Zwei Zuger auf Lesbos, Teil 3

«Es ist beschämend, was hier abgeht»

Das unabhängige Camp «Better Days for Moria» befindet sich direkt neben dem offiziellen Flüchtlingscamp. (Bild: Andreas Lustenberger / Marco Knobel)

Vor gut einer Woche sind zwei Zuger nach Lesbos aufgebrochen, um irakischen und syrischen Flüchtlingen bei der Weiterreise zu helfen. In ihrem zweiten Erfahrungsbericht sprechen die beiden den örtlichen Behörden und dem UNHCR kein gutes Zeugnis aus – im Gegensatz zu den freiwilligen Helfern, ohne die das Ganze vollends im Chaos versinken würde.

Zwei Zuger auf Lesbos: Kurz vor deren Abflug hatten wir mit Andreas Lustenberger ein Interview geführt (zentral+ berichtete). Der grüne Kantonsrat hat sich am Samstag zusammen mit Marco Knobel auf den Weg zur griechischen Insel Lesbos gemacht. Wir haben die beiden gebeten, für zentral+ einen Erlebnisbericht zu verfassen. Im ersten Bericht beschrieben Lustenberger und Marco Knobel, wie der Flüchtlingsalltag auf Lesbos funktioniert, wie sie das «organisierte Chaos» erleben und wie sie als Freiwillige überhaupt zu Arbeit kommen.

In ihrem zweiten Erfahrungsbericht blicken die beiden zurück auf eine Woche voll berührender und prägender Momente im Flüchtlingscamp. Die offiziellen Stellen kommen dabei nicht sonderlich gut weg. Mit Erstaunen müssen Lustenberger und Knobel feststellen, dass «ihr» unabhängiges Camp sehr viel besser organisiert ist.

Gastbeitrag von Andreas Lustenberger und Marco Knobel

Freiwillige Helfer: Ohne sie geht gar nichts

«Nach gut einer Woche auf Lesbos verstehen wir langsam das Ausmass der Tragödien an der Schengener Aussengrenze. Täglich kommen mehrere Dutzend hoffnungslos überladene Schlauchboote an. Die mit etwas Schaumstoff gefüllten Schwimmwesten, die die Schlepper abgeben, sind bestenfalls Attrappen. Immer wieder hören wir von Familien, die Angehörige auf der Überfahrt verloren haben. Es sind Kinder, die aus den überfüllten Booten fallen oder Menschen, die völlig dehydriert oder unterkühlt am Strand ankommen.

«Am Strand befinden sich praktisch nur Freiwillige.»

Bei einem Nachteinsatz am Strand erlebten wir, wie ein Mann mit Herzstillstand vom Team freiwilliger Ärzte erfolgreich reanimiert wurde. Am Strand befinden sich praktisch nur Freiwillige, die griechische Küstenwache greift erst ein, wenn ein Boot am Sinken ist. Nach der Ankunft der Boote und der Erstversorgung durch Volontäre taucht dann auch das UNHCR auf, welches die Leute per Bus in die Camps fährt. «Immerhin» muss man fast sagen, denn noch vor einigen Monaten mussten die Leute einen ein- bis mehrtägigen Fussmarsch zurücklegen.

«Täglich kommen mehrere Dutzend hoffnungslos überladene Schlauchboote an.»

«Täglich kommen mehrere Dutzend hoffnungslos überladene Schlauchboote an.»

(Bild: Andreas Lustenberger / Marco Knobel)

Am Strand gibt es auch schöne Momente, so machen viele Menschen nach der Ankunft ein Familienfoto und senden es ihren Liebsten zu Hause oder in Europa. Meistens wollen sie dann gleich auch noch die Helferinnen und Helfer auf dem Foto haben.

Geschafft, jetzt weiter nach Athen …

… so lautet die Devise aller Leute hier. Doch nach der sicheren Strandlandung kommt das Warten auf die Registrierung im Flüchtlingscamp. Es ist beschämend, was hier abgeht. Die Flüchtenden müssen nächtelang bei Temperaturen um den Gefrierpunkt anstehen, die überforderte griechische Polizei wird oft ausfällig. Zu jeder Minute sind freiwillige Helfer vor Ort, welche die Situation zu beruhigen versuchen. Für die Registrierung gibt es zu wenig Personal, deshalb auch die grossen Verzögerungen von bis zu fünf Tagen. Gerade für die Familien mit Kindern, welche hier in grosser Anzahl anwesend sind, steht die Suche nach einer warmen Unterkunft und einer Mahlzeit im Mittelpunkt. Das gestaltet sich schwierig, denn eine Informationspolitik seitens der Behörden oder dem UNHCR ist nicht auszumachen. So sind es wieder die vielen Freiwilligen, welche selber mehrsprachige Infobroschüren gedruckt haben und die ganze Zeit unterwegs sind.

Generell ist erstaunlich, wie das unabhängige Camp sehr viel besser organisiert ist. Hier erhalten die Menschen warmen Tee, Essen und Medizin, und zwar rund um die Uhr. Das unabhängige Camp, welches von den Freiwilligen unter dem Namen «Better Days for Moria» geführt wird, befindet sich direkt neben dem offiziellen Camp. Für das genutzte Land bezahlt das Kollektiv tausend Euro Miete im Monat. Meistens sind wir am Morgen am Strand und dann ab dem späteren Nachmittag bis tief in die Nacht im Camp, wo wir Tee und Essen verteilen oder in der Familien-Container-Siedlung vom UNHCR arbeiten.

«Für die Registrierung gibt es zu wenig Personal.»

«Für die Registrierung gibt es zu wenig Personal.»

(Bild: Andreas Lustenberger / Marco Knobel)

Geführt werden diese sehr schmutzigen Unterkünfte weder vom UNHCR noch von der Organisation, die ursprünglich einmal das Mandat dafür erhalten hat, sondern von 10 bis 15 Freiwilligen. Wir weisen Familien in Zimmer ein, verteilen streng rationiertes Essen, bringen Kranke und Verletzte zum Arzt, ersetzen durchnässte Kleider (sofern Ersatzkleider zur Verfügung stehen) und verteilen Decken. Junge Männer werden nicht in den überfüllten Komplex hereingelassen. In eine Baracke stecken wir vierzig Leute, sie schlafen ohne Matratzen am Boden. Die Hälfte der Baracken haben weder Licht noch Heizung, in jeder dritten Baracke befindet sich eine Toilette, die mit den Nachbarn geteilt werden muss.

«Es kommt immer wieder das Gefühl hoch, dass das hier absichtlich geschieht, um abzuschrecken.»

Europa kann mehr

Ja, Europa kann mehr und muss mehr machen. Es wäre ein Leichtes, für alle Leute hier geheizte Festzelte aufzustellen und genügend Essen zu organisieren. Niemandem würde ein Zacken aus der Krone fallen. Es kommt immer wieder das Gefühl hoch, dass das hier absichtlich geschieht, um abzuschrecken. Dabei sollte jede und jeder einmal in den Spiegel schauen und sich fragen, ob wir denn wegen den Flüchtlingen wirklich zu kurz kommen und zum Beispiel auf das Fondue Chinoise verzichten mussten oder keine Geschenke unter dem Weihnachtsbaum gelegen haben.

Es fällt uns schwer, nicht ein reisserisches und plakatives, letztes Bild zu zeichnen. Aber das menschliche Elend im Camp Moria ist gewaltig. Es ist nicht aussergewöhnlich, wenn Familien seit 24 Stunden nichts gegessen haben. Es ist normal, wenn ein Kleinkind 39 Grad Fieber hat und niemand hilft. Schwangere, die draussen auf dem Boden schlafen, gehören zum Alltag. Hier ist es nicht einmal aussergewöhnlich, wenn Menschen sterben. Noch nie haben wir so viel Dankbarkeit erlebt für das Wenige, das wir tun können. Da sind Kinderaugen, die funkeln, und Familienväter, die uns weinend umarmen. Die Arbeit hier im Camp ist eine der berührendsten und prägendsten Erfahrungen, die wir jemals gemacht haben.»

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