«Der Sterbeprozess ist unberechenbar»

Elsi Meier ist für die Menschen da, wenn es zu Ende geht

Elsi Meier hat viel Erfahrung darin, Menschen auf ihrem letzten Weg zu begleiten. (Bild: Natalie Ehrenzweig)

Elsi Meier ist seit Kurzem die neue Präsidentin von Palliativ Luzern. Wir haben mit ihr über das Sterben gesprochen – und wie Corona unser Verhältnis dazu verändert hat.

zentralplus: Elsi Meier, das Thema Palliative Care scheint immer sichtbarer zu werden. Etwa mit dem Film «Palliative-Care-Paradies» von Fabian Biasio – oder mit der Eröffnung des Sterbehospizes in Littau. Täuscht der Eindruck?

Elsi Meier: Nein. Es wird auch von uns immer mehr aktiv informiert. Die Patienten sind heute selbstbestimmter und mündiger als früher. Sie sind besser informiert. Die palliative Versorgung ist wichtiger, weil die Hausärzte früher viel mehr aufgefangen haben. Sie waren rund um die Uhr erreichbar. Heute müssen sich die Patienten neu organisieren. Auch weil die Patienten ambulant vor stationär behandelt werden sollen, ist eine erreichbare Palliativmedizin heute wichtiger.

«Wir müssen alle allein gehen.»

zentralplus: Welche Rolle spielt denn das Sterben in unserer Gesellschaft?

Meier: Gesetzlich ist es im neuen Erwachsenenschutzgesetz so geregelt, dass Patienten einen gesetzlichen Vertreter benennen müssen, der als Ansprechperson fungiert in Situationen, in denen der Patient selbst nicht bestimmen kann. Umso wichtiger wird deshalb das Ausfüllen einer Patientenverfügung. Wir bieten entsprechende Beratungen an.

zentralplus: Hilft eine Patientenverfügung im Umgang mit dem Sterben?

Meier: Ja, sie unterstützt und vereinfacht die Planung und Organisation im Sinne der Betroffenen. Aber der Sterbeprozess bleibt sehr unberechenbar und trifft jeden unvorbereitet, ist also sehr individuell. Wir müssen alle allein gehen.

«Heute haben Sterbende eher Angst vor der Ungewissheit.»

zentralplus: War es früher anders?

Meier: Früher war der Glaube wichtiger, allerdings glaubte man auch oft an einen strafenden Gott. Viele Menschen hatten deshalb grosse Angst vor dem Sterben. Heute haben Sterbende eher Angst vor der Ungewissheit.

zentralplus: Kann man «gut» sterben?

Meier: Das ist eine Lebensaufgabe. Loslassen können ist sehr wichtig. Und reden. Wenn die Patienten aber den Angehörigen von ihrer unheilbaren Krankheit erzählen, müssen sie sie oft trösten. Mütter, die ihren Kindern sagen müssen, dass sie nicht mehr gesund werden, wachsen nicht selten über sich hinaus, um sie zu schützen.

zentralplus: Das hört sich schwierig an.

Meier: So eine Zeit ist nie nur traurig. Der Sterbeprozess kann länger dauern und die Betroffenen können wertvolle Erlebnisse zusammen geniessen. Hier kommt gute Lebensqualität zum Tragen. Das Erfüllen eines besonderen Wunsches kann wichtig sein. Ich habe Kinder erlebt, die unbedingt noch einmal an die Fasnacht gehen oder das Weihnachtsfest vorziehen wollten.

«Wenn die Patienten aber den Angehörigen von ihrer unheilbaren Krankheit erzählen, müssen sie sie oft trösten.»

zentralplus: Wo steht die Palliativpflege dabei?

Meier: Wir sollten nicht denken, dass wir wissen, wie so ein Prozess ist. Wir anerkennen, dass er individuell ist – auch für die Angehörigen. Unheilbar Kranke brauchen nicht nur medizinische Pflege, sondern manchmal psychologische Hilfe, einen Priester oder eine Freundin. Wir können aus Erfahrung abschätzen, welche Verläufe von Krankheiten typischerweise zu erwarten sind.

zentralplus: Hat sich das Thema Sterben im Corona-Jahr aus gesellschaftlicher Perspektive verändert?

Meier: Gerade für die Risikopatienten wurde die Patientenverfügung wichtiger. Wir empfehlen auch das Ausfüllen des Notfallplans zur palliativen Behandlung bei einer Corona-Lungenentzündung, den man auf unserer Webseite findet. Ich denke, dass den Menschen klar wurde, dass die Medizin eben nicht allmächtig ist. Für die Teams in den Spitälern ist es eine schwierige Zeit, wenn sie entscheiden müssen, dass Beatmen nicht mehr viel bringt.

zentralplus: Wie sehen Sie das Thema in Bezug auf die Betroffenen und Angehörigen?

Meier: Es wurde klar: Wir müssen die Menschen in guten Zeiten befähigen und medizinethische Fragen diskutieren. Das heisst, wir müssen mehr miteinander reden, auch mit den Laien. Aber wir müssen darauf achten, die Menschen nicht zu überfordern.

«Ich denke, dass den Menschen klar wurde, dass die Medizin eben nicht allmächtig ist.»

zentralplus: Wie meinen Sie das?

Meier: Vielen Menschen ist es wichtig, daheim sterben zu können. Doch da gilt es zu klären, ob die Angehörigen das überhaupt schaffen und wie wir sie dabei unterstützen können. Denn den Angehörigen fehlt oft die entsprechende Erfahrung und der professionelle Abstand.

zentralplus: Im Corona-Jahr hörte man von Menschen, die die Massnahmen zu streng fanden, manchmal «dann sterben sie halt, sie sind ja sowieso schon alt» über die Risikogruppe der älteren Bevölkerung. Wie reagieren Sie bei solchen Aussagen?

Meier: In der Beratung zur Patientenverfügung fragen wir die Person, was ihr heute das Leben bedeutet. Das hilft uns dabei, Ratschläge zum Ausfüllen der Verfügung zu geben. Jemand, der vor Lebenskraft strotzt, geht damit anders um als jemand, der müde ist. Ich habe eine Bekannte, die 94 Jahre alt ist. Sie sagt, dass sie sich lieber anstecken würde, als allein zu sein, denn sie bezieht ihre Lebensqualität auf Kontakte.

«Es ergaben sich durch die Corona-Krise viele gute Gespräche, auch über grundsätzliche Werte.»

zentralplus: Wie ist es Ihnen persönlich mit dem Thema in diesem merkwürdigen Jahr ergangen?

Meier: Beruflich galt es wie immer, den Menschen ins Zentrum zu stellen und eine gute Unterstützung trotz der geltenden Massnahmen zu gewährleisten. Es ergaben sich viele gute Gespräche, auch über grundsätzliche Werte. Da ich selbst schon jahrelang im Pflegebereich arbeite, bin ich offener gegenüber dem Thema Sterben. Aber ob ich letztlich ruhiger sterben werde als andere, weiss ich nicht. Die Begleitung von Sterbenden habe ich nie als extrem belastend empfunden, sondern durch viele sehr tiefe, wertvolle Gespräche auch als sehr bereichernde Aufgabe.

zentralplus: Und zum Schluss Ihr Fazit zum Corona-Jahr?

Meier: Es wurde deutlich, wie wichtig und tragend ein gut funktionierendes Gesundheitssystem ist! Der hohe und besondere Einsatz, den viele Pflegende, Ärzte und Seelsorger in dieser Zeit leisten, verdient Hochachtung und grossen Dank. Dazu gehören auch Wertschätzung und das Gewährleisten von guten Rahmenbedingungen. Das Beklatschen hat unterstützt, aber reicht nicht aus.

zentralplus: Was sind Ihre Projekte für die Zukunft?

Meier: Nach der Teilrevision des Gesundheitsgesetzes erwarten wir vom Kanton Luzern den Projektauftrag, einen spezialisierten mobilen Palliativ-Care-Dienst aufzubauen. Die Idee dahinter ist, Angehörige und Fachpersonen in komplexen Situationen zu beraten und zu unterstützen. Und zwar, damit möglichst viele Menschen bis zuletzt in ihrem vertrauten Umfeld leben und sterben können. Egal, wo im Kanton sie leben. Der erste Schritt ist, zu evaluieren, welches Dienstleistungsangebot schon vorhanden ist und was noch fehlt. Wie wir das umsetzen, ist noch offen.

Palliativ Luzern

Seit 2007 fungiert der Verein Palliativ Luzern als eine Plattform, die Fachstellen und Experten kantonal vernetzt, die sich mit Palliative Care befassen. «Es geht darum, sich nicht gegenseitig zu konkurrieren, sondern zusammenzuarbeiten», erklärt Elsi Meier. Hausärzten, der Spitex, Heimen und Spitälern soll der Zugriff auf Spezialwissen möglich sein. Die Informations- und Beratungsstelle Palliativ Luzern steht schwerkranken Menschen und ihren Angehörigen sowie Fachpersonen für Fragen und Anliegen rund um die Gestaltung der letzten Lebensphase offen. Das Ziel ist, allen Betroffenen eine möglichst gute und vernetzte Betreuung zu gewährleisten. Elsi Meier ist seit Mai 2020 die neue Präsidentin des Vereins.

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