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Eine Strassenaktion in Sursee zum Thema «die andere Seite der Welt» im Jahr 2014.
(Bild: zVg)Mit der Arbeitsgruppe Solidar aus Sursee trifft sich diesen Freitag eines der Urgesteine aus der 68er-Zeit zum letzten Mal. Sie treten ohne eine geregelte Nachfolge ab. Doch ganz ohne Plan und ein letztes Aufbäumen verlassen sie die politische Bühne nicht.
Sie sind die fast schon fossilen Auswüchse der wilden 68er-Jahre: Die Arbeitsgruppe Solidar aus Sursee. Seit über 40 Jahren leistet die Gruppe in der Region Sursee Bewusstseins- und Informationsarbeit über die Zusammenhänge und Entwicklungen der sogenannten «Dritten Welt». Nun aber ist Schluss. Am Freitag löst sich die Arbeitsgruppe mit einem politischen Nachtgebet im Rahmen der Romerotage auf (siehe Box).
Aufbruchstimmung ist vorüber
«Die letzten Jahre waren wir nur noch zu viert. Wir fanden keine Nachfolger mehr, die bereit waren, das Engagement auf sich zu nehmen», erklärt Hanspeter Bisig den Entscheid. Nebst dem Alter und gesundheitlichen Problemen habe aber auch die Tatsache mitgespielt, dass ihre Themen gesellschaftlich nicht mehr so in der Mode seien, wie noch vor 40 Jahren.
Diese Aussage scheint paradox in einer Welt, in der eine Nachricht über eine Katastrophe die nächste jagt und deren Resultat zum Beispiel in überfüllten Flüchtlingsheimen direkt sichtbar wird. «Das stimmt schon. Aber die Aufbruchstimmung der 1970er-Jahre ist vorbei. Sie ist einer gewissen Nüchternheit gewichen», sagt Bisig und wirkt dabei etwas ratlos.
«Auch ich habe heute weniger das Gefühl, die Welt verändern zu können.»
Hanspeter Bisig, Arbeitsgruppe Solidar
Nicht, dass die Themen gar nicht mehr interessieren würden – beispielsweise habe die Arbeitsgruppe Flüchtlinge der Kirchen von Sursee in den letzten Jahren einen grossen Zuwachs erlebt. Aber die Überzeugung, dass man tatsächlich etwas verändern könne, die fehle weitgehend. «Auch ich habe heute weniger das Gefühl, die Welt verändern zu können», räumt Bisig ein. Er denke, man könne höchstens etwas beitragen. «Aber die Welt ist so komplex geworden, da sind grosse Veränderungen schwierig.»
Viel passiert und doch nichts
Wenn es einer wie Bisig sagt, der auch nach 40 Jahren anecken keineswegs müde ist, seine Vorstellung einer gerechteren Welt kundzutun, dann stimmt das nachdenklich. Hat sich denn tatsächlich nichts verändert? «Es ist viel passiert und doch nichts. Heute scheint es unmöglich, das Wort ‹Neger› laut auszusprechen.» Das sei damals, als die Arbeitsgruppe angefangen habe, noch Gang und Gäbe gewesen. «Oder Fair Trade ist heute in aller Munde. Vor über 40 Jahren waren wir aber fast die ersten, die fair gehandelte Bananen am Marktstand anboten.»
«Eine Ärztin aus Sursee hat einmal behauptet, die Schwarzen hätten weniger Hirnmasse.»
Bisig erzählt Anekdoten, die aus heutiger Sicht selbst ihn zum Staunen bringen. «Eine Ärztin aus Sursee hat einmal an einer Podiumsdiskussion behauptet, die Schwarzen hätten weniger Hirnmasse, das sei anthropologisch erwiesen.» Solche Szenen seien heute kaum denkbar.
Dennoch, sagt Bisig, habe sich grundsätzlich nichts verändert: Seit Jahren behandle man die Thematik Immigration und Integration. «Das ist auch dem Erfolg der SVP zu verdanken, die es mit ihrer Sündenbock-Politik schaffen, immer neue Einwanderergruppen in den Fokus zu rücken.» Da werde mit allen Mitteln auf eine Minderheit geschossen, ob die Fakten nun verdreht seien oder nicht. «Dieses Schwarz-Weiss-Denken, die Einteilung in Gut und Böse war bereits vor 40 Jahren in der Mode – einfach waren es da die Italiener und nicht die Muslime», resümiert Bisig.
Drohbriefe im stockkatholischen Sursee
Am Freitag, 24. März findet um 19.30 Uhr im Kloster Sursee das politische Nachtgebet der Arbeitsgruppe Solidar statt, das gleichzeitig Schlusspunkt von über 40 Jahren Engagement ist.
Die Veranstaltung ist Teil der Zentralschweizer «Romerotage», welche vom 24. bis 29. März 2017 stattfinden. Dieses Jahr widmen sich diese dem Thema «El Salvador – 25 Jahre nach dem Bürgerkrieg. Verstrickungen. Gewalt. Neuanfang.» Das detaillierte Programm finden Sie hier.
Einmal habe man zum Thema Dritte Welt und Konsum einen Vortrag im Pfarreiheim abhalten wollen. Da sei ihnen die Vermietung des Pfarreiheims verweigert worden. «Es hat auch Zeiten gegeben, da bin ich froh gewesen, dass ich trotz Selbstständigkeit nicht auf die lokalen Auftraggeber angewiesen war. So ‹einem linggen Cheib› gab man damals in Sursee keine Aufträge.»
Ein langer, zäher Kampf…
Wenn Bisig erzählt, wird offensichtlich, dass die Arbeitsgruppe Solidar neben der Durchführung von unzähligen und vielfältigen Veranstaltungen und Aktionen auch einen harnäckigen Kampf geführt hat. Gekämpft wurde in alle Himmelsrichtungen: Dass bei teuren Kirchenrenovationen ein Teil des Geldes in gemeinnützige Projekte fliesst, in der nationalen Politik für mehr Transparenz (bei der Bankeninitiative beispielsweise) und lokal dafür, dass die Leute informiert waren.
«Heute ist Sursee offener.»
So hat die Arbeitsgruppe Solidar in den vergangenen Jahren mit Suppentagen, Vorträgen, Podiumsdiskussionen, Jugendweekends und Kinoabenden die Bevölkerung von Sursee aufzuwecken versucht. Obwohl Geldsammeln nie das primäre Ziel war, hat die Arbeitsgruppe schnell gemerkt, dass sie via Sammlung mehr Informationen an die Menschen bringen konnte. Über die Jahre sind damit über 1,5 Millionen Franken zusammengekommen, die an verschiedene Projekte gespendet wurden. Zusätzlich wurden neue Horizonte aufgezeigt, für Probleme in der Weltpolitik sensibilisiert.
«Heute ist Sursee offener. Ein Stück weit ist das sicher auch der Arbeitsgruppe Solidar zu verdanken», sagt Bisig und fügt an, dass ihn das stolz mache. Hätte es keine Veränderung gegeben, so wäre die Arbeitsgruppe ja sinnlos gewesen. Anerkennung für die jahrelange ehrenamtliche Arbeit gab es in Form eines Kulturpreises der Stadt Sursee im Jahr 2009. Persönliche Befriedung durch neue Kontakte und Netzwerke.
…der nicht vorbei ist.
Die Anekdoten sprudeln nur so aus dem vitalen Rentner raus. Dass der lange Kampf ermüdet hat, merkt man ihm in diesem Moment nicht an. «Es wäre noch viel Arbeit zu tun. Es fällt deshalb nicht leicht aufzuhören», sagt Bisig.
Obwohl es heute eine ganze Reihe von Organisationen gibt, die in der Entwicklungshilfe oder der humanitären Hilfe arbeiten, werde die Arbeit der Solidar-Leute damit nicht gemacht, findet Bisig. «Wir arbeiten sehr lokal, suchen den direkten Kontakt mit den Leuten hier.» Daher hofft Bisig, dass sich in naher Zukunft wieder eine Gruppe finden werde, die eine ähnliche Arbeit wie die der Arbeitsgruppe Solidar leistet.
Der letzte Streich: Eine Überbrückungsgruppe
Die letzte Amtshandlung der Arbeitsgruppe wird ein politisches Nachtgebet am Freitagabend sein (Details siehe Box). Mit einer Überbrückungsgruppe hätten sie zudem sichergestellt, dass die öffentlich gesprochenen Gelder von Kirche und Stadt Sursee nicht «wie ein Blitz umgeleitet» würden und für die Finanzierung von Parkplätzen gebraucht würden, sagt Bisig mit einem Lächeln im Gesicht. So treten die Weltverbesserer ab, wie sie vor über 40 Jahren angetreten sind: Stolz und mit einer grossen Portion Gerechtigkeitssinn.
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