Ari (24) kämpft gegen Antisemitismus

«Ich will mich als Jude nicht verstecken müssen»

Viele Jüdinnen tragen aus Angst keinen Davidstern mehr. (Bild: Benny Rotlevy/Unsplash)

Nach brutalen Übergriffen meiden viele Juden sichtbare Symbole ihrer Religion. Ari aber will sich nicht verstecken und nicht schweigen – er setzt auf Begegnungen mit Menschen gegen den wachsenden Hass, auch in Zug.

März 2024, Zürich: Ein Jugendlicher wartet vor der Synagoge in der Zürcher Innenstadt. Sein Ziel: möglichst viele Juden umbringen. Die Tür ist verschlossen. Als ein 50-jähriger orthodoxer Jude die Synagoge verlässt, folgt er ihm. Auf offener Strasse sticht er ihn mit einem Messer nieder. Beim mutmasslichen Täter handelte es sich um einen 15-jährigen Schweizer mit tunesischem Hintergrund. Er sah sich als Soldat der Terrororganisation Islamischer Staat (IS). Recherchen von «SRF» zeigen, dass der 15-Jährige im ständigen Austausch mit IS-Anhängern war, die ihn dazu bringen wollten, eine Bombe zu bauen.

August 2024, Davos: Zwei Männer, beides Asylbewerber, prügeln auf einen 19-jährigen Juden ein. Sie schlagen ihm ins Gesicht, rufen «free Palestine» und beleidigen ihn antisemitisch.

Februar 2025, Luzern: Ein Schweizer beleidigt einen Mann, der erkennbar ein orthodoxer Jude ist. Dieser ist nach der Schule auf dem Weg in die Luzerner Synagoge. Der Schweizer schlägt mit seiner Faust ins Gesicht seines Gegenübers. Wenig später beschimpft er einen weiteren Juden und zeigt den Hitlergruss.

Judenfeindlichkeit nimmt in der Schweiz zu

Das sind nur drei antisemitische Vorfälle, die sich in den vergangenen Monaten in der Schweiz ereignet haben. Doch sie zeigen, dass Judenfeindlichkeit eine Realität ist – und sie nimmt zu. Laut dem Schweizerischen Israelitischen Gemeindebund (SIG) kam es im Jahr 2023 zu 155 gemeldeten Vorfällen in der realen Welt, hinzu kommen 975 antisemitische Vorfälle, die online passierten. Die Dunkelziffer dürfte um einiges höher sein.

Im Jahr davor waren es noch 57 Vorfälle in der realen Welt – es kam also innerhalb eines Jahres fast zu einer Verdreifachung. In 10 Fällen handelte es sich um Tätlichkeiten, in 47 Fällen um Beschimpfungen. Die meisten registrierten Vorfälle fanden nach dem Hamas-Terrorangriff auf Israel vom 7. Oktober 2023 statt.

Schock und Angst

«Diese antisemitischen Vorfälle sind mir enorm eingefahren», sagt Ari (24) zu zentralplus. Sie lösen in ihm Schock und Angst aus. Über seine Erfahrungen wird er auch öffentlich sprechen – am 22. März in der Bibliothek Zug an der Living Library (siehe Box).

«Manchmal lasse ich die Kippa auf meinem Kopf. Mir ist bewusst: Ich zeige damit allen, dass ich jüdisch bin – und so zur Zielscheibe werden könnte.»

Ari

Ari ist traditioneller Jude, man sieht es ihm nicht an. Im Alltag trägt er keine Kippa. Diese trägt er aber beim Beten in der Synagoge oder beim Sabbatessen. «Auf dem Weg zur Synagoge und zurück lasse ich die Kippa manchmal auf meinem Kopf. Mir ist aber bewusst: Ich zeige damit allen, dass ich jüdisch bin – und so zur Zielscheibe werden könnte.»

Mehr über Rassismus

Im Rahmen der Aktionswoche gegen Rassismus organisiert die Bibliothek Zug am 22. März, von 13.30 bis 16 Uhr, wieder die Living Library. Dabei können statt Bücher Menschen für Gespräche «ausgeliehen» werden. Sie erzählen ihre persönlichen Geschichten – darunter Ari, aber auch geflüchtete Menschen aus Sri Lanka, Eritrea und dem Iran.

Besorgniserregend ist für ihn insbesondere die Situation an Universitäten. Seit dem Angriff der Hamas haben viele jüdische Studierende begonnen, ihre Identität zu verbergen. «Viele Juden trauen sich nicht mehr, ihre Identität preiszugeben, tragen keine Kippas mehr und legen ihre Davidsterne ab», sagt Ari.

Das tut Ari gegen Antisemitismus

Trotz seiner Sorgen will Ari nicht schweigen. «Dass es in der Schweiz so weit kommen kann, besorgt mich enorm», sagt er. All die Vorfälle treiben ihn aber auch an, etwas gegen Antisemitismus zu tun.

Der 24-Jährige führt in Zürich Synagogenführungen durch und engagiert sich beim Likratprojekt des SIG. Im Rahmen dessen besuchen sogenannte Likratinos und Likratinas interessierte Schulklassen. Ihr Ziel: mit Dialog, Aufklärung und Information Vorurteile abbauen – durch persönliche Begegnungen mit Jüdinnen und Juden.

Ari erzählt von einer Klasse, die er mal besucht hat, in der ein Schüler ein Hakenkreuz in den Klassenchat geschickt hat oder jemand anderem den Hitlergruss beigebracht habe.

Als angehender Lehrer weiss Ari: Solche Vorfälle müssen ernst genommen werden. Als Vertretungslehrer sagte er der Klasse einmal, er habe einen jüdischen Gast eingeladen, und die Klasse solle sich Fragen überlegen. Was alles an Vorurteilen und Holocaust-Witzen zusammenkam, entsetzte ihn. Dann sagte er zur Klasse, er selbst sei der jüdische Gast. Vielen war es unangenehm, einigen aber egal.

Wenn der 24-Jährige dann aber von seiner Familiengeschichte erzählt und die Hintergründe von Hakenkreuz und Hitlergruss erklärt, dann hören die meisten aufmerksam zu und stellen interessierte Fragen.

Aris Ururgrossvater wurde von Nazis ermordet

Aris Familiengeschichte fährt ein: Seine Grossmutter wurde 1937 in Strassburg geboren. Ihre Eltern und Grosseltern waren alle jüdisch. Als der Krieg ausgebrochen ist, musste ihr Vater ins Militär einrücken. Die Familie wurde nach Marseille evakuiert. Als die Franzosen verloren, kam der Vater zurück zur Familie.

Der Grossvater von Aris Grossmutter – Samuel Dukatenzeiler – wollte sich 1943 auf den Weg zum Gebet machen. Seine Familie warnte ihn, dass dies zu gefährlich sei. Dukatenzeiler ging trotzdem. Nazis stürmten die Synagoge in Marseille, deportierten alle jüdischen Menschen. Aris Ururgrossvater wurde ins Gefängnis in Marseille gebracht, später ins Übergangslager Drancy nahe Paris deportiert. Später nach Auschwitz, wo er ermordet wurde.

Erinnern – gegen das Vergessen

Um Aris Ururgrossvater zu gedenken, wird im Mai ein Stolperstein in Strassburg gelegt. Eine kleine Gedenktafel im Boden, die an sein Schicksal erinnert. «Ich habe einmal gehört, dass Menschen zweimal sterben: das erste Mal bei ihrem Tod, das zweite Mal, wenn ihr Namen in Vergessenheit gerät», sagt Ari. Das soll nicht passieren. «Es ist wichtig, dass man ihn in Erinnerung behält», sagt Ari. Wie auch die anderen sechs Millionen Juden – Männer, Frauen und Kinder –, die von Nazis im Holocaust ermordet wurden. 

«In den sozialen Medien fallen viele Hemmungen, antisemitische Äusserungen verbreiten sich noch schneller.»

Ari

Seine Grossmutter und deren Eltern überlebten den Holocaust – doch sie mussten ihre jüdische Identität verstecken. Wenn Ari heute Schulklassen besucht, bringt er immer zwei Kopien mit: den echten Pass seiner Urgrossmutter und den gefälschten.

«Mein Vater liest jeweils am Pessachfest die Namen all unserer Verwandter vor, die ihr Leben lassen mussten, weil sie jüdisch waren. Es sind die Namen von über 100 Frauen, Kindern und Männern», sagt Ari.

Appell gegen das Wegsehen

Ari setzt auf Dialog und Aufklärung. Doch er fordert auch mehr gesellschaftliches Bewusstsein. «Es kann nicht sein, dass ich mich als Jude – und auch andere – in der Schweiz verstecken muss.»

Er würde sich wünschen, dass alle Geschichtslehrpersonen, wenn nicht sogar alle Lehrpersonen, einmal ein Konzentrationslager besuchen, um das Thema ihren Klassen näherzubringen. Auch sollten sie sensibilisiert sein, wenn antisemitische Äusserungen oder Vorfälle an Schulen passieren – und nicht wegschauen.

Gleichzeitig sieht er soziale Medien als Problem: «Dort fallen viele Hemmungen, antisemitische Äusserungen verbreiten sich noch schneller.» Er fordert strengere Regeln, damit sie nicht zu einem rechtsfreien Raum werden.

Am meisten setzt Ari aber auf direkte Begegnungen – wie sie an der Living Library in Zug stattfinden. «Wir sind zum Glück eine lebendige Religion mit vielen Traditionen.»

Ari ist angehender Sekundarlehrer. (Bild: zvg)
Verwendete Quellen
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