Berufliche Selbständigkeit bei Pflegepersonal

«Direkte Kontrollen gegen Missbräuche gibt es nicht»

Wenn alte Menschen Pflege brauchen, kann es rasch sehr teuer werden. (Bild: Emanuel Ammon/AURA)

Die häusliche Betreuung pflegebedürftiger Menschen nimmt zu. Diese Aufgaben werden überwiegend von Spitex-Organisationen übernommen. Ein paar wenige Pflegefachkräfte haben die Zeichen der Zeit erkannt und arbeiten selbstständig. Im Kanton Luzern waren dies 2012 lediglich zehn Personen. Zwei Pflegefachfrauen, die diesen Schritt gewagt haben, sprechen über ihre Erfahrungen mit Patienten, Krankenkassen und den Tücken der Selbständigkeit.

Livia Zgraggen (33) hat den Sprung vor zwei Jahren gewagt. Dolores Soldati (28) ist gerade mittendrin – auf dem Weg in die Selbstständigkeit. Eigentlich nichts Besonderes, aber die beiden jungen Frauen sind Pflegefachkräfte. Und in diesem Beruf ist dies sehr wohl ein ungewöhnlicher Schritt.

Flexibilität und unterschiedliche Arbeitssituationen

Im Kanton Luzern gab es 2012 lediglich zehn aktive freiberufliche Pflegerinnen und Pfleger, die Patienten ambulant zuhause betreuten. Eine davon heisst Livia Zgraggen. Als Angestellte wurde es für die alleinerziehende Mutter immer schwieriger, die Fremdbetreuung ihrer Tochter zu organisieren. Zu unregelmässig waren die Arbeitszeiten: mal Frühdienst, mal Spätschicht oder Nachtwache. Die Selbstständigkeit entspannte ihre Situation, da sie künftig in eigener Regie ihre Einsätze planen konnte.

Seit zwei Jahren arbeitet die Pflegefachfrau HF (Höhere Fachschule) freiberuflich. Für sie war es die richtige Entscheidung. «In der Selbstständigkeit fand ich die Flexibilität, die mir eine optimale Balance zwischen Beruf und Muttersein gewährleistet», so Zgraggen. Sie betreut vier bis fünf Patienten, wobei ihre tägliche Arbeitszeit zwischen einer bis zehn Stunden variiert. «Bei einigen Patienten bin ich nur eine Viertelstunde, dafür mehrmals täglich. Andere betreue ich einmal die Woche über mehrere Stunden.» Wann und wie oft sie eine Person betreue, entscheidet Zgraggen gemeinsam mit dem Patienten. Dass sie aber als «eigene Chefin ihre Arbeitszeiten grösstenteils selbst bestimmen kann, erleichtert ihr das Leben sehr.»

Dolores Soldati befindet sich noch am Anfang. Seit Kurzem hat die Pflegefachfrau HF alle nötigen Zertifikate und Bewilligungen beisammen und darf selbstständig arbeiten. Voraussetzungen für die Lizenz sind der Nachweis von zwei Jahren Berufserfahrung, das Diplom einer höheren Fachschule oder Fachhochschule, eine Zahlstellenregisternummer sowie Zeugnisse und Empfehlungen von früheren Arbeitgebern.

Der Mensch und die Pflege im Vordergrund

Auf die Idee gebracht hat sie ihre Freundin Livia Zgraggen. Zunächst übernahm sie nur einzelne Ferienvertretungen von Zgraggen, erkannte aber schnell die Vorteile des freiberuflichen Arbeitens. «Wenn ich Patienten in ihren eigenen vier Wänden betreue, stehen der Mensch und die Pflege immer im Vordergrund. Ich möchte schliesslich so viel Zeit wie möglich am ‹Patientenbett› verbringen», sagt Soldati. Die Arbeit von Angestellten in Spitälern und Pflegezentren beziehe sich längst nicht mehr nur auf die Pflege. Administration und Dokumentation oder die Betreuung von weniger erfahrenen Kolleginnen und Kollegen sowie Lernenden gehören genauso zum heutigen Berufsbild. «Aufgaben, die sich nicht direkt auf die Patienten beziehen nehmen tendenziell zu», so Soldati.

Mittlerweile hat Soldati ihr Pensum bei ihrem Noch-Arbeitgeber, dem Schweizer Paraplegiker-Zentrum (SPZ) Nottwil, auf 60 Prozent zurückgeschraubt und pflegt bereits regelmässig ihre ersten «eigenen» Patienten. Ab Februar nächsten Jahres wird sie vollberufstätig als selbstständige Pflegefachfrau arbeiten.

9600 ambulante Patienten im Kanton Luzern

Freiberufliche Pflegefachpersonen gehören zu den Exoten der Branche. Aber die Zahl an ambulanten Patienten nimmt zu und somit auch die Nachfrage an spitalexternen Leistungen. Letztes Jahr wurden im Kanton Luzern rund zehn Prozent mehr Pflegestunden aufgewendet als noch 2011. Insgesamt wurden 2012 knapp 9600 Personen durch Spitex-Organisationen und selbstständige Pflegefachpersonen ambulant betreut. Mehr als zwei Drittel dieser Personen waren 65 Jahre alt oder älter. Gemäss «Lustat Statistik Luzern» wird der Löwenanteil der ambulanten Patienten (93 Prozent) im Kanton Luzern von 39 öffentlichen und gemeinnützigen Spitex-Institutionen übernommen. Den Rest teilen sich 14 private Organisationen und die zehn selbstständigen Pflegekräfte.

Der Anstieg an häuslicher Pflege, da sind sich die Experten einig, liegen einerseits in der demographischen Entwicklung – die Menschen werden immer älter – und andererseits in der neuen Spitalfinanzierung. Durch die Einführung der Fallkostenpauschale 2012 werden immer mehr Patienten von den Spitälern nach Hause geschickt, obwohl sie noch einer intensiven Pflege bedürfen. Die Fallkostenpauschale, auch diagnosebezogene Fallgruppen genannt, teilt Patienten aufgrund der ökonomischen Ähnlichkeit der Diagnose in Gruppen ein. Der Basisfallwert bildet die Grundlage für die Vergütung der Krankenhausleistungen. Wenn ein Patient die ihm zubemessene Kostenerstattung und die vorgesehene Liegedauer überschreitet, kann er nach Hause oder in eine andere Institution, zum Beispiel ein Pflegeheim, verlegt werden. 

117 Bewilligungen, aber nur zehn aktive Selbstständige

Obwohl im Kanton Luzern lediglich zehn selbstständige Pflegefachkräfte aktiv tätig sind, haben in den letzten fünf Jahren 117 Personen die Bewilligung dazu erhalten. Die hohe Diskrepanz erklärt sich Claudia Husmann, Leiterin des SBK Zentralschweiz folgendermassen: «Viele Pflegefachpersonen, besitzen zwar die Lizenz zur Selbstständigkeit, arbeiten aber nicht oder nicht mehr als Freiberufliche. Entweder sind sie ganz ausgestiegen oder sie sind trotzdem in Institutionen wie Spitälern und Pflegeheimen angestellt.» Und einige hätten schlicht vergessen, ihre Registrierungs-Nummer zu sistieren, so Husmann.

«Das Unternehmerische wird oft unterschätzt»

Die neue Spitalfinanzierung kommt den selbstständigen Pflegefachfrauen Zgraggen und Soldati entgegen. An Patienten mangele es ihnen jedenfalls nicht. Manchmal müssten sie sogar Pflegeanfragen ablehnen. «Wenn ich mir beim ersten Kontakt unsicher bin, ob ich die richtige Pflegefachperson für den Patienten bin oder ich schlicht keine Kapazität mehr habe, einen weiteren Patienten aufzunehmen, lehne ich ab», sagt Zgraggen. Schliesslich trage sie als Selbstständige viel Verantwortung, wesentlich mehr als im Angestelltenverhältnis.

Das bedeutet jedoch nicht, dass sich freiberufliche Pflegefachpersonen nur die «besten Rosinen herauspicken» würden. Im Gegenteil, wie Claudia Husmann, Leiterin der Sektion Zentralschweiz des Schweizer Berufsverbands der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner (SBK) betont: «Besonders die anspruchsvollen oder psychiatrischen Patienten benötigen oft eine Bezugsperson in der ambulanten Pflege. Diese Konstanz in der Betreuung kann nur eine freiberufliche Pflegefachkraft bieten. Sie nehmen Aufträge je nach Möglichkeiten ihrer zeitlichen Ressourcen an. Und sie leiten diejenigen Patienten weiter, bei denen sie wissen, dass eine Kollegin über eine grössere Fachexpertise zu einem bestimmten Krankheitsbild verfügt.»

Claudia Husmann sieht in der Selbstständigkeit durchaus Chancen, warnt jedoch auch vor den Tücken: «Die Entscheidung, als freiberufliche Pflegekraft zu arbeiten, sollte sehr gut durchdacht und vorbereitet werden. Insbesondere das Unternehmerische wird oft unterschätzt.» Damit spricht sie einen Punkt an, den auch Livia Zgraggen und Dolores Soldati sehr gut kennen. Die Zusammenarbeit mit den Krankenkassen erweise sich laut Zgraggen oft schwieriger als nötig. Zraggen: «Es kommt vor, dass die Versicherungen Zahlungen verweigern oder erst sehr spät tätigen. Als Selbstständige bin ich aber zwingend auf diese Gelder angewiesen, meine Existenz hängt davon ab.» Der Berufsverband der Pflegefachkräfte kennt dieses Problem ebenfalls, wie Husmann sagt: «Das Grundmisstrauen der Krankenkassen ist unbegründet. Sie machen sich und den Pflegekräften unnötige Arbeit.»

«Wer den Pflegeberuf wählt, weiss, dass man damit nicht reich werden kann»

Bei der Entscheidung selbstständig zu arbeiten, spielt der Verdienst nur eine untergeordnete Rolle. Zwar scheint der Brutto-Stundenlohn mit 90 bis 120 Franken bei Freiberuflichen auf den ersten Blick hoch. Berücksichtigt man jedoch die zahlreichen Abzüge, pendelt sich der Verdienst auf dem Niveau von Angestellten ein. Die Anfahrtskosten, die Pflege-Dokumentation, Ferientage, die Vorsorge, die üblichen Büroarbeiten, Weiterbildungen, die Berufshaftpflichtversicherung oder die Sozialleistungen bezahlen Selbstständige aus eigener Tasche.

Es reiche zum Leben, aber «grundsätzlich sind die Pflegeberufe immer noch unterbezahlt», sagt Livia Zgraggen. Gleichzeitig fügt sie an: «Mir geht es nicht in erster Linie ums Geld. Wer den Pflegeberuf wählt, weiss, dass man damit nicht reich werden kann.»

Gefahr von Missbräuchen ist bei Selbstständigen höher

Der Pflegeberuf sei ein edelmütiger, sozialer. Dennoch hört man immer wieder von Missbrauchfällen von Pflegepersonen an Patienten, oder umgekehrt. Tatsächlich bestehe in der ambulanten Pflege eine erhöhte Gefahr von Übergriffen, befinden sich Pflegende und Patienten doch oft alleine, unbeaufsichtigt in einer Wohnung. Die Kontrolle sei daher auch schwierig, sagt Claudia Husmann. «Über die mehrjährige Berufserfahrung und das Diplom der höheren Fachschule oder Fachhochschule kann eine sehr gute Qualität in der freiberuflichen Pflege vorausgesetzt werden.» Je besser eine Person ausgebildet sei und je mehr Erfahrung sie habe, desto besser könne sie mit heiklen Situationen umgehen, so Husmann. «Direkte Kontrollen gibt es nicht.»

Zgraggen und Soldati haben bisher noch keine Situationen erlebt, in denen es für sie heikel wurde. «Während der Arbeit denke ich nicht an solche möglichen Szenarien», sagt Soldati. «Ich konzentriere mich voll auf die Arbeit mit dem Menschen und erlebe immer wieder sehr schöne und berührende Momente.» Kontrolliert werden sie indirekt von den Hausärzten, die auch im ständigen Austausch mit den Patienten stehen würden.

Die hohe zeitliche Flexibilität, der Fokus an der Arbeit am Menschen oder die Möglichkeit, sich auf einige wenige Patienten zu konzentrieren, machen den Beruf der selbstständigen Pflegefachkraft durchaus attraktiv. Schliesslich gehe es primär um eines, da sind sich Livia Zgraggen und Dolores Soldati einig: «Der Mensch steht im Vordergrund. Als Selbstständige können wir das, was wir am besten und am liebsten tun, tagtäglich anwenden: Menschen in schwierigen Lebenssituationen begleiten und unterstützen.»

Pflegefachkräfte dürfen seit 15 Jahren selbstständig arbeiten

Seit dem 1. Januar 1998 können diplomierte Pflegefachkräfte ihre Dienstleistungen selbstständig anbieten. In einem Vertrag zwischen santésuisse und dem SBK (Schweizer Berufsverband der Pflegefachfrauen und Pflegefachmänner) wurde das neue Berufsbild definiert. Die gesetzlichen Grundlagen hierzu bilden die Verordnung über die Krankenversicherung KVV (Art. 49) und die Krankenpflege-Leistungsverordnung KLV (Art. 7 bis 9a). Mittels einer Zahlstellenregisternummer, die bei der santésuisse bentragt werden kann, können die ambulanten Leistungen direkt mit den Krankenversicherern abgerechnet werden. 

 

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