Gesellschaft
#TextMeWhenYouGetHome

Die permanente Angst, als Frau nachts nach Hause zu gehen – Erlebnisse aus Luzern

Auf Social Media berichten derzeit Frauen unter dem Hashtag #TextMeWhenYouGetHome, dass sie sich im Alltag auf den Strassen unwohl fühlen. (Symbolbild: Unsplash/Geronimo Giqueaux)

Eine Britin hat sich Anfang März auf den Weg nach Hause gemacht, wo sie nie ankam. Eine Woche später fand man ihre Leiche. Unter dem Hashtag #TextMeWhenYouGetHome berichten derzeit unzählige Frauen, dass sie sich auf den Strassen nicht sicher zu fühlen. Eine Unsicherheit, die auch Frauen in Luzern haben.

Sie wollte einfach nur nach Hause gehen. Am 3. März 2021 verliess die 33-jährige Britin Sarah Everard gegen 21 Uhr abends das Haus ihrer Kollegin. Sie wollte nach Hause – kam aber nie an. Eine Woche später fand man ihre Leiche in einem Waldstück.

Nach ihrem Tod ging der Hashtag #TextMeWhenYouGetHome viral. Lucy Mountain, eine Influencerin, schreibt in einem Instagram-Post: «Ich konnte nicht aufhören, an Sarah Everard zu denken und daran, dass eine Frau nicht nach Hause gehen durfte. Es ist unerträglich.» Sie habe in diesen Wochen ein tiefes Gefühl der Verbundenheit zwischen ihr und anderen Frauen gespürt. «Das tiefe Gefühl der Verbundenheit ist ein Gefühl der Angst.»

Jede Frau kennt das ungute Gefühl

Fast jede Frau kennt es: Sich nicht sicher zu fühlen. Nachts mehrmals einen Blick über die Schulter zu werfen. Dunkle Gassen zu meiden, Strassenseiten zu meiden. Den Schlüssel verkrampft zwischen Zeige- und Mittelfinger zu halten. Wenn man nachts von einem Mann angesprochen wird, den Blick zu senken und das Weite zu suchen.

Oder die Worte, wenn man sich beim Mädelsabend voneinander verabschiedet: «Schreib mir, wenn du zu Hause bist.» Nachrichten, die ich in meinem WhatsApp-Chats en masse finde.

Aus den Chatverläufen.

Früher – ich spreche von meinem 18-jährigen Ich – verliess ich einen Nachtclub und lief alleine zum Bahnhof. Ohne permanent über meine Schultern zu blicken. Ohne Angst zu haben.

Der Typ, der mir auflauerte

Doch dieses eine Erlebnis hat sich in mein Gehirn eingebrannt. Es war eine Nacht im Herbst, vielleicht 2 Uhr morgens. Ich lief mit einer Kollegin über die Seebrücke, die damals menschenleer war. Ich hatte das Gefühl, dass uns jemand verfolgt. Schaute mich um. Lief schneller und schneller.

Als ich einen Blick über die Schulter warf – wir waren etwa in der Mitte der Seebrücke – erkannte ich einen Mann, der Anfang der Brücke über den Fussgängerstreifen ging. Als ich mich Sekunden später wieder umblickte, war er bereits viel näher gekommen.

Wie dumm waren wir, bei der Klubschule in eine Seitengasse zu gehen. Denn der Mann lief erst vorne an der Strasse vorbei und blickte dann in die Seitenstrasse, in der wir waren. Unsere Blicke trafen sich. Er machte kehrt, lief auf uns zu. Es war nicht das erste Mal, dass ich ihn sah.

Bereits Stunden zuvor kam er mit einer Gruppe Männer auf mich und meine Kollegin zu. Wir sassen auf einem Steg beim KKL. Er schaute mich so penetrant an, dass ich mich unwohl fühlte, meine Sachen packte und ging. Als wir ein, zwei Stunden später das «Roadhouse» verliessen, meinte ich, denselben Typen vis-à-vis der Strasse erkannt zu haben. Ich hatte nicht unrecht.

Der Mann kam näher, drängte mich gegen die Wand. Flüsterte «Baby, Baby» in mein Ohr. Betatschte meinen Körper mit seinen Händen.

Es sind zu viele Geschichten

Es ist zum Glück nicht mehr passiert. Ich zitterte und schrie, meine Kollegin schimpfte, zerrte an dem Typen. Bis er dann von mir liess und das Weite suchte.

Aber es hat mich geprägt. Seither ist es anders mit dem Nach-Hause-Gehen. Lange Zeit ging ich nirgends mehr hin ohne meinen Pfefferspray. Ich machte mir immer Gedanken darüber, wie, wann und wo ich am sichersten nach Hause gehe. Meistens eile ich nachts mit dem Schlüssel in meinen Fingern nach Hause, blicke mich permanent um, schaue in die Seitenstrassen. Wie eine Irre. Wenn ich die Tür unten zu meiner Wohnung dann öffne, warte ich nicht, bis sie von alleine wieder ins Schloss fällt. Ich drücke sie zu.

Es ist nicht nur mein Erlebnis – es sind die Erfahrungen so vieler Frauen, die man hört, liest, mitbekommt. Ich habe Geschichten von Frauen aus meinem Freundes- und Bekanntenkreis gehört. Geschichten mit K.-o.-Tropfen. Von Kolleginnen, die irgendwo an einer Bushaltestelle aufgewacht sind, ohne zu wissen, was zuvor passiert ist. Geschichten, in denen eine Frau nachts von einem Typen an eine Wand gedrängt wurde. Geschichten, in denen Männer nach dem Ausgang Frauen hinterherrannten. Rannten! Bis sie in den Zug gestiegen sind.

Frauen darf nicht die Mitschuld gegeben werden

Noch wütender machten mich damals die Worte eines Kollegen. «Du bist ja auch blöd, wenn du als Frau nachts alleine rumläufst.»

Das ist Teil des Problems: Frauen eine Mitschuld zu geben, wenn Männer aufdringlich, belästigend oder kriminell sind. Frauen zu sagen, dass sie nicht alleine in der Nacht unterwegs sein sollten. Nicht trinken sollten, da man sonst «ein leichteres Opfer sei», wie es auch die Kantonspolizei St. Gallen in einem alten Kapo-Ratgeber formulierte.

Knapp bekleidet sollte eine Frau das Haus nicht verlassen. Das sagte mal ein älterer Herr zu mir: Eine Frau, die im Minirock nach draussen geht, müsse sich ja nicht wundern, wenn sie dann vergewaltigt werde.

Mittlerweile mache ich mir Gedanken, ob es gut ist, ein Taxi zu nehmen. Oder ob das gar noch gefährlicher ist. «Hab keine Angst», schrieb mir eine Kollegin erst vor ein paar Wochen, als ich abends ihre Wohnung verliess und in ein bestelltes Taxi stieg.

Warum? Frauen können sich nicht mal in einem Taxi, das uns sicher nach Hause bringen sollte, sicher fühlen. Am 27. März 2016 setzte sich eine 18-jährige Australierin in ein Taxi in Luzern. Sie wurde vergewaltigt. Der Taxifahrer – ein Familienvater – hat mehrere junge Frauen sexuell genötigt (zentralplus berichtete).

Für viele Frauen ist es normal. Diese Nachrichten, die Blicke über die Schulter, die Faust in der Jackentasche, den Pfefferspray in der Hand. Es sind «buchstäblich nur eingeprägte Verhaltensweisen und Handlungen, die wir uns aneignen mussten, seit wir kleine Mädchen waren», meinte auch Influencerin Lucy Mountain. Doch es sollte eben nicht normal sein.

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