Die Strasse von Gibraltar zwischen Europa und Afrika ist eine der meist befahrenen Wasserstrassen der Erde. Ihr Name klingt nach Gefahr, nach grosser weiter Welt. Ganz so aufregend ist die Luzerner Gibraltarstrasse nicht. Hier geht es eher gemütlich zu und her. Schlendert man von der Kloster- bis zur Baselstrasse, kann man aber schon auf Exoten treffen. Sie leben und arbeiten hier. Für sie ist die Gibraltarstrasse etwas ganz Besonderes.
«Die Strasse zur Welt» nennt Werner Wili die Gibraltarstrasse, scherzhaft und liebevoll zugleich. Er kennt die Gibraltarstrasse wie kaum jemand, ist ein «Gibraltärler» mit Leib und Seele. Seit 27 Jahren betreibt er hier das Sportmonnaie, Outlet-Shop und Fundgrube. «Der Charme ist schon nicht mehr der gleiche wie früher», sagt er und spielt auf die Neubauten an, die so manch charakteristisches Haus verdrängt haben. «Aber die familiäre Atmosphäre ist immer noch da.» Sagts und grüsst den nächsten Passanten. Man kennt sich, weiss, wer wo und wie lange schon an der Gibraltarstrasse lebt und arbeitet. «Es ist eine kleine Oase für das Nischengewerbe. Wir sind nicht in der Weggisgasse: Die Mieten hier kann man noch zahlen.» Wahrscheinlich ist das ein Grund für die Dichte von Klein- und Kleinstbetrieben. Auf Laufkundschaft wartet hier niemand.
An der Gibraltarstrasse treffen sich Welten. Das Café Gibraltar heisst jetzt Ruan Thai. Ein prächtig renoviertes Backsteingebäude steht neben einem heruntergekommenen Sechzigerjahreblock. Und man kommt rasch mit den Leuten ins Gespräch.
Künstler, Sammler, Tüftler
Doch beginnen wir von vorne: bei der Nummer 1. Als erstes fällt einem die Ruhe auf. Autos fahren selten durch die Strasse, die Fussgänger nehmen es gemütlich. Sogar der Velofahrer, der uns entgegenkommt, schiebt sein Gefährt. «Die Ruhe wird selten gestört», sagt Simon Eugster. Er steht rauchend vor seinem Atelier für digitale Bildbearbeitung. «Es sei denn beim Seinet wird gerade ein Kühllaster gereinigt. Oder eine Gruppe asiatischer Touristen wird per Car vors Thai-Restaurant chauffiert.»
Eugster deutet auf die andere Strassenseite, wo kräftige Männer in blauen Übergwändli mit Schlauch und Schrubber vor dem Eingang des Comestible-Händlers Seinet hantieren. Es riecht nach Fisch und Putzmittel. Und es wird laut geflucht. «Die sind bald fertig, dann haben wir wieder Ruhe», sagt er und geht zurück an die Arbeit: ins charmante kleine Haus am Anfang der Seitengasse, die zur Gibraltarstrasse gehört.
Hier scheint die Zeit stehen geblieben zu sein. Die Häuser sind alt, verwinkelt, Grünzeug wuchert. Viele Ateliers, Werkstätten, Büros. Im Schaufenster eines kleinen Ladens sieht man Spielsachen, Geschirr, allerlei Tand. Ob hier jemals etwas verkauft wird? «Die Gegend hier ist schon aussergewöhnlich», sagt Simon Eugster, «ein guter Ort, um zu arbeiten. Mir passt es unter diesen schrägen Vögeln.»
Damit meint er die Künstler, Sammler, Tüftler und vielleicht auch die Randständigen, die hier ein und aus, auf und ab gehen. Ein älteres Ehepaar kommt auf uns zu. Es spricht Baseldeutsch, trägt Papiertaschen voller Kleider. «Die Notschlafstelle ist am anderen Ende der Strasse, nur 200 Meter von hier», gibt Eugster den älteren Leuten Auskunft. Das Paar trottet davon.
Ein paar Schritte weiter stehen wir vor der «Mini-Galerie»: geöffnet nur an Vernissagen und Finissagen. Die Wände sind voller Bilder: Werke aus eigener Sammlung und Bilder von Künstlern aus dem grossen Bekanntenkreis des Galeristen Tschuli Portmann. «An Eröffnungstagen stehen die Gäste hier bis weit vor die Tür hinaus», sagt der Galerist. Jetzt steht er alleine an der Eingangstür.
Häuser seit 30 Jahren nicht mehr gepflegt
Am Ende der Gasse: ein hellbrauner Neubau. «Bis vor vier Jahren standen dort drei Häuser, günstige Wohnungen», erzählt Tschuli Portmann. «Klar waren sie alt und ohne Komfort, aber die Bewohner schätzten die tiefen Mieten. Und die Häuser hatten Charme. Die Besitzer haben lange nach einem Partner für ein Neubauprojekt gesucht und diesen letztlich auch gefunden».
Wehmütig klingt Tschuli Portmann nicht deswegen. Neuer Nachbar ist die Stiftung Contenti. Sie bietet Büroarbeitsplätze und Wohnmöglichkeiten für körperlich- und mehrfachbehinderte Menschen. Contenti-Geschäftsleiter Bruno Ruegge kennt die Diskussionen um Altbauten und günstigen Wohnraum: «Die Häuser, die hier standen, wurden seit 30 Jahren nicht mehr gepflegt. Es war nur eine Frage der Zeit, wann sie abgerissen würden.»
Für die Stiftung war das die einmalige Chance, ein Grossprojekt mit Arbeitsplätzen und Wohnraum mitten in Luzern realisieren zu können. «Und mitten in der sogenannt normalen Gesellschaft», betont Bruno Ruegge. Auch für ihn ist die Gibraltarstrasse etwas Besonderes: «Hier gibt es viele Lebenskünstler und spezielle Typen. Da passen wir gut hinein. Die Strasse hat nicht nur einen exotischen Namen. Man trifft auch viele gesellschaftliche Exoten.» Nur einige davon sitzen in Elektro-Rollstühlen.
Grüssen wie auf dem Land
Von Weitem erkennen wir die gelb-schwarze Leuchttafel des Ladens Sportmonnaie. Werner Wili sitzt auf dem «Pausenbänkli». Er ist seit 1986 hier. Damals bestand sein Laden aus einem kleinen Raum, randvoll mit günstigen Sportartikeln. Längst hat er vergrössert, heute sind das Geschäft und sein Besitzer nicht mehr aus der Gibraltarstrasse wegzudenken.
Interviewen wir zur Abwechslung ein weibliches Wesen: «Wenn ich in Sursee jemandem sage, dass ich in der Gibraltarstrasse arbeite, ernte ich meist ein Schulterzucken. Rede ich vom Sportmonnaie, folgt das Aha-Erlebnis», erzählt Stephanie Waller. Die junge Grafikerin arbeitet vis-à-vis in der alten, stilvoll renovierten Molkerei in einer Werbeagentur. «Hier hat man gar nicht das Gefühl in der Stadt zu sein, so ruhig wie es ist. Dabei arbeite ich zwei Minuten von der Baselstrasse entfernt», sagt die gebürtige Surseerin. «Und wie auf dem Land grüsst man sich auf der Strasse.»
Das schätzt auch Werner Wili. Er geniesst seinen Espresso, blinzelt in die Sonne und begrüsst seine Kunden freundlich. Viele davon verlassen das Geschäft Minuten später mit einer gelben Plastiktüte.
Ungewisse Zukunft?
Werners Blick in die Zukunft fällt erstaunlich nüchtern aus. «Als kleiner Mieter habe ich keinen Einfluss auf die Entwicklung. Aber viele Immobilienbesitzer haben einen Bezug zum Quartier und verfolgen nicht nur wirtschaftliche Interessen.» Tatsächlich: Die etwas abseitige Lage scheint die Gibraltarstrasse davor zu bewahren, komplett den monetären Gesetzen der Immobilienbranche geopfert zu werden. Simon Eugster aus der Gibraltarstrasse 4 ist skeptischer. «Man sieht ab und zu Geschäftsleute mit Notizblock und Kamera ums Haus gehen. Da stellt man sich schon Fragen», sagt er. Aber die Gelassenheit, welche die Gibraltarstrasse ausstrahlt, färbt auf die Mieter ab: «Solange ich nichts anderes höre, geniesse ich es, hier zu arbeiten.»