monaten des Jahres – von Januar bis April – wenden sich pro Monat rund 800 Hilfesuchende an die Telefonnummer 143. Wenn es warm wird und der Sommer kommt, verzeichnet die Notrufnummer 143 zwischen fünf und zehn Prozent mehr Anrufe. So waren es im Juni schon knapp 1‘000 und im Juli läuft das Telefon weiter «heiss».

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